LacourSchuster20010123
Nr. 10306 ZRG 119 (2002) 38
Schuster,
Peter, Eine Stadt vor Gericht.
Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz. Schöningh, Paderborn 2000.
354 S.
Mit
dieser Bielfelder Habilitationsschrift liegt eine weitere Studie zu einem
Forschungsfeld vor, das seit Mitte der 1980er Jahre in Deutschland einen
rasanten Aufschwung erfahren hat. Im neuen „Oldenbourg Geschichte Lehrbuch:
Frühe Neuzeit“ wird die sozialgeschichtlich orientierte Kriminalitätsgeschichte
als einer von vier „Neuere(n) Untersuchungsschwerpunkte(n)“ gehandelt (S.
352ff.). Seltsam genug: Die Forschungsbegeisterung wird nicht von den
methodischen Problemen und theoretischen Schwachpunkten getrübt, deren
Überwindung sich derzeit noch nicht einmal andeutet. So wundert nicht, dass
Modernisierungs- und Zivilisationstheorien immer wieder diskutiert werden,
obwohl so gut wie alle deutschen Forscher inzwischen deren Annahmen ablehnen.
Aber Alternativen sind nicht in Sicht.
Somit
ist kaum verwunderlich, dass die Arbeit von Peter Schuster in nur
wenigen Punkten einen Fortschritt gegenüber Pionierarbeiten der
deutschsprachigen Forschung wie dem 1991 von Gerd Schwerhoff vorgelegten
„Köln im Kreuzverhör“ darstellt.
Schuster untersucht also Rechtsnormen und Rechtspraxis
sowie Instanzen und Formen der Konfliktregulierung; innovativ sind immerhin
Fragen nach den „sozialen Folgen von Delinquenz“ (S. 20) in Konstanz zwischen
1430 bis 1460. Als Quellen zieht er neben Ratsbüchern, Strafbüchern und
Secklerrechnungen auch Steuerbücher und Ämterlisten heran.
Die
Kriminalstatistik zeigt nur die Zahl der Täter, nicht aber die der Delikte oder
den Anteil an Einzel- und Gruppentaten. In Tateinheit begangene Delikte, als
Beispiel nennt der Verfasser „mit worten mißhandelt und geschlagen“, werden als
zwei Taten gezählt - ein reichlich eigenwilliges Vorgehen. So kommen auf 1653
Täter 1725 Fälle, wobei Fälle nicht Taten sind, weil eine Messerstecherei unter
zwei Beteiligten als zwei Fälle in die Statistik eingeht. Die bewaffnete
Drohung („Messerzücken“) wird zu den Gewaltdelikten gezählt, die unbewaffnete
nicht. Andere Forscher subsumieren auch Beleidigungen unter diese Kategorie.
Zur besseren Vergleichbarkeit verschiedener Studien bleibt zu wünschen, dass
sich die Disziplin endlich auf eine einheitliche Form der Kriminalstatistik
einigt. Im Dienste der epochenübergreifenden Vergleichbarkeit könnte man sich
die heutigen Maßstäbe des Polizeilichen Kriminalstatistik zu eigen machen, doch
dies wird von Historikern als für Mittelalter und frühe Neuzeit unangemessen
abgelehnt. Schuster ermittelt 33,7% Gewaltdelikte, ohne die bewaffnete Drohung
sind es 15,8%. Den übrigen drei Gruppen - Wortdelikte, Taten gegen die
politische und sittliche Ordnung sowie Eigentums-, Vermögens- und
Wirtschaftskriminalität - kommt jeweils ein Anteil von rund 20% zu. Damit
stellen die Gewaltdelikte zwar eine bedeutende Kategorie dar, Schuster weist
aber darauf hin, dass die Furcht, Opfer einer Gewalttat zu werden, unter den
Bedrohungen des Alltags nur einen untergeordneten Stellenwert einnahm. Denn
diese Angriffe zielten normalerweise nicht auf eine bleibende körperliche
Schädigung oder gar den Tod des Gegners. Unter den Delinquenten sind
Ratsmitglieder, Wächter und Ratsknechte überrepräsentiert. Die ärmsten Bürger
sind dagegen etwas weniger stark vertreten, als es ihrem Bevölkerungsanteil von
55% entspräche. Der Autor spricht von einem seit der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts „sich verallgemeinerndem und von der Klägerrache emanzipierenden
öffentlichen Strafrecht“ (S. 151). Dies zeigt sich in Konstanz daran, dass
Gewaltdelikte vom Untergericht verfolgt wurden, obwohl in weniger als 2% der
Fälle ein privater Kläger Anzeige erstattete. Beleidigungen wurden zu rund
einem Drittel von einem Privatkläger vor Gericht gebracht, üble Nachrede sogar
zu mehr als der Hälfte. Der Konstanzer Rat war aber der Auffassung, die
Bestrafung von Gewalt sei im Dienste des „fride und einigkeit undter den
lewten“ nötig und damit „soliche schedliche aufrur dester bass verhutet und
vermiden bliben mogen“ (S. 149).
Im
Gegensatz zu anderen Kriminalitätshistorikern hält Schuster die Ehre
nicht für einen der hauptsächlichen und fast zwangsläufig Gewalt auslösenden
Faktoren: „Auch Männer konnten Herausforderungen durchaus zurückweisen oder
Beleidigungen auf dem Weg der Klage ahnden lassen. (...) Gewalteinsatz zur
Bewahrung der eigenen Ehre (...) war im Spätmittelalter (...) eine Option.
(...) Die Menschen der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft waren demnach
nicht durchgängig Gefangene eines gewaltfördernden Ehrkonzepts.“ (S. 103) Auch
für das Ratsgericht rangierte der Friedbruch über der Ehre. In der Strafpraxis
zeigt sich, dass zunächst über alle Beteiligten eine Buße verhängt wurde.
Konnte einer nachweisen, dass sein Gegner Urheber des Konflikts war, so musste
jener beide Bußen übernehmen.
Bußen
wurden entsprechend den normativen Regelungen ausgesprochen. Tatsächlich
bezahlten 77% der Verurteilten - teilweise zwar in vielen Raten, manchmal
jahrelang - ihre Geldbußen vollständig ab. Vor allem eine Stadtverweisung
traten allerdings die wenigsten Delinquenten an. Die meisten erreichten eine
Umwandlung in Geldstrafen oder Arbeitsstrafen. Die Strafpraxis war also äußerst
flexibel. Die Stadtverweisung war damit von geringerer Bedeutung, als die
Normen vermuten lassen. Nicht ein fiskalisches Interesse stand hinter solcher
Umwandlung - die Einnahmen aus Bußen machten zwischen 0,6% und 3,6% des
städtischen Haushalts aus -, sondern Möglichkeiten und Interessen der
Delinquenten. Auch für die schweren Verweisungsstrafen gilt, dass mindestens
die Hälfte der Bürger zurückkehrte, also nicht dauerhaft aus der Gesellschaft
ausgeschlossen wurde. „Das Bild einer harten mittelalterlichen Strafjustiz, die
Legionen Entwurzelter produzierte, läßt sich mit diesem Ergebnis nur schwer vereinbaren.“
(S. 262) Schuster vermutet, dass nicht die Sanktion ausgrenzte, sondern in
einigen Fällen die sanktionierte Tat selbst; allerdings mit einer Ausnahme: der
Todesstrafe. Auch Begnadigte mussten die Stadt auf ewig verlassen.
Die
relativ milden Bußen für Totschläger stießen in kirchlichen Kreisen auf Kritik.
Bei der Einschätzung der Gefährlichkeit von Eigentumsdelikten deckten sich
kirchliche und weltliche Vorstellungen in höherem Maße. Die Heimlichkeit eines
Diebstahls scheint allgemein als weit bedrohlicher empfunden worden zu sein als
die Offenheit einer Gewalttat im Zorn. 49 von 101 gefassten Dieben wurden in
Konstanz im Untersuchungszeitraum hingerichtet, in der Mehrzahl Fremde. Der
Rest wurde zumeist langjährig oder für immer der Stadt verwiesen.
Die
Untersuchung der Praxis der Gnadenerweise zeigt, dass etwa 5% der Delinquenten
in den Genuss einer Strafmilderung kamen, die Hälfte von ihnen aufgrund
wirksamer Fürbitter. Gnade diente der Herrscherdarstellung und Machtsicherung,
auch außenpolitischen Bedürfnissen, wenn man etwa der Gnadenbitte einer
benachbarten Stadt nachkam, und schließlich der Friedenswahrung. „Nicht
Gerechtigkeit im Einzelfall (...) prägte den Rechtsalltag, sondern die
Funktionalisierung des Rechts für die Interessen der Stadt.“ (S. 311) Der
Verfasser kommt zu dem Fazit, dass Bußen und Strafen weniger dazu dienten, eine
Bedrohung oder Gefährdung der Allgemeinheit abzuwenden, sondern dass sich die
städtische Gesellschaft „fortlaufend ihrer Machtordnung und ihres kommunalen
Wertesystems zu vergewissern“ (S. 318) suchte.
Anschau Eva
Lacour