LacourNewmethods20001223 Nr. 10297 ZRG 119
(2002) 02
New Methods for
Social History, hg. v.
Der
Sammelband schließt eine schmerzlich klaffende Lücke. Er weist überzeugend
nach, dass die Anwendung verschiedener, aus den Sozialwissenschaften stammender
Methoden die historischen Wissenschaften voranbrächte.
Die Herausgeber haben sich das Ziel gesetzt, „Historiker in eine Reihe für die
historische Forschung wirklich nützlicher — und doch zu wenig oder gar
unberücksichtigter — (...) sozialwissenschaftlicher Methoden einzuführen“ (S.
3). Doch als Einführung taugt der Band leider nur sehr eingeschränkt. Er setzt
mehr als oberflächliche Kenntnis herkömmlicher statistischer Verfahren voraus.[1]
Sowohl die Herausgeber als auch die Beiträger sind fast alle an
nordamerikanischen sozialwissenschaftlichen Instituten tätig und scheinen sich
nicht darüber im Klaren zu sein, wie groß das Defizit unter Historikern immer
noch ist, obwohl zunehmend mit Zahlen hantiert wird.
Positiv
fällt auf, dass die vorgestellten Verfahren anhand von Beispielen aus der
sozialhistorischen Forschung erläutert werden. Die Autoren kennen die methodischen
Probleme aus eigener Arbeit, die manche statistischen Verfahren bei ihrer
Anwendung in der Geschichtswissenschaft mit sich bringen, scheuen sich nicht
vor bissiger (und sehr berechtigter) Kritik an der eigenen Zunft und schlagen
Lösungswege vor. Dies betrifft z. B. die Zeitreihenanalyse, eine ungeeignete
Methode, wenn es darum geht, sich im Zeitverlauf ändernde Beziehungen zwischen
unabhängigen und abhängigen Variablen zu erfassen. Larry Isaac, Larry
Christiansen, Jamie Miller und Tim Nickel stellen das Verfahren der
„Temporally Recursive Regression“ vor, das darauf beruht, anstelle eines
Regressionskoeffizienten pro unabhängiger Variable mehrere Koeffizienten für
jeweils verschiedene vorwärts oder rückwärts sowie diagonal verschobene
Zeitrahmen zu berechnen. Das Verstehen des Beitrages setzt jedoch zumindest
ungefähre Kenntnis der multiplen Regressionsanalyse voraus.
Holly
McCammon ist der Balanceakt,
nicht nur Banales, sondern Neues zu vermitteln, dies aber gleichzeitig auf
möglichst verständliche Art und Weise, etwas besser gelungen. Der Aufsatz über
die „Event History Analysis“ verlangt wenig Vorwissen, obwohl eine Vorstellung
davon, was eine logistische Regression ist, das Verständnis erleichtert. Hier
geht es darum, die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis zu einem bestimmten
historischen Zeitpunkt eintritt, mit verschiedenen Einflussgrößen (als
unabhängigen Variablen) in Beziehung zu setzen.
Eine
dritte innovative Möglichkeit der Anwendung des regressionsanalytischen
Verfahrens stellen Glenn Deane, E. M. Beck und Stewart Tolnay
vor. Das Modell der räumlichen Effekte („Spatial-Effects Model“) ermöglicht die
exakte Untersuchung der räumlichen Ausbreitung eines Phänomens, vor allem
lässt sich der Einfluss von Ansteckung oder Abschreckung durch ein Ereignis in
einer benachbarten oder entfernteren Region im Verhältnis unabhängig von
anderen Variablen genau quantifizieren.
Die
vier folgenden Beiträge liegen dem an interpretierende Verfahren gewohnten
Historiker sicherlich näher. Roberto Franzosi stellt seine linguistische
Inhaltsanalyse vor, die besonders geeignet ist, um Texte zu erschließen, die
Handlungen von Akteuren schildern. Nach dem Modell „Subjekt, Handlung, Objekt“
werden die Texte kodiert, wobei die verschiedenen Personen und ihre Handlungen
zu übersichtlichen Kategorien zusammengefasst werden. Dadurch lässt sich auch
bei größeren Textmengen klar ermitteln, wer sich wem oder was gegenüber wie
verhält. Das Ergebnis kann man leicht grafisch darstellen. Wünschenswert wäre
nun die Weiterentwicklung des Verfahrens in quantitativer Hinsicht etwa mittels
des Modells der bedingten Wahrscheinlichkeit.
Charles
Ragin stellt eine auf
Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik beruhende
qualitativ-komparatistische Methode („Qualitative Comparative Analysis“) vor,
die der Untersuchung dient, ob die Kombination bestimmter Faktoren (Variablen)
bestimmte Wirkungen (Effekte) erbringt. Der gut nachvollziehbare Ansatz wäre
noch einfacher verständlich, hätte der Autor den exakten Test zur Berechnung
des Signifikanzniveaus, der bei kleinen Stichproben angewandt werden muss (S.
116), beim Namen genannt: Gemeint ist hier der Binomialtest.
Charles
Wetherell präsentiert ein
Verfahren zur Analyse sozialer Netzwerke („Historical Social Network
Analysis“), das eine äußerst ergiebige Erweiterung historisch-demographischer
Forschung werden könnte. Seine Untersuchungen im Baltikum des 19. Jahrhunderts
fördern spannende Ergebnisse zutage: etwa dass die Chance, lebende Geschwister
zu haben nie höher als war 70% und bereits ab dem 43. Lebensjahr stark
abzufallen begann, während die Wahrscheinlichkeit, einen Ehegatten zu besitzen
noch bis zum 50. Lebensjahr bei 80% lag und erst danach abnahm. 40% der
Menschen besaßen entferntere Verwandte, rund 20% der Haushaltsvorstände und unter
5% der Knechte und Mägde lebten mit solchen Personen zusammen. 80% der jungen
Frauen bis zum Alter von 30 Jahren wohnten aber mit gleichaltrigen Frauen im
selben Haushalt, so dass die Gelegenheit gut war, Freundschaften zu schließen;
dies galt jedoch nur für knapp 60% der jungen Männer. Jenseits des 55.
Lebensjahres fiel die Wahrscheinlichkeit, mit Menschen gleichen Alters und
Geschlechts zusammenzuleben schnell ab, für Frauen stärker als für Männer.
Insgesamt kommt der Verfasser zu dem Schluss, die Historische Netzwerkanalyse
widerlege die verbreitete Auffassung von der überragenden Bedeutung eines
großen Netzes von Verwandtschaftsbeziehungen in traditionellen ländlichen
Gesellschaften.
Larry
Griffin und Robert Korstad
beschließen den Band mit einem Beitrag über die „Event-Structure Analysis“.
Auch dieses Verfahren konzentriert sich auf Akteure und Handlungen und zwingt
den Forscher, bei der Interpretation „die präzise Entwicklung eines
Ereignisses“ (S. 146) zu rekonstruieren und genau über verursachende Faktoren
nachzudenken. Ziel ist die Erstellung eines Diagramms, das die einzelnen
Handlungen und Ereignisse verbindet und kausale Aussagen macht. Problematisch
ist allerdings, dass die vom Computerprogramm ETHNO gestützte Erstellung des
Diagramms eine Objektivität vortäuscht, die gar nicht vorhanden ist. Denn das
Ergebnis wird allein vom Wissen und der Erfahrung, aber auch den subjektiven
Ansichten des Forschers bestimmt. Die Einschätzung, ob eine bestimmte Handlung
kausal für ein historisches Ereignis oder eine andere Aktion verantwortlich war
oder nicht, muss zwar ausführlich begründet werden; doch wäre es nicht das
erste Mal, dass eine Schule eine solche Kette von Kausalbeziehungen ganz anders
konstruiert als eine andere.
Anschau Eva
Lacour
[1] Aus Sicht der Rezensentin als Einstieg geeignet ist das hinsichtlich mathematischer Vorkenntnisse auf Abiturniveau ansetzende Buch: Josef Bleymüller, Günther Gehlert, Herbert Gülicher, Statistik für Wirtschaftswissenschaftler, München 1998. Tiefere und weiter gehende Einsichten vermittelt: Peter Bohley, Statistik. Einführendes Lehrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, München 1996.