LacourLügen20010903 Nr. 10274 ZRG 119 (2002) 00

 

 

Lügen und Betrügen. Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne, hg. v. Hochadel, Oliver/Koche, Ursula. Böhlau, Köln 2000. VI, 311 S.

 

18 jüngere Autoren beleuchten in diesem interdisziplinären Sammelband das Thema „Lüge“ aus den unterschiedlichsten Richtungen.

Den Anfang machen zwei philosophische Beiträge von Miriam Ossa und Cornelius Grupen. Als konstitutiv für die Lüge stellt sich nicht die Unwahrheit einer Aussage, sondern die fehlende Wahrhaftigkeit des Aussagenden heraus.

In den literaturwissenschaftlichen Sektionen behandelt Alwine Slenczka die Rolle des Teufels in mittelhochdeutschen Verserzählungen; der Teufel bedient sich der Lüge, des Betrugs und der Täuschung, um seine Ziele zu erreichen, scheitert jedoch letztlich. Umgekehrt kann ein vorgeblicher Teufel die Aufdeckung eines Betrugs verhindern, weil der Schrecken jedes Nachdenken verhindert. Ursula Kocher analysiert die Funktion der Lüge in Boccaccios Decameron. Von der Lüge als „Bestandteil eines ästhetischen Spiels“ bei Clemens Brentano schreibt Stephan Jäger (S. 219). Bernd Blaschke reflektiert über Falschgeld in modernen Romanen und Anne-Julia Zwierlein konstatiert, dass zwei postmoderne Romane gerade im Motiv des Nicht-Authentischen die Idee des Subjekts und den unerreichbaren Ursprung perpetuieren.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist das Mittelalter mit dem Aufsatz von Thomas Meier über die Rebellion Heinrichs V. vertreten. Anna-Franziska von Schweinitz untersucht die Rolle der Gärten adliger Residenzen im 17. und 18. Jahrhundert zur Repräsentation, besonders aber im Hinblick auf das Streben nach Macht.

Die Aufklärung pries die Naturwissenschaft als bestes Mittel gegen den Aberglauben. Doch der Umgang mit „wissenschaftlichem“ Betrug war zwiespältig. Ulrike Krampl beschreibt, wie die Pariser Polizei sich im 18. Jahrhundert bemühte, Alchimisten und angeblichen Goldmachern experimentell auf die Schliche zu kommen, die „Tatsachen“ und damit den Schwindel aufzudecken, Kenntnisse aber gleichzeitig für den Staat nutzbar zu machen. „Wissenschaftliche“ Schausteller nutzten einerseits neue physikalische Erkenntnisse, um „Zauberkunststücke“ vorzuführen, ohne ihrem staunenden Publikum Erklärungen zu liefern; teilweise machten sie ihre Vorführungen mit Schwindeleien noch unerklärlicher. Die Haltung der Wissenschaft war geteilt: Fördern Scharlatane den Wunderglauben im Volk oder klären sie über Entdeckungen auf? Oliver Hochadel kommt zu dem Schluss, dass sich erst im 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Schaustellern entspannte, nachdem erstere sich erfolgreich professionalisiert und institutionell etabliert hatte. Carsten Zimmermann spannt den Bogen ins 20. Jahrhundert und beleuchtet die dubiose Rolle der Medizin im Kampf gegen die „Kurpfuscherei“ in der Weimarer Zeit: Einerseits bekämpfte man die rapide anwachsende Laienkonkurrenz in der Heilkunde, andererseits machte man sich teilweise gar deren Methoden zunutze.

Drei theaterwissenschaftlich ausgerichtete Aufsätze folgen: Harald Kämmerer zeichnet die Diskussion über die Ursachen des Vergnügens am Schrecklichen - einerseits bei realen Hinrichtungen, andererseits im Theater - in der Ästhetiktheorie des 18. Jahrhunderts nach. Man erkannte bereits, dass es um ein „Ausloten eigener Empfindungen, Grenzen und Ängste“ geht (S. 165). Moses Mendelssohn glaubte zunächst im Mitleid den Grund für den massenhaften Zulauf zu Hinrichtungen gefunden zu haben; Johann K. Wezel deckte dagegen das Angenehme „vermischter Empfindungen“ auf (S. 163). Michael Dorner beleuchtet ein „ehernes Gesetz“ der Kunst: Kein Betrug bleibe im Theater unentdeckt (S. 168). Andreas Rosenfelder zeigt, wie Ernst Lubitschs Film „To be or not to be“ von 1942 die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge „perforiert“ (S. 179).

Tom Wolf entlarvt in seinem Aufsatz über Rekonstruktionen, Imitationen und Fälschungen in der Kunst das Original als „subjektive Erscheinung“ (S. 205).

Im theologischen Teil erklärt Ruben Zimmermann urchristliche Pseudepigrafie als Ausdruck einer spezifischen Weitergabe der Tradition, die nicht an einzelne Autoren gebunden, sondern bei der Wahrheit überindividuell und historisch verbürgt wurde, und des Bedürfnisses nach „personaler Konkretion der Botschaft“ (S. 270). Christiane Tietz-Steiding beleuchtet die Bedeutung von Wahrheit und Lüge bei Dietrich Bonhoeffer: Für ihn bestimmten sie sich aus der verantwortlichen Tat.

Quantitativ kommt in diesem Band den sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Beiträgen ein großes Gewicht zu. Vielleicht sind Lüge, Betrug oder Fälschung in Literatur und Theater eher greifbar als in der - historischen oder juristischen - Realität. Dennoch hätte man von einem wirklich interdisziplinären Band erwartet, dass auch juristische oder psychologische Aspekte beleuchtet würden.

 

Anschau                                                                                 Eva Lacour