LacourKriminalitätsgeschichte20010723
Nr. 10439 ZRG 119 (2002) 48
Kriminalitätsgeschichte.
Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, hg. v. Blauert,
Andreas/Schwerhoff, Gerd (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
1). UVK Universitätsverlag, Konstanz 2000. 920 S.
34
von derzeit rund 100 Mitgliedern des Arbeitskreises für Historische
Kriminalitätsforschung geben in diesem monumentalen Band einen Querschnitt
durch den Stand der Forschung. Durch die Überblicksdarstellungen zu anderen
europäischen Ländern - England (Peter Wettmann-Jungblut), Frankreich (Henrik
Halbleib), den Benelux-Ländern (Xavier Rousseaux), Italien (Peter
Blastenbei), Skandinavien (Jens Johansen) und Polen (Christoph
Schmidt) - werden „Spezialitäten“ der deutschen Kriminalitätshistorie
deutlich. Etwas bedauerlich ist die weitgehende Begrenzung auf die Vormoderne,
zumal Gerd Schwerhoff zu Recht die Virulenz der Frage nach einem
etwaigen historischen Wandel betont, deren Beantwortung „durch das
kulturgeschichtliche Profil der neueren [deutschen] Kriminalitätsgeschichte und
[...] die wachsende Skepsis gegenüber statistischen Längsschnitten nicht
einfacher geworden ist“ (S. 46). Relativ schmal ist der Abschnitt „Theoretische
Perspektiven“; Andrea Griesebner und Monika Mommertz fordern aus
geschlechtergeschichtlichem Blickwinkel, den „Sichtverengungen der
Gerichtsakten“ bewusst entgegenzuarbeiten (S. 232). Dass die Kategorie
„Geschlecht“ aus der Kriminalitätsgeschichte nicht mehr wegzudenken ist, zeigen
auch die Beiträge von Katharina Simon-Muscheid, Sylvie Steinberg
und Joachim Eibach, der „Dichotomien wie aktiver Mann vs. passive Frau
oder kriminelle Männlichkeit vs. friedfertige Weiblichkeit“ den Rang von
Klischees zuweist und zeigt, dass sich Frauen nicht nur in der Rolle der
Gewaltopfer, sondern auch als Täterinnen finden lassen. Michael Maset
drängt auf die Berücksichtigung von Michel Foucaults relationalem
Konzept der Macht anstelle der „Weiterführung der Diskussionen um Oestreichs
rudimentäre Gedankenansätze zu einem Konzept der Sozialdisziplinierung“ (S.
240), wobei er zu Recht darauf hinweist, dass eine Anschlussfähigkeit der
Historischen Kriminalitätsforschung an Theorien gesellschaftlicher und
historischer Entwicklung nur durch eine „Vernetzung bisheriger Ergebnisse“,
nicht aber einfache „Addition“ von Einzelstudien erreichbar sein wird (S. 241);
dies erfordert neue Analysetechniken, um die man sich derzeit zu wenig bemüht.
Eine
Bereicherung stellt der Aufsatz Klaus Grafs dar, in dem er sich
hauptsächlich mit Schanddenkmälern befasst und sorgfältige Quellenkritik
anmahnt. Denn vermeintliche Erinnerungszeichen entpuppen sich häufig als
„Resultate neuzeitlicher Traditionsbildung“ (S. 280), als „Erklärungssagen“ (S.
277) für rätselhafte Objekte wie beispielsweise die auffälligen Steinköpfe an
Gebäuden, die man bereits im Spätmittelalter als Mahnmale an Schwerverbrechen
deutete. Von Stereotypen, „weit verbreitete[n] Denkschemata“ (S. 314) und den
„realitätskonstruierenden Mitteln des Erzählens vor Gericht“ (S. 313) handelt
der Beitrag Gabriela Signoris; Ralf-Peter Fuchs schließt sich mit
Reflexionen zur Erfassung „sozialen Wissens“ an (S. 318). Eine interessante
Quelle, die Autobiographie eines Delinquenten aus dem 19. Jahrhundert,
analysiert Heike Talkenberger.
Methodische
Überlegungen zur quantitativen Erfassung von Kriminalität stellt Jens
Johansen an; er kann für Dänemark nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit,
dass Delikte vor Gericht verhandelt wurden, mit zunehmender räumlicher Distanz
zum Gerichtsort schwand, dass somit der Umfang des Dunkelfeldes je nach
Entfernung unterschiedlich groß ist. Martin Dinges stellt im Rahmen
einer Sekundäranalyse europäischer Studien fest, dass die Strafjustiz umso eher
genutzt wurde, je verfügbarer, berechenbarer, auch für Arme erschwinglich und
hinsichtlich ihrer Sanktionen angemessener sie erschien. Frauen oder Fremde
klagten selten; Männer dagegen bedienten sich der Justiz, um „den Druck zur
Konfliktlösung außerhalb des Gerichtes zu erhöhen“ (S. 542), was den hohen
Anteil nicht zu Ende verfolgter Klagen erklärt.
Die
städtische Justiz nehmen Steffen Wernicke für Regensburg und Peter
Schuster für Konstanz in den Blick; letzterem gelingt der Nachweis, dass
die Oberschicht nicht weniger kriminell war als die Unterschicht, ja „für sich
mit beeindruckender Renitenz in Anspruch nahm, die Regeln des Friedens und die
Definitionsmacht des Rates zu ignorieren.“ (S. 370) Die Unsicherheiten von
Justiznutzung und Rechtsdurchsetzung zu Beginn des 16. Jahrhunderts beschreibt Erika
Münster-Schröer anhand der „noch unvollendeten Gestalt der territorialen
Gerichtsbarkeit“ im Herzogtum Jülich (S. 420) sowie der neuen Instanz
Reichskammergericht und der konkurrierenden Rechtsprechung des „traditionellen“
Arnsberger Femegerichts. Wie „Strategiedenken“ (S. 446) und Selbstbehauptung
adeliger Gerichtsherren gegenüber dem Landesherrn im 17. Jahrhundert die
Hexenverfolgung anheizen konnte, zeigt Gudrun Gersmann. Denn Hexerei war
„das einzige Verbrechen, das aufgrund der Vagheit der Indizien einerseits und
des in der Bevölkerung verbreiteten Hexenglaubens andererseits jederzeit nach
Belieben konstruiert werden konnte.“ (S. 437) Karl Härter geht in seinem
sehr dichten und informativen Beitrag zur Entwicklung des frühneuzeitlichen
Strafverfahrens auch auf die „Verschränkung“ (S. 479) von formeller und
informeller sozialer Kontrolle ein; Supplikationen aus dem gesellschaftlichen
Umfeld eines Delinquenten signalisierten eine Verankerung, welche eine
strafrechtliche Sanktion durch informelle Kontrolle ersetzbar erscheinen ließ. Carl
Hoffmann und Francisca Loetz befassen sich mit außergerichtlicher
Konfliktregulierung, die ergänzend, aber auch substitutiv zur gerichtlichen
sein konnte, ähnlichen Regeln folgte und „mit der Justiz identische
ritualisierte Formen der Versöhnung kannte.“ (S. 550)
Für
Paris weist Gerhard Sälter nach, dass die Polizei im 18. Jahrhundert ein
an den Kriterien traditioneller gerichtlicher Sanktion orientiertes System der
Repression „in eigener Regie zu etablieren suchte“ (S. 500), nachdem sich durch
eine politische Machtverschiebung ein Defizit vertikaler Sozialkontrolle
aufgetan hatte, und wendet sich damit gegen die von Foucault und Pieter
Spierenburg vertretene These des Übergangs zur Disziplinierung durch Haft
und Arbeit seit etwa 1760.
Auf
die sakrale Dimension von Verbrechen und Strafen weist Heinrich Richard
Schmidt hin. Frank Konersmann und Harriet Rudolph untersuchen
die Kirchenzucht, die - worauf Harriet Rudolf aufmerksam macht - den säkularen
Disziplinierungsprozess unterstützte.
Schließlich
findet sich eine Sektion sozialgeschichtlicher Beiträge, eröffnet von Winfried
Freitag, der das bayerische „Netzwerk der Wilderei“ (S. 728) beschreibt, in
dem Kleriker als Abnehmer, aber auch als Wilderer eine bedeutende Rolle
spielten. Das Jagen war „eine in der gesamten Gesellschaft tief verwurzelte
kulturelle Gewohnheit“ (S. 747), die nicht nur in der Bevölkerung akzeptiert,
sondern auch von manchem Beamten toleriert wurde. Eva Wiebel
entmythisiert das aus der Literatur bekannte Bild zweier Gaunerinnen und Otto
Ulbricht analysiert die rätselhaften Motive jugendlicher Dienstmädchen und
-jungen als Brandstifter zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In diesem Rahmen
plädiert er dafür, in der Historischen Kriminalitätsforschung den Blick nicht
„nur auf soziale Ungleichheit und symbolische Bedeutung“ (S. 817), sondern auch
wieder mehr auf die Täter zu richten. Zum Schluss unterzieht Andreas Blauert
die Legenden zum Seeräuberwesen im Indischen Ozean im 17. und 18. Jahrhundert
einer kritischen Überprüfung.
Insgesamt
wird Einblick in die ganze Vielschichtigkeit der modernen
kriminalitätsgeschichtlichen Forschung geboten. Die Einzelbeiträge sind gut
aufeinander abgestimmt und somit ist der Band sowohl als Einstieg wie an vielen
Punkten zur Vertiefung geeignet.
Anschau Eva
Lacour