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Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, hg. v. Dipper, Christof/Klinkhammer, Lutz/Nützenadel, Alexander (= Historische Forschungen 68). Duncker & Humblot, Berlin 2000. XIV, 558 S.

 

Der Sammelband gliedert sich ich sechs Teile; im ersten - „Politische Bewegungen und Regime“ - analysiert Armin Heinen die verschiedenen Ausprägungen des europäischen Faschismus. Er entstand zwischen 1918 und 1939 als „Epochenphänomen“ (S. 9) in schwachen Demokratien mit starken nationalistischen, antikapitalistischen und antikommunistischen Strömungen aufgrund der Krise des liberalen Systems. Nur in Italien, Deutschland und Rumänien bildeten sich starke, autonome faschistische Bewegungen heraus und nur unter „exzeptionellen Bedingungen“ (S. 13) konnten sie die Macht erobern: Als sich eine wirtschaftlich-soziale Zwangslage zur politischen Krise ausweitete, die als Krise des Parlamentarismus erschien, verlagerte sich die Entscheidungsgewalt im Staat auf ein kleines Zentrum um das Staatsoberhaupt, welche die Transformation des Systems in eine faschistisch-autoritäre Diktatur in die Wege leitete. Alexander Nützenadel spricht der italienischen faschistischen und Hans Mommsen der deutschen nationalsozialistischen Machtübernahme die Qualität einer Revolution ab. Die Regime zerfielen wieder, „ohne daß nennenswerte historische Errungenschaften blieben“ (S. 56). Brunello Mantelli schildert die an Völkermord grenzenden Gräuel der italienischen Besatzer in Griechenland und auf dem Balkan zwischen 1941 und 1943. Ein Beitrag zu „Stalinismus und Post-Stalinismus im osteuropäischen Vergleich“ von Klaus von Beyme beschließt den ersten Teil.

Die zweite „Revolutionen und Umbrüche“ betitelte Rubrik eröffnet ein Aufsatz von Pierangelo Schiera, der den Prozess der „Politisierung immer größerer Personen- und Problemkreise“ und ihr Interesse am Thema „Verfassung“ im 18. Jahrhundert anhand der Schriften von Jean Louis de Lolme, Germaine de Staël und Jean-Charles-Léonard Sismondi beschreibt (S. 98). Sodann plädiert Wolfgang J. Mommsen für ein genaueres Studium jener „machtvollen Demonstration des Freiheitswillens der Deutschen“ (S. 126), die verharmlosend als „Reichsverfassungskampagne“ bezeichnet wird. Jürgen Heideking fragt nach dem amerikanischen Einfluss auf die Verfassungsgebung der Paulskirche und beschreibt die Abkehr vieler Liberaler vom Vorbild der amerikanischen Staatsordnung nach 1848. Christoph Nonn schildert Versuche von Bauern in der Umgebung von Trier, 1848 mit der Zerstörung von Schlagbäumen den gewachsenen Einfluss der Behörden und Beamten zurückzudrängen. Der Beitrag von Helmut Berding leitet zum nächsten Abschnitt über. Er schildert die Entstehung der Hessischen Verfassung 1946 und den anschließenden Anpassungsdruck v. a. bezüglich der in ihr verankerten sehr weit reichenden betrieblichen Mitbestimmung und der Sozialisierungsfrage.

Der Abschnitt „Klassen und Professionen“ wird eingeleitet von Rainer Hudemann, der die Unterschiede der sozialen und politischen Kultur in Deutschland und Frankreich analysiert, die sich in Fragen der Mitbestimmung, der Rolle und Stärke der Gewerkschaften, der Streitkultur und der - typisch deutschen - Errungenschaft der Sozialpartnerschaft manifestieren. Anhand von Unterlagen des evangelischen Hilfscomités in Rom lässt sich nach Arnold Esch eine beachtliche und internationale Mobilität deutscher Arbeit suchender Männer im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert feststellen. Calixte Hudemann-Simon beschreibt die unterschiedlichen Ausbildungsstandards für Ärzte seit dem 18. Jahrhundert in England, Frankreich, Deutschland und Russland, deren zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung - in England verspätet - sowie die allmählich sich ändernde Beziehung zu ihren Patienten, die von einem Gewinn an ärztlicher Autorität geprägt war. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert verbesserte sich - abgesehen von Russland - auch die ökonomische Situation der Mediziner, stieg ihr soziales Ansehen. Hans-Peter Ullmann schreibt über die um 1900 auch in Deutschland entstehende Konsumgesellschaft und den - politisch, nicht ökonomisch erfolgreichen - Widerstand gegen die Warenhäuser. Eberhard Kolb schildert Debatte, Verlauf und Auswirkungen des ersten und einzigen deutschen Beamtenstreiks 1922.

Der vierte Teil versammelt unter der Überschrift „Mentalitäten und Kulturen“ sechs ganz unterschiedliche Aufsätze: Der erste von Hartmut Lehmann fragt nach dem Zusammenhang von Kirche, Säkularisierung und Gewalt, ohne allerdings zu Ergebnissen zu gelangen. Sodann analysiert Innocenzo Cervelli die erzählerische Verwandlung der Legende vom jakobinischen Hund Medor. Lutz Klinkhammer zeigt, wie Friedrich Engels „im Privaten die Klassenspaltung, die er in seinen Schriften beschwor“, überwand, indem er mit der Arbeiterin Mary Burns in geheim gehaltenen Wohnungen zusammenlebte (S. 295). Wie die Großherzöge von Baden vor dem Hintergrund ihrer Hausgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Italien erlebten, beschreibt Hansmartin Schwarzmaier. Gabriele B. Clemens wendet sich gegen die in Studien über den römischen Kirchenstaat zwischen 1815 und 1870 neuerdings behaupteten, „positiven Ansätze, Neuerungen, bisher Unbemerktes oder Unterschätztes vor allem im kulturellen Ambiente“ (S. 318) und weist die „Knebelwirkung der Zensur“ und des „allgegenwärtigen Spitzelsystems der päpstlichen Polizei“ (S. 328f) auf das Assoziationswesen nach. Moshe Zimmermann legt am Beispiel der Olympischen Spiele „den Aufstieg des Sports in den Rang und Status einer komplexen Religion“ im 20. Jahrhundert dar (S. 349).

Unter der Rubrik „Diskurse und Identitäten“ findet sich ein Aufsatz von Walter Rummel, in dem er mit der sich hartnäckig haltenden Ansicht aufräumt, die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen hätten darauf gezielt, „weise Frauen“ zu bekämpfen und ihr Wissen auszurotten. Volker Sellin untersucht die Symbolik des dreimaligen Wechsels von Aufbau und Sturz von Napoleons Denkmal auf der Pariser Place Vendôme zwischen 1814 und 1875. Stuart Wolf beschreibt den Aufstieg der „Union Valdôdaine“ zur dominierenden politischen Partei im Aostatal nach dem zweiten Weltkrieg. Die Intensivierung und qualitative Veränderung der antisemitischen Agitation im Rahmen des Diskurses zur Gesetzgebung betreffend den Wucher seit dem Ende des 19. Jahrhunderts legt Martin H. Geyer dar. Jost Dülffer schildert die klarsichtige Wandlung des Philosophen und Soziologen Max Scheler vom Kriegsverherrlicher zu Beginn des ersten Weltkrieges zum Pazifisten. In einem brillanten und engagierten Essay plädiert Heinrich August Winkler für eine neue - gesamtdeutsche - Auseinandersetzung mit der Entstehung der Bonner Demokratie aufgrund der Lehren aus dem Scheitern Weimars und dafür, in Berlin nicht aufzugeben, „was sich in Bonn bewährt hat“ (S. 457).

Im letzten - mit „Methodik und Historiographie der Sozialgeschichte“ überschriebene - Teil des Bandes stellt Hans-Ulrich Wehler methodische Überlegungen zur systematischen Einbeziehung von Emotionen in die Sozialgeschichte an. Jürgen Kocka spricht sich für die Erforschung der Frage aus, „wie sich in den verschiedenen Ländern und Regionen Europas Zivilgesellschaft entwickelte“ (S. 483), und zwar unter verstärkter Berücksichtigung Osteuropas, wobei allerdings damit zu rechnen ist, dass das „bewährte Zivilgesellschafts-Modell“ einer „Relativierung und Reformulierung“ unterzogen werden muss (S. 484). Christof Dipper zeigt am Beispiel „Italien und Deutschland seit 1800“, dass „der Vergleich ein außerordentlich erfolgversprechendes heuristisches Verfahren ist“ (S. 503). Hier und im folgenden Beitrag - von Jens Petersen über den Mythos um Mussolini, aus dessen Bann sich Italien bis heute nicht befreien konnte und mit dem sich die Wissenschaft kaum befasst, - wird ein Bogen geschlagen zum Anfang des Buches. Sodann kritisiert Claus D. Kernig die Weltbevölkerungspolitik, die auf dem verfehlten Modell beruht, Bildung senke die Geburtenrate. Nicht Bildung, sondern Wohlstand beendete in Europa das Bevölkerungswachstum. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein äußerst knapper Aufsatz von Wilhelm Voßkamp, in dem er sich für eine „gegenüber den Kulturwissenschaften offene Literaturwissenschaft“ mit einem „Interesse an der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes“ ausspricht (S. 546). Insgesamt also ein sehr vielfältiges, aber genauso heterogenes Buch.

 

Anschau                                                                                                                    Eva Lacour