LacourDieentstehungdesöffentlichenstrafrechts20010704
Nr. 10456 ZRG 119 (2002) 38
Die
Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme,
hg. v. Willoweit, Dietmar (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der
Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 1). Böhlau, Köln 1999. VIII,
371 S.
Dietmar
Willoweit setzt sich
engagiert für eine konsequente Historisierung der Strafrechtsgeschichte ein. Er
plädiert zugunsten einer Vergleichbarkeit verschiedenartiger Phänomene für
einen sehr weiten Begriff von Recht - im Sinne einer „Schaffung willkürfreier
Formen menschlichen Zusammenlebens durch Normenbildung“ (S. 229). Die beiden
großen Themen der Rechtsgeschichte sind demnach „die Bewältigung von Konflikten
und die Förderung sozialer Integration“.
Das
spätmittelalterliche Nebeneinander von Bußen und Strafen möchte Willoweit nicht
als Zeichen einer Übergangssituation interpretieren. Denn das hieße
strenggenommen, der spätmittelalterlichen Gesellschaft „Unrechtsstrukturen“ zu
unterstellen (S. 230). Konsequent lautet die Forderung, Strafrecht „als ein
Instrument der Konfliktlösung neben anderen zu begreifen“ (S. 7). Die
geistliche Gerichtsbarkeit, die einem Täter, der einen absolutionswilligen
Priester fand, Bußübungen ermöglichte und ihn durch die Verpflichtung zur
Versöhnung der peinlichen Bestrafung entzog, stellt somit eine „historische
Alternative“ dar, „die Unrecht als ein geistliches, nicht als ein politisches
Phänomen behandelt wissen wollte“ (S. 232).
Der
Sammelband dokumentiert die 1995 in Würzburg gehaltene Tagung zur Entstehung
des öffentlichen Strafrechts. Dieses hat sich in Europa zeitlich recht
unterschiedlich durchgesetzt. Roger D. Groot nennt für England zwei
entscheidende Einschnitte: Heinrich II. setzte 1166 mit den Assisen von
Clarendon eine Anklagejury für schwere Verbrechen ein, zehn Jahre später
verstärkt durch die Assisen von Northampton. Die Jury entschied in einem
„mittelbaren Schuldspruch“ (medial verdict) indirekt über die Verhängung des
Gottesurteils, das dann durch die königlichen Richter erfolgte, einem
„mittelbarem Urteil“ (medial judgement, S. 29). Nach dem 4. Laterankonzil wurde
1219 das Gottesurteil in England abgeschafft; von nun an war der Schuldspruch
der Jury endgültig. Gleichzeitig wurde es sehr schnell auch in
Privatklageverfahren zur Regel, anstelle des - erst durch die normannische
Eroberung eingeführten - Zweikampfes die Entscheidung der Jury einzufordern; so
wurden ab etwa dem Jahr 1220 praktisch alle schweren Verbrechen in öffentlichen
Prozessen verhandelt und peinlich gestraft.
Für
Frankreich kommt Esther Cohen zu dem Schluss, dass der
Inquisitionsprozess im Vergleich zu Deutschland nicht wesentlich früher
dominierend wurde, nämlich in der frühen Neuzeit, aber regional unterschiedlich
schnell: In Anjou, Maine und Burgund existierte frühzeitig eine schriftliche
Tradition, die das akkusatorische System festschrieb und somit erhielt, im
Norden dagegen ein Gemisch beider Verfahrenstypen. Das Vorherrschen des
inquisitorischen Systems erklärt Cohen weniger mit institutioneller und
königlicher Machtentfaltung als mit der Herausbildung einer „Klasse
professioneller Juristen, die ihre Rolle eher als unabhängige Wahrheitssucher
denn als Vermittler begriffen“ (S. 56). Damit veränderte sich vollständig die
Vorstellung dessen, was Aufgabe eines Gerichts sei.
An
der Entwicklung der Lehre vom arbitrium
judicis, die sich bis nach England verbreitete, hatten
franco-provençalische Juristen des 12. Jahrhunderts großen Anteil, wie André
Gouron nachweist. In ihren Schriften findet sich auch eine Unterscheidung
zwischen Zivil- und Strafprozess und zwischen crimina publica und crimina
privata sowie die erfolgreiche Theorie der infamia mit der Dreiteilung ex
ipso delicto, ex sententia super delicto prolata, ex genere poenae.
Claude
Gauvard stellt die Härte
der französischen Strafrechtstheorie des 14. und 15. Jahrhunderts der relativen
Milde durch die königlichen Gerichte gegenüber, wobei eine allmähliche
Angleichung der Praxis an die Theorie zu konstatieren ist. Fast paradox: Die
Gnadengesuche der Totschläger trugen dazu bei, Tötungsdelikte zu
kriminalisieren, indem sie „eine Theorie der legitimen Verteidigung“, vor allem
der eigenen Ehre, bzw. der „mildernden Umstände“ (S. 111) entwickelten, die
sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts durchsetzte und in den Gnadenerlassen nach
und nach „kodifiziert“ wurde.
James
Given forscht den
Strukturen in der Gesellschaft des Languedoc nach, welche die Arbeit der
Inquisitoren im 13. Jahrhundert bei der Verfolgung von Häretikern
erleichterten: Soziale Spannungen in den Gemeinden, vor allem aber die
Kooperationsbereitschaft von Priestern führten Menschen der Inquisition zu.
Eine
Rechtsgeschichte, die Fragen stellt nach der Bedeutung und dem Gebrauch von
Recht, der Beteiligung an Recht durch die Menschen im mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Europa, fordert James A. Sharpe. Er spricht von einem
kulturellen Wandel, den er für England ins 16. und 17. Jahrhundert datiert.
Eine zunehmend breitere Schicht partizipierte am Rechtssystem und betrieb die
„rechtliche Akkulturation“ (S. 120), ohne die das Strafrecht von weiten Teilen
der Bevölkerung nicht zur Konfliktregulierung genutzt worden wäre. Xavier
Rousseaux beschreibt in vergleichender europäischer Perspektive, wie
zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert „Tötungsdelikte zum Verbrechen und der
Täter zum Kriminellen wurden“ (S. 156). Diesen Prozess führt er auf eine
„Kampagne“ der Moralisierung und Zivilisierung zurück, die mit Veränderungen
der sozialen und ökonomischen Ordnung und zunehmendem staatlichem
Interventionismus zusammenhing. Diese beiden Beiträge, welche die
Langzeitentwicklung in den Blick nehmen, dürften - zumal in ihrer
zivilisationstheoretischen Ausrichtung - bei deutschen Kriminalitätshistorikern
sicherlich keine ungeteilte Zustimmung finden.
Eine
„neue Rechtspolitik“ aufgrund eines öffentlichen Interesses an der Sühne von
Unrechtstaten konstatiert Hans Schlosser in Augsburg um 1378. Ein
Ratsbeschluss verpflichtete alle Bürger zur Anzeige von Delikten gegen den
Stadtfrieden. Mit dem 16. Jahrhundert veränderte sich die Strafpraxis: Die
Alltagskriminalität von Stadtbürgern wurde an erster Stelle mit kurzen Turmstrafen
geahndet; Fragen der Verhältnismäßigkeit und Nützlichkeit, der Abschreckung,
Besserung und Disziplinierung traten in den Vordergrund; seit 1540
berücksichtigte man auch Täterpersönlichkeit und Umstände der Tat. Neben dieser
„Ausdifferenzierung“ (S. 252) des Strafensystems weist vor allem die zunehmende
„Rechtsprechungsdichte“ (S. 253) auf das Vordringen eines öffentlichen Strafsystems
hin.
Über
Infamie, Kirchenbuße und Ehrenstrafen reflektiert Klaus Schreiner. Zur
Definition der Letzteren beruft er sich ebenfalls auf einen
Differenzierungsprozess, „in dessen Verlauf sich ehrenrührige Elemente der
üblichen Strafpraxis verselbständigten“; die mit jeder Strafe gegebene
Ehrverletzung wurde somit „zu einem eigenen Strafmittel“ umgebildet (S. 301).
Rolf
Sprandel nennt „vier
neuralgische Punkte der Strafrechtswirklichkeit“ (S. 186): den „Funktions- und
Stellenwertwandel alter Strafrechtsinstitutionen“, den er am Beispiel von Acht
und Urfehde erläutert; die Frage der Entstehung des modernen Strafrechts aus
einem Unterschichtenstrafrecht des Spätmittelalters; das Verhältnis der
Religion zum weltlichen Strafrecht und die Reaktionen auf die Rechtsunsicherheit,
die er anhand des Seeräuberwesens und der Femegerichtsbarkeit aufzeigt. Mit den
beiden letzten Punkten vertritt Sprandel die These, der Strafanspruch des
neuzeitlichen Staates „dürfte in starkem Maß von unten gefordert worden sein“
(S. 207).
Anschau Eva
Lacour