LacourDeutschewirtschaftsgeschichte20010504
Deutsche
Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, hg. v. North, Michael.
Beck, München 2000. 530 S., 10 Abb., 44 Tab., 12 Kart.
Der
gelungene Band „komprimiert [...] die deutsche Wirtschaftsentwicklung des
vergangenen Jahrtausends“ (S. 11) auf detailreiche Weise. Jeder Aufsatz befasst
sich u. a. mit Kommunikation und Verkehr, Demographie, den Wirtschaftszweigen
Landwirtschaft, Gewerbe / Industrie und Dienstleistung sowie der Wirtschafts-
und Sozialpolitik des jeweiligen Zeitabschnitts, was den übergreifenden
Vergleich ermöglicht. Zum Abschluss analysiert Rainer Metz die
langfristigen Trends anhand ökonomischer Indikatoren und verschafft dem Leser
so einen fundierten Überblick.
Stuart
Jenks bezeichnet die
Zeit zwischen den Jahren 1000 und 1250 als Epochengrenze der Entstehung einer
moderneren Wirtschaft, eine „kommerzielle Revolution“. Aus einem „kümmerlichen
Wanderhandel entlang von Rhein und Donau“ bildete sich ein „mächtiger deutscher
Binnen- und Außenhandel“ (S. 68). Kennzeichen ist seit dem 13. Jahrhundert das
Sesshaftwerden der Fernkaufleute, das durch die Verschriftlichung ihrer
Betriebe ermöglicht wurde. Sie beförderte auch die Entwicklung von
Kreditinstrumenten und damit eine enorme Steigerung des Handelskapitals. Die
neue Dynamik des Handels mit ihrem Wandel vom Luxus- zum Massenguthandel
verhalf den Messen zur Blüte.
Die
Trennung von Arbeit und Kapital nahm im Bergbau ihren Anfang. Schmelzöfen
wurden vergrößert, die Gruben mussten - nachdem die im Tagebau auszubeutenden
Erzvorkommen erschöpft waren - entwässert werden, was seit etwa 1300 die
Möglichkeiten der kleinen „Unternehmerarbeiter“ überstieg (S. 62). Die
genossenschaftliche Organisation des Bergbaus ebnete auch Kleinanlegern den Weg
zur Beteiligung und erschloss neues Kapital. Jenks zieht insgesamt eine
positive Bilanz der Krisen des Spätmittelalters, lösten sie doch einen fälligen
„tiefgreifende[n] Strukturwandel“ aus (S. 105).
Für
die Frühe Neuzeit beschreibt Michael North, wie im Zuge der Entdeckung
der Seewege nach Indien und Amerika und als Folge des Dreißigjährigen Krieges
der oberdeutsche Handelsraum seine führende Rolle verlor und die Hansestädte in
der Schifffahrt im internationalen Vergleich ins Hintertreffen gerieten,
während der rheinische und der mitteldeutsche Raum aufstiegen. Doch trotz der
wachsenden Bedeutung von Handel, Bankwesen und Transport stand der tertiäre
Sektor hinsichtlich Wertschöpfung und Beschäftigung „noch deutlich hinter
Landwirtschaft und Gewerbe zurück“ (S. 150). Die frühneuzeitlichen
Gewerbelandschaften mit ihrem Nebeneinander von städtischem Handwerk,
Verlagswesen und Manufakturen legten den Grundstein für die spätere
Industrialisierung.
Der
Kameralismus schuf seit dem 17. Jahrhundert einen institutionellen Rahmen für
die Wirtschaft, der den Durchbruch der Marktgesellschaft im Rahmen des
Reformschubs des beginnenden 19. Jahrhunderts vorbereitete.
Im
„Zwillingspaar“ Zollverein und Eisenbahn (S. 195) erblickt
Das
seit dem 18. Jahrhundert einsetzende und im 19. Jahrhundert rasant werdende
Bevölkerungswachstum, das von den Zeitgenossen als ungeheure Krise empfunden
wurde, machte sich in einer „neuartige[n] Massenarmut“ bemerkbar (S. 211).
Nicht die Industrialisierung war Ursache der höheren Geburtenrate, sondern der
Aufschwung des ländlichen Gewerbes, der die Gründung neuer Familien
erleichterte. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Binnenwanderung -
besonders von Ost nach West - und der Verstädterung. Gleichzeitig vollzog sich
die „umfassendste gesellschaftliche Veränderung“ seit Beginn der Neuzeit: die
Ablösung der Feudalgesellschaft durch die „Marktgesellschaft“ und damit eine
„Proletarisierung von vielen Millionen“ Menschen (S. 281).
Das
Ende des 19. Jahrhunderts markiert auch das Ende des klassischen Liberalismus
und den „Wandel zum Interventionsstaat“ (S. 285), der schließlich in die - erst
1942 mit einer zentralen Planungsbehörde ausgestatteten -
nationalsozialistische Lenkungswirtschaft münden sollte.
Die
Jahre zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges
werden von Gerold Ambrosius als Zeit „extremer wirtschaftlicher
Verwerfungen“ charakterisiert (S. 285). 1927 erreichte das deutsche
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner wieder das Niveau des Jahres 1913, zwischen
1928 und 1932 sackte es nochmals auf das der Jahrhundertwende ab. 1939 lag das
Bruttoinlansprodukt zwar um 70% über dem von 1913, doch die Bevölkerung zog aus
diesem „Rüstungsaufschwung“ nur begrenzten Nutzen. Die expansive Geldpolitik
stabilisierte zu Beginn der Weimarer Republik zwar die innenpolitische
Situation. Die Hyperinflation der Jahre 1922/23 erschütterte aber „die
sozial-ökonomischen Strukturen nachhaltig“ (S. 309). Ein zweites Mal enteignete
dann die nationalsozialistische Verschuldungspolitik - diesmal unbemerkt - die
Sparer zum Zwecke der Aufrüstung. Das Inflationspotential wurde durch Preis-
und Lohnstopps unterdrückt, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine
erneute Währungsreform beseitigt werden musste. International schotteten sich
die Nationalökonomien seit der Weltwirtschaftskrise zunehmend voneinander ab,
so dass erst in den 1960er Jahren wieder ein dem Beginn des Jahrhunderts
vergleichbarer Verflechtungsgrad erreicht wurde. Trotz des Zusammenbruchs fällt
„die kühle ökonomische Betrachtung“ des Rüstungsbooms „positiver aus“: Mit ihm
hatten sich die zukunftsorientierten Branchen wie Chemie und Elektrotechnik
stark entwickelt, traditionelle hatten sich rationalisiert und modernisiert, so
dass „dem Chaos und Elend nach wenigen Jahren ein wirtschaftlicher Aufschwung
ohne Beispiel folgen sollte“ (S. 350), dem bis 1973/75 in Westdeutschland
andauernden Nachkriegsboom, stimuliert vor allem durch die Unterbewertung der
D-Mark und damit der günstigen außenwirtschaftlichen Verhältnisse. Harm G.
Schröter nennt als weitere Bedingungen für das Wirtschaftswachstum der
Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das „Humankapital“ einer
gut ausgebildeten Bevölkerung, die Nachfrage nach Produktionsgütern, welche die
noch traditionell strukturierte Wirtschaft zu befriedigen vermochte und
„Nachholinvestitionen“, die aufgrund des immer noch bestehenden technischen
Rückstandes gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika nötig waren (S. 364f).
Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten sank seit etwa 1850
kontinuierlich, seit 1950 rapide von mehr als 50% auf unter 5%; entsprechend
drastisch ging der Anteil der im primären Sektor erzielten Wertschöpfung
zurück. In den 1950er bis 70er Jahren arbeiteten ca. 50% der Erwerbstätigen im
produzierenden Gewerbe, heute sind aber rund 60% im tertiären Sektor
beschäftigt. Diesem Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland – vor
allem der fortgesetzten Deindustrialisierung - standen ein innovationshemmendes
Planungssystem der Deutschen Demokratischen Republik und deren
Überindustrialisierung gegenüber. Der Wandel musste dort nach 1990 schlagartig
durchgeführt werden.
Anschau Eva
Lacour