LacourDaileader20001024 Nr. 10217
ZRG 119 (2002) 32
Philip Daileader, True
Citizens, Violence, Memory, and Identity in the Medieval Community of
Das Leitmotiv dieser Harvarder Dissertation zur mittelalterlichen Stadtbürgerschaft am Beispiel der katalanischen Stadt Perpignan ist interessanterweise das Thema „Erinnerung“. Die „Identität“ der Stadt habe sich nicht in einem Prozess der Reifung entwickelt, sondern aus „wiederholten Versuchen, an der Vergangenheit zu kleben“ (S. 209). Die in einem Privileg von 1197 fixierte Organisation der Stadt wurde noch Jahrhunderte später als ideal empfunden - in einem Verfassungskonflikt beriefen sich 1346 beide Parteien darauf -, obwohl sie eigentlich damals schon rückwärts gewandt und unzeitgemäß war.
Perpignan
erhielt im Jahr 1197 durch Peter II. von Aragon zu einem Zeitpunkt ein
Privileg, als der König noch nicht volljährig war und sich gegen Anfechtungen
behaupten musste; nach diesem Privileg besaß Perpignan das Recht, einen
Magistrat bestehend aus fünf consules
zu wählen. Dieser Magistrat hatte vor allem die Aufgabe, die Rechte des Königs
und der Bürger zu verteidigen und ihre bewegliche und unbewegliche Habe zu
schützen. Zu diesem Zweck stand ihm die ma armada zur Verfügung, ein Bürgerheer
unter dem Befehl des königlichen Schultheißen und des Vikars. Philip
Daileader bewertet den Wunsch der Bürger nach eigener Jurisdiktion und
Exekutivgewalt unter Führung der consules
als Reaktion gegen den königlichen Landfrieden. Das Ausscheren aus dem
königlichen Schutz im Rahmen des Landfriedens brachte für die Bewohner
Perpignans natürlich Vorteile hinsichtlich der Schnelligkeit und
Rücksichtslosigkeit der Behauptung ihrer Rechte, für die Parteien, mit denen
sie in Konflikt lagen - Landadel und umliegende kleinere Städte -, war die ma
armada jedoch eine ständige Bedrohung, ein Schritt hinter das bereits Erreichte
zurück zum Recht des Stärkeren. Das Privileg gab den Weg zu fehdeähnlichen
Zuständen wieder frei, da es den Bürgern der Stadt das Recht zugestand,
jemanden, der sich nicht gemäß der Rechtsprechung der consules verhalten wollte, straffrei mit jeder Art von kollektiver
Gewalt zu überziehen bis hin zur Brandschatzung ganzer Dörfer und Mord. Die
Bewohner Perpignans formten ihre Identität hinsichtlich Konservativismus und
Streitbarkeit entsprechend der adligen Fehdelust. Ablehnung gegenüber
Veränderungen und Akzeptanz von Rache waren „tief verwurzelte und geteilte
Werte“ (S. 225).
Im
Gegensatz zu anderen europäischen kommunalistischen Bewegungen der Zeit waren
die Bestrebungen Perpignans personal, nicht territorial. Man schuf nicht einen
befriedeten Raum innerhalb der Stadtmauern, sondern verteidigte die Rechte der
Bürger, egal wo und gegen wen.
1210
gewann Peter II. dann seine Position als Hüter des Landfriedens zurück, die consules verschwinden sang- und klanglos
aus den Urkunden und Perpignan wurde wieder der königlichen Exekutivgewalt
unterstellt. Doch nach und nach errang Perpignan stückweise seine alten Rechte,
bis schließlich 1329 alle Privilegien von 1197 wieder hergestellt waren. Um
1400 stellte der König von Aragon resigniert fest, Perpignan ursurpiere ohne
Zweifel die königliche Jurisdiktion. Aufgrund des alten Privilegs sah er sich
aber außerstande, dem Einhalt zu gebieten, im Gegenteil erlangte die Stadt
sogar das Recht, königliche Beamte, sogar den Schultheiß, ihrer Rechtsprechung
zu unterwerfen und mit der ma armada gegen sie vorzugehen.
Im
14. Jahrhundert erschütterten Krisen - die Pest, Judenpogrome und Machtkämpfe
zwischen Zünften und den consules -
Perpignan. Diese bildeten den Ausgangspunkt, um die alte, im Privileg von 1197 konstituierte Gemeinschaft zu beschwören. Der Magistrat
wollte die Bürgerschaft zwingen, den Eid zu erneuern und ihn so der „Vergessenheit“
zu entreißen. Nach einer Phase des Wandels, u. a. der Grundlagen des
Bürgerrechts, wandte man sich der Vergangenheit zu, um die zerbrochene Einheit
wieder herzustellen. Doch man war unterschiedlicher Auffassung, wie die alten
Rechte und Gerechtigkeiten zu interpretieren seien. Magistrat und Zünfte -
beide Konfliktparteien - beriefen sich auf 1197, darin war man sich einig. Aber
die Zünfte verlangten, den Magistrat selbst zu wählen, denn sie seien das Volk,
von dem im alten Privileg die Rede sei; der Magistrat wollte ausscheidende consules durch Kooptation ersetzen, wie
sich das eingebürgert hatte, denn sie repräsentierten das Volk. Der König
entschied zugunsten des Magistrats und gewährte ihm gar das Recht, den
unwilligen Bürgern die Vereidigung aufzuzwingen.
Daileader interpretiert die Krise der 1390er Jahre
als Krise des Gedächtnisses. Das 12. und 13. Jahrhundert stellten die
Formierungsphase dar. Danach galt es zunächst das zu bewahren, was dem
kollektiven Gedächtnis überantwortet worden war. In der zweiten Hälfte des 13.
und der ersten des 14. Jahrhunderts standen die Könige zwischen Perpignan und
seiner Vergangenheit. Danach war es die Stadt selbst.
Anschau Eva
Lacour