KaiserJoch20001219 Nr. 10044 ZRG 119 (2002) 21

 

 

Joch, Waltraud, Legitimität und Integration. Untersuchungen zu den Anfängen Karl Martells

(= Historische Studien 456). Matthiesen, Husum 1999. 188 S.

 

Ausgangspunkt dieser bei J. Jarnut (Paderborn) entstandenen Dissertation ist die Beobachtung, dass Karl die mit dem Tode seines Vaters Pippin des Mittleren (714) beginnende Sukzessionskrise doch relativ schnell überwunden hat. Um den binnen weniger Jahre erfolgten Aufstieg des von Pippin von der Herrschaft ausgeschlossenen Sohnes zu erklären, deutet die Verfasserin die kargen, viel erörterten Quellenzeugnisse, insbesondere des Liber Historiae Francorum, der Fortsetzung des sog. Fredegar, der frühkarolingischen Annalen und der Urkunden, in einem Sinne, der den gängigen Forschungsmeinungen häufig widerspricht. Das Fazit ihrer Studie ist eine eindeutige Aufwertung, eine Ehrenrettung Karls „des Hammers“: „Und so hat man den Erfolg Karl Martells eben nicht auf Skrupellosigkeit, Aggression und Verdrängung zurückzuführen, sondern auf seine Integrationskraft, seine Fähigkeit, sich zu arrangieren und die Bereitschaft, in ihn gelegtes Vertrauen nicht zu missbrauchen“ (S. 129).

Die Untersuchung von drei Problemkreisen führt zu diesem positiven Ergebnis: 1. die Frage nach seiner ehelichen Herkunft — rechtmäßige Ehe, Friedelehe oder Konkubinat?, 2. seine Stellung bei den Erbregelungen seines Vaters Pippin und 3. sein Verhältnis zu seinen Verwandten und den Anhängern Plectruds. Wie schon in ihrem Beitrag zum Sammelband „Karl Martell in seiner Zeit“ von 1994 (vgl. dazu meine Rezension in HZ 264, 1997, S. 391‑401) wertet die Verfasserin das Zeugnis des Liber Historiae Francorum, der Karl als ex alia uxore geboren bezeichnet, gegenüber den späteren antikarolingischen Quellen (Erchanbert, Flodoard, Benedikt von St. Andrea) des 9. und 10. Jahrhunderts, die traditionsbildend wurden, auf. Sie betrachtet demnach Karls Mutter Chalpaida als rechtmäßige Ehefrau Pippins, nicht, wie die gängige Forschungsmeinung lautet, als Friedelfrau oder Konkubine, und wendet sich insbesondere gegen die Interpretation der Ehe Pippins mit Chalpaida als Friedelehe. Eine solche von Herbert Meyer (1927, 1940) in die Forschung eingeführte Minderform der Ehe, unterschieden von der Muntehe und dem Konkubinat, habe es nicht gegeben, sondern sei modernes (zeitbedingtes) Konstrukt. Auszugehen sei von einer rechtmäßigen polygamen Ehe. Um die „Rechtmäßigkeit“ der Polygamie bis ins späte 8. Jahrhundert zu beweisen, zieht die Verfasserin das Beispiel der Merowinger heran, ohne den schon von E. Ewig gegebenen Hinweis zu beachten: „Dass ein Herrscher mehrere Ehefrauen nebeneinander hatte, kam anscheinend nicht vor“ (Studien zur merowingischen Dynastie, in: FMSt 8, 1974, S. 42, vgl. ebd. S. 43, es „lösten sich die Ehefrauen oder reginae ... zeitlich ab, so dass keine Vielweiberei im strengen Sinne herrschte“). Das führt zur Annahme einer „seriellen Monogamie“, wie auch die Verfasserin einräumt (S. 17, Anm. 36 nach P. Stafford). Die Faktizität der sukzessiven Ehen der Merowinger beweist genauso wenig wie jene des deutschen Bundeskanzlers die Rechtmäßigkeit der Polygamie.

Auch das Fehlen einschlägiger Bestimmungen gegen die Polygamie in den Volksrechten, den Kapitularien und den Konzilsbeschlüssen kann nicht als Beweis für die Anerkennung der Polygamie angesehen werden (so S. 17f.), fiel doch jedes bigame oder polygame Verhältnis sofort unter das Verbot des Ehebruchs. Auch der Kanon des römischen Konzils von 826: Ut non liceat uno tempore duas habere uxores sive concubinas (MGH Conc. II, 2, Nr. 46B, c.37, S. 582) bzw. Nulli liceat uno tempore duas habere uxores, uxoremve et concubinam (MGH Capit. I, Nr. 18, c. 37, S. 376) betrifft wohl nicht die Polygamie, wie die Verfasserin meint (S. 18), sondern allgemein die Konkubinatsverhältnisse. Der Schluss, „dass bis ins späte 8. Jahrhundert polygame Ehen rechtlich möglich waren“ (S. 19), ist durch die Rechtsquellen m. E. nicht gedeckt. Damit wird die Folgerung, welche die Verfasserin daraus zieht: „Chalpaida konnte somit zu ihrer Zeit durchaus eine rechtmäßige Ehefrau Pippins sein“ (S. 19), fragwürdig. So bleibt allein der uxor‑Titel im Liber Historiae Francorum und in der Fortsetzung des sog. Fredegar übrig, um das Verhältnis zwischen Pippin und Chalpaida als rechtmäßige Ehe zu kennzeichnen, denn weder die Taufe Karls durch Bischof Rigobert von Reims (S. 21f.) noch die Namengebung (S. 32f.), noch das Geburtsdatum (S. 30‑32) und die Dauer des Verhältnisses, das die Verfasserin auf die Zeit von ca. 685 bis 701 berechnet (S. 25‑27), sagen etwas über die Legitimität seiner Geburt aus. Zu erwähnen ist, dass etwa Roger Collins in dem erwähnten Sammelband zu Karl Martell (S. 235) diesen uxor‑Titel im Gegensatz zu W. Joch nicht als neutrale zeitgenössische Bezeichnung, sondern als Versuch sieht, Pippins Beziehung zu Chalpaida zu legitimieren. Über Chalpaidas Herkunft, insbesondere ihren Verwandtenkreis, ist trotz der vielen Hypothesen, die in der Forschung angestellt worden sind, nichts Sicheres auszumachen. Dies stellt die Verfasserin mit Recht fest und begründet es im Exkurs I (S. 130‑145) über die angebliche Verwandtschaft mit dem domesticus Dodo, dem Mörder des Bischofs Lambert von Maastricht, gegen R. A. Gerberdings Versuch, Chalpaida mit dieser Familie und mit dem Lütticher Maasraum zu verbinden.

In den Kapiteln über die drei Erbteilungen Pippins (um 700, 708 und April 714) (S. 34‑76) präzisiert W. Joch die Kenntnisse über die Eheverbindungen, die Erbteile und die Amtsbereiche der Pippin‑Söhne Drogo, Grimoald sowie Karl und verwendet viel Mühe darauf, Karls erste Gemahlin Chrodtrud - ihr Name ist nur aus dem Vermerk ihres Todesjahres 725 in den frühkarolingischen Annalen und aus einem Eintrag des Reichenauer Verbrüderungsbuches zu erschließen - der Familie der Widonen zuzuordnen (S. 52‑61). Bei der ersten Erbteilung um 700 erhielten Drogo und Grimoald Amtsbezirke und wurden an Pippins Klosterpolitik beteiligt. „Karl hingegen wurde von jeglicher Teilhabe an der Herrschaft ausgeschlossen. Dieser Ausschluss, der jetzt noch mit seinem geringen Alter - er war bei der ersten Erbregelung noch minderjährig - begründet werden konnte, sollte jedoch nach Pippins Willen auch für die Zukunft bestehen bleiben“ (S. 63). Dieses Ergebnis überrascht, denn es steht im Widerspruch zur These von der Rechtmäßigkeit der Eheverbindung mit Chalpaida. Auch bei den Erbregelungen von 708 und 714 wurde Karl von der Herrschaft ausgeschlossen, diese den legitimen Söhnen Drogos bzw. dem einzigen illegitimen Sohn Grimoalds, Theudoald, vorbehalten. Dieser Theudoald wurde, obwohl noch minderjährig oder ca. 715 gerade erst mündig, auf Pippins Geheiß von den Großen zum neustrischen Hausmeister erhoben, versagte aber in den Kämpfen mit den Neustriern (715) und soll nach den Annales Mettenses bald darauf gestorben sein. W. Joch entwertet diese, von der Forschung meist übernommene Nachricht, als tendenziös. Wie R. Collins (a. a. O., S. 231f.) bezieht sie das in einer 17 Zeugen umfassenden Liste an neunter Stelle erwähnte Signum eines Thiedoldi, nepotis ipsius, in einer Urkunde Karl Martells vom 1. Jan. 723 auf Karls Neffen. Um dies zu begründen, geht sie von der Annahme aus, die Zeugenliste sei bei den Abschriften des 11. bzw. 12. Jahrhunderts durcheinandergeraten (S. 96f.). Beweisen läst sich das nicht, und so muss diese Identifizierung offen bleiben. Das gilt letztlich auch für die Zuschreibung der Annalennotiz zum Jahre 741: Karolus mortuus est Idibus Octobr. et Theodoaldus (Teudaldus, Theobaldus) interfectus est (S. 97 mit Anm. 548) zu Karls Neffen Theudoald, denn der 741 verstorbene Namensträger ist nicht näher zu identifizieren.

Theudoald, wenn er denn tatsächlich so lange gelebt hat, ist für W. Joch ein hervorragendes Beispiel für jenes gute Verhältnis, das Karl Martell zu seinen Neffen und schließlich auch zu den Verwandten Plectruds entwickelt hatte. Um diese positiven Beziehungen aufzudecken und den raschen Ausgleich zu erklären, muss die Verfasserin häufig zu gewagten Mutmaßungen schreiten, warum die Quellen das eine berichten, das andere verschweigen oder verfälschen (vgl. z. B. S. 92, 104, 111f., 115, 135), bzw. auf genealogische Rekonstruktionen von Verwandtenkreisen zurückgreifen, die nicht gesichert sind. Das macht einzelne Szenarien wie z. B. jenes der Gefangennahme der Söhne Drogos durch Raganfred in Angers sehr hypothetisch (S. 110‑116); ein Szenario, das W. Joch der gängigen Forschungsmeinung entgegenstellt, die von einer Gefangennahme und sogar Ermordung der Neffen durch Karl Martell ausgeht und die ebensowenig begründet ist. Als Fazit ihrer Untersuchung des Verhaltens Karl Martells zu seinen Verwandten und zum Verwandtenkreis Plectruds hält die Verfasserin fest, dass Feindschaft nur zwischen Karl und Plectrud herrschte, dass Karl Martell die Verwandten schnell auf seine Seite zog und diese ihn im Gegenzug unterstützten und seinen Aufstieg förderten (S. 121), ein Ergebnis, das zweifellos zu einer Revision des Bildes von dem Machtmenschen Karl Martell führt. Auch in bezug auf die Ereignisgeschichte der Zeit der Sukzessionskrise kann W. Joch vieles korrigieren, das hier im einzelnen nicht referiert werden kann. Auf jeden Fall bildet ihre Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einer Neubewertung des Aufstiegs Karl Martells.

 

Zürich                                                                                                                  Reinhold Kaiser