Demel,
Walter, Europäische Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ständische
Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel
(1689/1700-1789/1800). Kohlhammer, Stuttgart 2000. 300 S.
An allgemein- wie spezialhistorischen Darstellungen zum 18. Jahrhundert mangelt es, wie allein schon die dem Buch beigegebene Literaturauswahl ausweist, gemeinhin nicht. Der Verfasser fügt der also schon reichlich vorhandenen Literatur eine Arbeit hinzu, die gewiß nicht den Anspruch erheben kann, eine Lücke wissenschaftlicher Erkenntnis zu schließen, wohl aber den, eine handliche Gesamtschau europäischer Geschichte des 18. Jahrhunderts zu versuchen. In diesem Sinne nennt Demel selbst sein Buch eine „Entwurfsskizze“, ein „Experiment“ (S. 11). Es eignet sich folglich weder als Lehrbuch, als das es zweifellos auch nicht gedacht ist, noch als Quelle rascher sachlicher Information. Vielmehr erwartet den Leser eine eher unterhaltsame, aber nichtsdestoweniger lehrreiche Lektüre.
Die
Materialfülle, der Demel sich gegenüber sah, gestattete weder eine Darstellung
der europäischen Geschichte im Sinne einer „Addition von Nationalgeschichten“
(S. 11) noch ein chronologisch getreues Abbild auch nur der wichtigsten
Ereignisse und Entwicklungslinien im europäischen Maßstab. Statt dessen kam es
ihm darauf an, „die europäischen Gemeinsamkeiten und die internationale
Kommunikation (im politischen, wirtschaftlichen ebenso wie im kulturellen
Bereich) herauszuarbeiten“ (S. 9). Obgleich Demel den naheliegenden Verdacht,
er wolle auf diese Weise „gegenwärtige Tendenzen europäischer Integration
historisch legitimieren“ (S. 9), sachlich begründet zurückweist, ist zumindest
die Vermutung, daß das Buch verlagsseitig dieser Intention seine Entstehung
verdankt, nicht ganz abwegig.
Die Arbeit,
aufgelockert durch 11 Abbildungen zeitgenössischer Gemälde, Kupferstiche und
Zeichnungen, 5 statistische Tabellen und zwei politische Karten, ist in 5
Kapitel gegliedert, von denen das erste „Die Menschen und ihre Umwelt“
behandelt (S. 19ff.). Von einigen einleitenden Bemerkungen über den Kampf des
Menschen gegen die Natur abgesehen, findet hier der im Untertitel des Buches
thematisch ausgewiesene beschleunigte Wandel der ständischen Gesellschaft seine
schwerpunktmäßige Darlegung. Ausgehend von der demographischen Entwicklung im
18. Jahrhundert, in dessen Verlauf die (geschätzte) Einwohnerzahl Europas sich
nahezu verdoppelte, behandelt Demel die Formen des Zusammenlebens der Menschen
(Geschlechterbeziehungen, Familienstrukturen, herrschaftliche und
genossenschaftliche Bindungen), vor allem aber die Strukturen und
Verflechtungen der ständischen Gesellschaft. Als Grundlage dienen ihm hier wie
generell die Verhältnisse in Mittel- und Westeuropa als dem „’Kernraum’ ...,
der politisch, wirtschaftlich und kulturell auf den übrigen Kontinent
ausstrahlte“ (S. 10). Im Ergebnis glaubt er so viele Gemeinsamkeiten in den
sozialen Strukturen ausgemacht zu haben, daß sich „von einer europäischen
Gesellschaft ... sprechen läßt“ (S. 43). Von der „beachtliche(n) Mobilität ...
sowohl im Sinne sozialen Auf- und Abstiegs ..., als auch im Sinne
geographischer ... Mobilität“ dieser Gesellschaft handelt der Abschnitt
„Faktoren gesellschaftlicher Dynamik“ (S. 65ff.). Die von D. ins Feld geführte
geographische Mobilität, Urbanisierung und Städtewachstum vermögen freilich die
für das 18. Jahrhundert zu beobachtende Auflösung ständischer Strukturen, die
sich im gesellschaftlichen Aufstieg des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, in
der „Verbürgerlichung“ von Teilen des Adels und in der beschleunigt
anwachsenden Zahl von Angehörigen städtischer und ländlicher Unterschichten
äußerte, nicht hinreichend ursächlich zu erklären.
Den
ökonomischen Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels wendet Demel sich im 2.
Kapitel („Kommunikations- und Wirtschaftsbeziehungen“, S. 85ff.) zu. Anhand von
Beispielen aus (fast) allen europäischen Ländern behandelt er
Entwicklungstrends der dominierenden volkswirtschaftlichen Bereiche (Land- und
Forstwirtschaft, Fischerei, gewerbliche Wirtschaft, Verkehr, Post und Handel).
Dabei wendet er sich gegen die inflationäre Verwendung des Revolutionsbegriffs
zur Kennzeichnung technisch bedingter Fortschritte in diesen Bereichen und
spricht statt dessen von „einigen ungeheuer dynamischen Entwicklungen“, die
zumindest regional einsetzten und teilweise europaweite Bedeutung erlangten. So
sorgten der Ausbau der Verkehrs- und Postverbindungen und das Wachstum des
Handels dafür, daß „Europa ökonomisch im 18. Jahrhundert stärker zusammenwuchs“
(S. 112), wenngleich die in den meisten europäischen Staaten praktizierte
merkantilistische Handelspolitik dieser Tendenz Grenzen setzte. Mit einem
knappen Exkurs über die zeitgenössischen Wirtschaftslehren des
Merkantilismus/Kameralismus und deren Überwindung durch Adam Smith schließt
dieses Kapitel ab, freilich nicht ohne eine dem Anliegen des Buches
entsprechende Sentenz: Die deutschsprachige Übersetzung von Smiths „Wealth of
Nations“ und ihr akademischer Gebrauch an deutschen Universitäten gelten Demel
als „symptomatisch für die kulturelle Einheitlichkeit Europas“ (S. 116).
Das 3.
Kapitel ist „Europa als Kulturraum“ gewidmet (S. 117ff.). Hier dient als
Einstieg der Hinweis auf den die europäischen Länder verbindenden
„literarischen Kanon“, bestehend aus christlichen und antiken Schriften,
Reiseberichten und Aufklärungsliteratur, einerseits, und ein auf dem
rezipierten römischen Recht beruhendes, mehr oder weniger einheitliches
„Rechtsverständnis“ andererseits. Trotz des - wenngleich verhalten -
vorankommenden Alphabetisierungsprozesses blieb die Masse der Bevölkerung vom
geistig-kulturellen Fortschritt des 18. Jahrhunderts ausgeschlossen.
Fremdsprachliche Kenntnisse und Briefkultur beschränkten sich ebenso wie die
Wirkung von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften auf die Welt der „Gebildeten“,
worunter Demel jene kleine Minderheit erfaßt, die „ein relatives Monopol auf
den Zugang zu schriftlichen Informationen besaßen“ (S. 118) und deren Anteil er
für Deutschland um 1800 auf 1 % der erwachsenen Bevölkerung schätzt. Unter
diesen Umständen blieben auch die als „neue Formen sozialer Organisationen“
entstehenden vielfältigen Sozietäten (Lesegesellschaften, Clubs, Salons,
Freimaurerlogen, wissenschaftliche Akademien), in denen Demel „Symptome für die
einsetzende Selbstorganisation einer (staats-)’bürgerlichen’ Gesellschaft“
sieht (S. 133), den Bildungseliten vorbehalten. Diese Sozietätsbewegung und die
im Aufschwung befindliche Presse waren es, die der Aufklärung als einer der
wichtigsten geistigen Strömungen des 18. Jahrhunderts ihre „organisatorischen
Konturen“ verliehen. Einen europaweiten Streifzug durch die Welt der
Aufklärung, ihre Erscheinungsformen und Wirkungen, unternimmt Demel unter dem
Titel „Die Vielfalt des geistigen Lebens“ (S. 133ff.). Bei aller notwendigen
Verknappung des materialintensiven Themas findet er zu treffenden
Schwerpunkten, unter denen die von der Aufklärung ausgehende Bildungsbewegung
mit ihren Auswirkungen auf Elementarschulen wie Universitäten, aber auch die
Aufklärung als politische Emanzipationsbewegung hervorgehoben seien.
Innenpolitische
Veränderungen als staatliche Reaktion auf den infolge „gesellschaftlicher
Dynamisierung und Polarisierung“ (S. 170) wachsenden Anpassungsdruck sind
Gegenstand des 4. Kapitels („Reformfähigkeit und Reformunfähigkeit der
europäischen Staaten“, S. 169ff.). Anhand der wichtigsten Tätigkeitsfelder des
absolutistischen Staates - Militärwesen, Verwaltung, Rechtspflege,
Kirchenpolitik, Bildungswesen, Armenpflege und Wirtschaftsförderung (die als „traditionelle“
staatliche Aufgabe zu bezeichnen, freilich bedenklich erscheint) - ,weist Demel
nach, daß „der Staat zunehmend zur dominanten Institution wurde“ (S. 200).
Leider bleibt dabei vieles thesenhaft, so z. B. der durch keinerlei Beispiele
untersetzte „Trend zur Unabhängigkeit der Justiz“ (S. 193). Überhaupt zeigt
dieses Kapitel deutlich, daß der Versuch, europäische Geschichte auf engstem
Raum zu komprimieren, an Grenzen stößt. Die scheinbar wahllose Aufzählung
heterogener staatlicher Organisationsformen läßt einen europäischen Vergleich,
geschweige denn die Aufdeckung europäischer Gemeinsamkeiten kaum zu, wo es
Demel darum geht, das 18. Jahrhundert als eine „Epoche“ zu kennzeichnen, die
„nach modernen staatlichen Strukturen suchte“ (S. 187).
International
vollzog sich im Laufe des 18. Jahrhunderts der Aufstieg Frankreichs,
Österreichs, Großbritanniens, Rußlands und schließlich Preußens zu europäischen
Großmächten („Pentarchie“), die „über ihr engeres Staatsgebiet hinaus einen
größeren Teil Europas politisch weitgehend zu kontrollieren vermochten“ (S.
217). Das Streben, mittels Diplomatie, Völkerrecht und Krieg zwischen ihnen ein
Mächtegleichgewicht herzustellen und zu erhalten, war Inhalt der europäischen
Außenpolitik des 18. Jahrhunderts. Unter diesen Prämissen schildert Demel im 5.
Kapitel („Das europäische Staatensystem“, S. 217ff.) Ursachen, Verlauf und
Ergebnisse der - nur durch wenige Jahre „unsicherer Stabilität“ unterbrochenen
- großen kriegerischen Konflikte dieses Jahrhunderts, die sich „einerseits ...
auf die Osthälfte des Kontinents, andererseits auf die Grenzen europäischer
Herrschaft in Übersee (konzentrierten)“ (S. 273).
Mit einer
kurzen Betrachtung über die beginnende Nationsbildung in den europäischen
Staaten („Zwischen Kosmopolitismus und Landespatriotismus: Die Bildung
nationaler Loyalitäten“, S. 275ff.) klingt das Buch aus.
Sein
unbestreitbarer Vorzug ist der gänzlich unverkrampfte, souveräne Umgang mit dem
nicht anders als gewaltig zu nennenden Stoff, der Demel als einen exzellenten
Kenner der europäischen Geschichte ausweist. Dennoch bleiben Zweifel, welchem
Leserkreis die Lektüre des Buches zu empfehlen ist; am ehesten wohl dem
historisch allgemein interessierten Leser (keinesfalls aber historischen
Laien), dem es einen lohnenswerten Einblick in das 18. Jahrhundert bietet. Der
Spezialhistoriker dagegen wird es, nicht nur, weil ein wissenschaftlicher
Apparat fehlt, eher unbefriedigt aus der Hand legen.
D.
räumt ein, „jeder Spezialist (werde) bei
der einen oder anderen Aussage mühelos Ungenauigkeiten oder gar Fehler ...
entdecken“ (S. 11). An dieser Stelle sei
zumindest auf einen, das
Sprachempfinden des Rechtshistorikers verletzenden Lapsus hingewiesen:
Gegenstand des akademischen Unterrichts in der Jurisprudenz war nicht der, sondern
das Corpus juris civilis.
Halle an der Saale Lieselotte Jelowik