I. Welch ein Jubilar, der sich rühmen
kann, bereits zu dem eher unüblichen frühen Zeitpunkt eines 50. Geburtstages
mit nicht weniger als vier Festschriften bedacht zu werden! Die vier dem
Bundesgerichtshof zu diesem Jubiläum zugedachten Festgaben variieren in
Autorenkreis und thematischer Ausrichtung: Richter und Bundesanwälte am BGH
erörtern in ihrer Schrift Schwerpunktprobleme der jüngeren BGH-Rechtsprechung (Geiß/Nehm/Brandner/Hagen (Hrsg.),
50 Jahre Bundesgerichtshof: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens
von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim
Bundesgerichtshof, Heymanns-Verlag, Köln). Eine weitere - in ihrem Umfang
bislang beispiellose - Festgabe ist aus dem Kreis der Wissenschaft beigesteuert
worden. Das vierbändige Werk (Canaris u.
a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft,
C. H. Beck-Verlag, München) befaßt sich mit einer fast unüberschaubaren Fülle
von Rechtsproblemen und legt einen Schwerpunkt auf die Nachzeichnung des
Einflusses des BGH bei der Entwicklung einzelner Rechtsgebiete. Mit einem
gewissen Augenzwinkern haben sich ferner die wissenschaftlichen Mitarbeiter des
BGH mit einer eigenen Festschrift beteiligt (Herz/Freymann/Vatter (Hrsg.), HIWI 2000,
Alma-Mater-Verlag, Saarbrücken), die nach eigenem Bekunden keinen
wissenschaftlichen Anspruch hat, sondern einen Einblick in die Arbeit und den
Alltag am höchsten deutschen Zivil- und Strafgericht vermitteln soll.
II. 1. Die hier zu besprechende Festgabe Fortitudo Temperantia ist der Beitrag
der Anwaltschaft, die es sich zu Recht nicht nehmen lassen wollte, ein eigenes
Werk aus Anlaß des Jubiläums des BGH beizusteuern. Herausgegeben vom Verein der
beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte, befaßt sich das Werk ausschließlich
mit Fragen der gerne und durchaus zutreffend als „klein, aber fein“
bezeichneten Anwaltschaft beim BGH. Der Vereinsvorsitzende Gross weist im Geleitwort des Herausgebers darauf hin, daß die Rechtsanwälte
beim Bundesgerichtshof nicht der Versuchung erlegen sind, mit eigener Feder den
Platz zu bestimmen, den sie nach einem halben Jahrhundert heute einnehmen.
Konsequent verzichtet die Festgabe auf eine aktuelle Standortbestimmung und
begnügt sich bewußt mit einer ausschließlich historischen Ausrichtung. Der
wissenschaftlich interessierte Leser findet daher in der Festschrift einen
reichen Fundus an rechtshistorischen Beiträgen. Vergeblich sucht er dagegen
eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der durchaus
nicht unumstrittenen gesetzlichen Regelungen zur Rechtsanwaltschaft beim
Bundesgerichtshof in den §§ 162ff. BRAO. Im Zuge der Aufhebung der
Singularzulassung durch das Bundesverfassungsgericht ist die Zukunft der
BGH-Anwaltschaft erneut Spekulationen ausgesetzt. Auch wenn der Berufsrechtler
dies bedauern wird, so erscheint die Selbstbeschränkung doch weise; vor dem
Hintergrund der Herausgeberschaft und insbesondere des Anlasses wäre eine
aktuelle Auseinandersetzung etwa mit der nach wie vor umstrittenen Frage der
Verfassungskonformität des Verfahrens der Wahl von BGH-Anwälten und
insbesondere der Regelung des § 178 Abs. 2 BRAO problematisch gewesen. Eine
Ausstrahlung auf diese Diskussion haben die historischen Beiträge durchaus, wenn
auch in subtiler Form.
2. So gibt sich die Festschrift damit
zufrieden, die Sonderstellung, die bereits früher die Rechtsanwaltschaft beim
Reichsgericht und heute die Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof eingenommen
haben, historisch nachzuzeichnen. Charakteristisch für diese Sonderstellung
ist, daß das Prinzip der freien Advokatur für die Zulassung zur
Rechtsanwaltschaft bei dem obersten Zivilgericht (Bundesgerichtshof und
Reichsgericht) durchbrochen ist. Nicht jeder bestimmte objektive oder
subjektive Kriterien erfüllende Prätendent hat einen Anspruch auf Zulassung.
Während zu Zeiten des Reichsgerichts die Entscheidung im freien Ermessen des
Präsidiums des Reichsgerichts stand, erfolgt die Zulassung zum BGH heutzutage
aufgrund einer Benennung durch einen Wahlausschuß, dem auch die Entscheidung
über die angemessene Zahl der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof übertragen
ist (§ 168 Abs. 2 BRAO). Die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte spiegelt diese
Zulassungspraxis wider: Sowohl bei Gründung des Reichsgerichts als auch im Jahr
seines 25jährigen Jubiläums 1904 waren lediglich 21 Anwälte zugelassen, bei der
50-Jahr-Feier 1929 22 Rechtanwälte. Beim Bundesgerichtshof sind gegenwärtig –
nach einem „Zulassungsschub“ im Juni 2000 – 35 Anwälte tätig. Die Zahl der insgesamt
zugelassenen Anwälte in den 50 Jahren der Existenz des Bundesgerichtshofs
beträgt daher summa summarum nur 66.
III. Daß
das rezensierte Werk keine Festschrift im üblichen Sinne ist, zeigt ein Blick
auf die Auswahl der aufgenommenen Beiträge. Es handelt sich fast durchgängig um
Nachdrucke von zwischen 1914 und 1996 in Zeitschriften und anderen
Festschriften bereits veröffentlichten Beiträgen, die aufgrund ihrer
thematischen Befassung mit der Anwaltschaft beim BGH in der Festgabe
zusammengefaßt worden sind. Aufgrund dieses Auswahlprinzips enthält das Werk
einen wahren Schatz an interessanten und zum Teil höchst unterhaltsamen
Abhandlungen aus neun Jahrzehnten.
1. An die
Spitze gestellt ist ein bereits in der Juristischen Wochenschrift des Jahres
1914 veröffentlichter Beitrag des damaligen Rechtsanwalts am Reichsgericht Julius Haber, in dem dieser
vehement die Durchbrechung des Prinzips der freien Advokatur durch die
Schaffung einer besonderen Anwaltschaft beim Reichsgericht verteidigt –
Ausführungen, die im Lichte der nicht verstummen wollenden Auseinandersetzungen
zu diesem Konzept eine nach wie vor gewinnbringende Lektüre sind. Zeitlich noch
weiter zurück liegt die Erstveröffentlichung des sich anschließenden Beitrages
eines Kollegen von Haber, Johannes
Boyens, aus dem Jahr 1904. In sehr bildlich/anschaulicher Sprache
werden hier vor allem die bis zu diesem Zeitpunkt am Reichsgericht tätig
gewordenen Anwaltskollegen vorstellt. Eine ebenso vergnügliche und durch eine
lebhafte Sprache gewürzte Skizze der Protagonisten der RG-Anwaltschaft zeichnet
der aus Anlaß des 50-jährigen Jubiläums des Reichsgerichts 1929 verfaßte
Beitrag von Axhausens,
der den ersten Abschnitt der Festgabe mit Beiträgen zur Anwaltschaft am
Reichsgericht beschließt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über die
Reform der Zivilprozessordnung und insbesondere des Rechtsmittelrechts, bietet
die Schilderung der diversen Änderungen des Revisionsrechts zu Beginn des
Jahrhunderts und ihrer Auswirkungen auf die Tätigkeit der Anwaltschaft eine
gewinnbringende Lektüre.
2. In dem
sich anschließenden Abschnitt über die Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof
finden sich neben vor allem rechtshistorisch angelegten Beiträgen zur
Entwicklung der Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof von Schneider und von Stackelberg
Beiträge, die in erster Linie den Prozessualisten ansprechen werden. Sowohl der
(weitere) Aufsatz von Schneider „Einfluß und Aufgaben der Anwaltschaft
beim Bundesgerichtshof“ als auch die Abhandlung von Philipp Möhring und
Rudolf Nirk zur
mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz sind lesenswerte Nachdrucke aus
der Festschrift „25 Jahre Bundesgerichtshof“ aus dem Jahr 1975. Während Schneider anschaulich die Arbeitsweise und Überlegungen des Revisionsanwalts
im Zuge der Bearbeitung einer Revisionssache nachzeichnet, befassen sich Möhring/Nirk mit der Grundlagenfrage der besonderen Bedeutung des Mündlichkeitsprinzips
in der Revisionsinstanz, in der es fast ausnahmslos um die Beurteilung von
Rechtsfragen und nicht mehr um die Tatsachenfindung geht. Sie begründen die
besondere Bedeutung der Mündlichkeit gerade vor der obersten zivilgerichtlichen
Instanz mit deren Aufgabe einer schöpferischen
Rechtsfindung. Das thematisch „heiße Eisen“ der Zulassung als Rechtsanwalt beim
Bundesgerichtshof wird nicht völlig ausgespart. Das Thema wird in der Festgabe
durch den Abdruck eines Beitrags von Schimansky aus der Festschrift für Walter Odersky
aus dem Jahre 1996 aufgegriffen. Zu einem heftigen Schlagabtausch über diese
Thematik war es kurz vor der Abfassung des Beitrags im Jahr 1994 gekommen, als
sich mehrere Anwälte aus dem Kreis der BGH-Anwaltschaft publizistische
Scharmützel mit prominenten Berufsrechtlern und Kritikern des gegenwärtigen
Systems der Durchbrechung der freien Advokatur beim BGH lieferten. Schimansky, nicht zum Kreis der
BGH-Anwaltschaft gehörend, spricht sich, wie viele Richter beim BGH, für die
Beibehaltung der BGH-Anwaltschaft heutiger Prägung aus. Die sich anschließenden
Beiträge des zweiten Hauptabschnitts der Festgabe zählen eher zur Kategorie der
kurzweiligen „leichten Lektüre“, so etwa Porträts des Rechtsanwalts am
Reichsgericht und Richters am Bundesgerichtshof Georg Benkard durch
Hans Bock und Philipp Möhrings durch
Käthe Nicolini. Aus der
Feder des gegenwärtigen Vorsitzenden des Vereins der Rechtsanwälte beim
Bundesgerichtshof, Norbert Gross,
stammt ein unterhaltsamer Beitrag zu den Hintergründen der roten Robe der
BGH-Anwälte. Abgerundet wird dieser Abschnitt mit einem journalistischen
Aufsatz aus der Süddeutschen Zeitung des Jahres 1989 von Helmut Kerscher, der vergnügliche
Anekdoten aus dem Alltag der BGH-Anwälte enthält.
3. Der
dritte Hauptabschnitt, betitelt „Die europäischen Vettern“, befaßt sich mit den
Anwaltschaften bei den obersten Gerichtshöfen einiger europäischer Nachbarstaaten.
Die Beiträge sind von prominenten Anwälten aus Frankreich, Belgien, Großbritannien,
den Niederlangen und Italien verfaßt (Jean
Barthélemy, Thomas Delahaye, Jonathan Hirst, Sicco v. Langeveld, Hanns Egger).
Sie zeichnen, mit Ausnahme jenes aus England, der mehr einen generellen
Überblick über den Berufsstand des barristers
gibt, ein Bild ganz unterschiedlicher Konzepte der Anwaltschaft beim obersten
Gerichtshof des jeweiligen Landes. Frankreich und Belgien kennen eine durch
Gesetz geschaffene, exklusive Anwaltschaft beim Cour de Cassation und beim Conseil d’Etat, während sich in
den Niederlanden eine kleine spezialisierte Anwaltschaft als „Kassationsbalie“
beim Hoge Raad herausgebildet
hat. Egger beschreibt das italienische
Gegenkonzept, aufgrund dessen beim italienischen Kassationshof annähernd 30.000
avvocati postulationsfähig sind –
nicht ohne die hiermit verbunden Probleme deutlich werden zu lassen.
4. Dem
internationalen Teil der Festgabe schließt sich ein mehr als 150seitiger Anhang
an, in dem sich viele interessante und für wissenschaftliche Recherchen hilfreiche
Informationen finden. So sind die Materialien zur Rechtsanwaltsordnung von 1878
in den für die Thematik relevanten Passagen abgedruckt. Enthalten sind ferner
Wiedergaben der Korrespondenz zur Einführung der Amtstracht der Rechtsanwälte
am Reichsgericht aus dem Jahr 1879 nebst farbigen Zeichnungen dieser Amtstrachten.
Den Schluß des Werkes bildet eine Liste sämtlicher Rechtsanwälte am Reichsgericht
und am Bundesgerichtshof in der Zeit von 1879 bis zum Jahr 2000.
IV. Die
Festgabe Fortitudo Temperantia – das
dem Hauptportal des Erbgroßherzoglichen Palais in Karlsruhe entlehnte Motto der
BGH-Anwaltschaft - ist aufgrund ihrer Konzeption vor allem ein interessanter
Lesestoff, der keinen Anspruch auf eine erschöpfende oder gar thematisch
allumfassende Abhandlung erhebt. Sie bietet aufgrund der reichhaltigen historischen
Informationen, die in ihr aufgespürt werden können, zugleich sehr wertvolles
Material für die aktuelle Diskussion über die Anwaltschaft beim BGH. Ohne
Verständnis der Herkunft keine Zukunft! Möge die Festgabe dazu beitragen, dass
die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur
Verfassungswidrigkeit der Singularzulassung aufgeflammte Diskussion um die Zukunft
der BGH-Anwaltschaft mit Sachverstand und Weitblick geführt wird.
Köln Martin
Henssler