HenneHundert20010525 Nr. 10331 ZRG 119 (2002) 56

 

 

Hundert (100) Jahre Allgemeines Baugesetz Sachsen, hg. v. Bauer, Hartmut/Breuer, Rüdiger/Degenhart, Christoph/Oldiges, Martin. Boorberg, Dresden 2000. X, 669 S.

 

Die Bedeutung Sachsens für die deutsche Rechtsgeschichte im späten 19. Jahrhundert trat in den letzten Jahren, parallel zur Modernisierung der früheren Landesgeschichte als jetzige Regionalgeschichte, vermehrt in den Vordergrund. Das seinerzeit einflußreiche sächsische Bürgerliche Gesetzbuch ist kürzlich umfassend gewürdigt worden,[1] und seit 1989 erfahren auch das Leipziger Reichsgericht und sein Vorgängergericht, das Bundesoberhandelsgericht/Reichsoberhandelsgericht, eine vermehrte Aufmerksamkeit.[2] Allerdings sind umfassendere neuere Untersuchungen zur Geschichte der Juristischen Fakultät in Leipzig, im späten 19. Jahrhundert eine der wichtigsten in Deutschland, noch eher selten.

Da mit „Fischers Zeitschrift“ eine der „überregional ausstrahlenden“[3] verwaltungsrechtlichen Zeitschriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus Sachsen kam und Sachsen immerhin gemäß Otto Mayer der „Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“ war,[4] ist es nicht erstaunlich, daß das sächsische „Allgemeine Baugesetz“, vor 100 Jahren entstanden, noch heute in der baurechtlichen Literatur als maßstabgebend gilt.[5] Diesem Gesetz (im folgenden: SächsABG) ist jetzt ein Sammelband gewidmet, dessen rechtshistorischen Teil vor allem Leipziger und Dresdner Öffentlichrechtler und Dresdner Rechtshistoriker gestaltet haben.

Erfreulich ist dabei, daß der geschichtliche Hintergrund nicht zur Einleitungshistorie für das geltende Baurecht dienen muß, sondern rund ein Dutzend Beiträge einzelne Aspekte der historischen Entwicklung beleuchten und somit auf rund 350 Seiten eine insgesamt geschlossene Darstellung zum sächsischen Baurecht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entsteht. Auch die vielbeschworene Interdisziplinarität wird fruchtbar gemacht, indem sich die Analysen von Juristen und Städtebauexperten ergänzen. Peter Badura konzentriert sich in seinem einleitenden kurzem Abriß zur sächsischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts auf die Politikgeschichte und die Normtexte und weist unter anderem darauf hin, daß die Einführung des Dreiklassenwahlrechts nach preußischem Vorbild 1896, also zeitlich parallel zum SächsABG, erfolgte. Dieter Wyduckel liefert eine konzise Zusammenfassung der damaligen Verwaltungsstrukturen, wobei im Hinblick auf das SächsABG besondere Beachtung verdient, daß seit der Mitte der 1870er Jahre „Reformwille und Reformbereitschaft in Staat und Verwaltung weitgehend erschöpft“ waren (S. 42). Damit übereinstimmend führte Sachsen 1900 als letztes der größeren deutschen Länder eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ein (Hinweise dazu im Beitrag von Martin Oldiges), allerdings zeitlich parallel mit dem SächsABG. Da die neue sächsische Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht nur den Individualrechtsschutz verbesserte, sondern zugleich eine stärker zentralisierte Kontrolle des kommunalen Verwaltungshandelns ermöglichte und das SächsABG ebenfalls in die Autonomie der lokalen Körperschaften eingriff, ist es etwas erstaulich, daß diese zeitliche und indirekt auch inhaltliche Parallelität im wesentlichen nur von Oldiges im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Nachbarschutz thematisiert wird.

Bei Christoph Jestaedts Zusammenstellung von Normfundstellen des sächsischen Verwaltungsrechts ist vor allem aufschlußreich, daß ein partikulares Polizeigesetz fehlt (S. 53) – das SächsABG war also nicht Teil einer allgemeinen großen Kodifikationswelle, sondern beruhte auf spezifischen Gegebenheiten. Dazu passend kann Rüdiger Breuer darlegen, warum am Ende des 19. Jahrhunderts gerade in Sachsen eine umfassende baurechtliche Kodifikation benötigt wurde: Erstens war als Folge der dort besonders intensiven industriellen Entwicklung die „siedlungsstrukturelle Verdichtung“ weiter fortgeschritten als in anderen Territorien, was u. a. in Beiträgen von Werner Pampel für Dresden und von Wolfgang Hocquél für Leipzig belegt wird. Zweitens boten nach Breuer die örtlichen Bauordnungen gegen die „eruptive gründerzeitliche Expansion“ (S. 233) kein taugliches Instrumentarium mehr (und ein Reichs-Wohnungsgesetz fehlte, worauf Gerhard Fehl in seinem abgewogenen stadtplanungsgeschichtlichen Beitrag hinweist). Und drittens engagierte sich gemäß Breuer die sächsische Administration (anders als die preußische) besonders stark im Städtebau und nahm dabei aktuelle Ideen der Stadplanung auf. Und doch war das sächsische Baugesetz – eine Parallele zu Wieackers schon sprichwörtlicher These über das Bürgerliche Gesetzbuch[6] drängt sich auf – nach Breuers Fazit „ein ‚später‘ Rechtsakt“ und eine „reife Frucht“ (S. 241), was zu dem erwähnten Hinweis von Wyduckel auf die schon 1870 erschöpfte Reformkraft genauso paßt wie zu der von Badura angesprochenen „späten“ und defensiven Einführung des Dreiklassenwahlrechts in Sachsen. Offen bleibt allerdings, ob sich mit Breuers Überlegungen Schaffarziks Hinweis (S. 348) vereinbaren läßt, daß die Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuchs „stimulierend“ für die Erstellung des sächsischen Allgemeinen Baugesetzes wirkte.

Von Breuer eher deskriptiv dargestellt, erfahren die Regelungsinhalte bei Franz-Joseph Peine eine detaillierte Analyse, wobei er am SächsABG vor allem die „Qualität eines Rahmengesetzes“ hervorhebt (S. 260), das eine relativ weitgehende Überwindung der bisherigen Rechtszersplitterung des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts erreichte (S. 256). Dieses Gesetz durchlief ohne Probleme das Gesetzgebungsverfahren, dessen einzelne Stufen bei Volker Krieg und in gewisser Doppelung auch bei einigen anderen Autoren geschildert werden; der Gesetzestext von 1900 ist zugänglich über eine Reproduktion der entsprechenden Ausgabe des sächsischen Gesetz- und Verordnungsblatts (S. 623ff.). In einem weiteren Beitrag geht Breuer dann auf die späteren Normtextänderungen ein und kann zeigen, wie die drei damals „konfligierende[n] Richtungen“ des Städtebaus dabei Einfluß gewannen. Außerdem zeigt Breuer an einigen Beispielen die Verwaltungs- und Justizpraxis anhand des SächsABG, so daß die Verbindung zu den in anderen Beiträgen geschilderten Stadtbildern von Dresden und Leipzig hergestellt ist. Oldiges kann dann darlegen, wie die Kombination von „neuem“ Verwaltungsgericht plus „neuer“ Gesamtkodifikation einen Modernisierungsschub im Vergleich insbesondere zum preußischen Oberverwaltungsgericht bewirkte und zu einem „hoch entwickelten Nachbarschutz“ führte (S. 326). Zwei Beiträge zu dogmatischen Einzelfragen schließen den rechtshistorischen Teil des Buches ab: Frank Wache widmet sich den sächsischen Normtexten zur Wasserversorgung und Entwässerung, wobei er bis in die Frühe Neuzeit zurückgreift, und Bert Schaffarzik gelingt es, anhand des hochspeziellen nachbarrechtlichen „Hammerschlags- und Leiterrechts“ das Verhältnis von öffentlichem und privatem Recht um 1900 zu beleuchten und darüber hinaus an die aktuelle Diskussion um die Unterscheidung dieser beiden Teilordnungen anzuknüpfen. In einem Epilog schildert Breuer schließlich, wie das SächsABG nach 1945 in einem „Gesetzestod auf Raten“ unterging (S. 301). Weitere 13 Beiträge widmen sich dann dem gegenwärtigen Baurecht in Sachsen.

Fazit: Ein gewichtiger Sammelband, in dem Rechtsgeschichte und geltendes Recht vom Umfang her und inhaltlich gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Damit liegt nicht nur ein wichtiger Beitrag zur sächsischen Rechtsgeschichte, sondern auch zur Geschichte des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts vor. Umbruchssituationen steigern, wie von den Herausgebern im Vorwort angesprochen, den Bedarf an rechtshistorisch fundierter Selbstvergewisserung. Der gut ausgestattete und reich illustrierte Band bietet dafür ein gutes Beispiel, dessen Benutzbarkeit lediglich durch das Fehlen eines Paragraphen- und Sachregisters etwas beeinträchtigt ist. Wer nach der Lektüre dieses Buches durch Leipzig oder Dresden schlendert und die dortige Baustruktur mit der von Berlin vergleicht, hat nicht nur handgreifliche Zeugnisse für die Bedeutung des sächsischen Allgemeinen Baugesetzes, sondern weiß nun auch um den Beitrag des Baurechts.

 

Frankfurt am Main                                                                                                    Thomas Henne



[1] Christian Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65, 1996 (Rezension durch Werner Schubert in ZRG Germ. Abt. 114 (1997), S. 628ff.).

[2] Z. B. Kai Müller, Der Hüter des Rechts. Die Stellung des Reichsgerichts im Deutschen Kaiserreich 1879-1918, 1997; Ursula Oehme (Hrsg.), Das Reichsgericht, Leipzig 1995; Thomas Henne, Richterliche Rechtsharmonisierung [...] analysiert am Beispiel des Oberhandelsgerichts, in: Andreas Thier u. a. (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren, 1999, S. 335ff.;  Axel Weiss, Die Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts in Strafsachen, 1997.

[3] Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, 1992, S. 312.

[4] Zit. bei Stolleis  S. 313.

[5] Michael Krautzberger, in:  Werner Ernst u. a., Baugesetzbuch, Bd. 1, Stand: 1.9.2000, Einleitung Rn. 26; Rüdiger Breuer, Zur Entstehungsgeschichte eines modernen Städtebaurechts in Deutschland, Die Verwaltung 1986, S. 305 (326) m. w. N.

[6] „Insbesondere das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 ist das spätgeborene Kind der Pandektenwissenschaft und der nationaldemokratischen, insoweit vor allem vom Liberalismus angeführten Bewegung seit 1848“ (Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher [...], 1953., S. 9).