Stolleis, Michael, Der lange
Abschied vom 19. Jahrhundert. Die Zäsur von 1914 aus rechtshistorischer
Perspektive (= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 150). De
Gruyter, Berlin 1997. 22 S.
Der vor der
Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltene Vortrag bietet nicht nur einen
souveränen Einblick in die Grundprobleme des 19. Jahrhunderts, sondern stellt
zugleich einen wichtigen Beitrag zu einer neuen Sichtweise auf dieses
Jahrhundert dar. Lange Zeit haben Historiker die Geschichte des 19.
Jahrhunderts ganz aus der Perspektive der großen Entwicklungsprozesse von den
traditionalen zu den modernen Strukturen betrachtet. In jüngster Zeit wird
dagegen der Mehrschichtigkeit im Erscheinungsbild dieses Jahrhunderts ein immer
größerer Stellenwert eingeräumt. Auch Stolleis betont
in seinem Vortrag die Vielfalt und Widersprüche des 19. Jahrhunderts, die
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die daraus erwachsenden Krisen. So
zeigt er, wie einerseits ständische Gesellschaftsstrukturen die heraufziehende
bürgerliche Welt noch überlagerten und letztere andererseits bereits wieder
durch das neue industrielle Massenzeitalter zu erodieren begann. Ähnlich
verhielt es sich bei dem Nebeneinander von vornationalen Reichen, dem
Durchbruch des Nationalismus und den gleichzeitig bereits deutlich werdenden
Tendenzen zu internationalistischen Strukturen einer neuen Weltgesellschaft.
Besonderes Gewicht legt der Verfasser schließlich auf die rechtshistorischen
Grundfragen. Zum einen diskutiert er den dualistischen Grundzug der deutschen
Verfassungswirklichkeit, die bis 1918 einerseits von den großen Fortschritten
zum Rechts- und Verwaltungsstaat und andererseits durch die Defizite im Bereich
von Parlamentarisierung und politischer Partizipation bestimmt blieb. Zum
anderen geht er den wichtigen, künftig noch breiter zu
untersuchenden Zusammenhängen von Industrialisierung und Rechtsentwicklung
nach. Der Blick in die verschiedenen Bereiche zeigt, daß das Jahr 1914 weder in
sozialer und ökonomischer Hinsicht noch unter rechts- und
verfassungsgeschichtlichen Aspekten „im hegelschen Sinne eine ´notwendige`
Zäsur“ darstellte. Dennoch wertet Stolleis den
Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die von ihm ausgehenden politischen wie
geistig-kulturellen Erschütterungen als einen Einschnitt, wie er kaum
einschneidender zu denken sei und an dem sich alle anderen „Zäsuren durch
Abstandsmessung von diesem Schicksalsjahr“ zu definieren hätten. Insgesamt
gesehen liegt hier ein außerordentlich anregender Problemaufriß vor, der die
weiteren Debatten sehr befruchten wird.
Jena Hans-Werner
Hahn