GschwendStübinger20010825 Nr. 10203 ZRG 119
(2002) 58
Stübinger, Stephan, Schuld, Strafrecht und
Geschichte. Die Entstehung der Schuldzurechnung in der deutschen
Strafrechtshistorie (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft
Alteuropas, Symposien und Synthesen 4).
Böhlau, Köln 2000. 460 S.
Stephan Stübingers 1999 von der
Juristischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am
Main abgenommene strafrechtshistorische Dissertation entstand im Rahmen des
DFG-Forschungsprojekts „Entstehung des öffentlichen Strafrechts“.
Die Studie versteht sich
als Beitrag zur, wie der Autor sein Fach nennt,
„Schuldstrafrechthistoriographiegeschichte“. Der auf diesem Gebiet bestehende
Forschungsbedarf wird aus dem am Schluss der Schrift präsentierten aktuellen
Forschungsstand ersichtlich, konzentrieren sich doch die Ausführungen dazu im
Wesentlichen auf die Darstellung der von Viktor Achter, Karl
Siegfried Bader und Ekkehard Kaufmann in den 1950er Jahren geführten
Debatte um „die Geburt der Strafe“, Erfolgshaftung und die Schuld als
konstitutives Moment des Strafbegriffs.
Stübinger macht es
sich zur Aufgabe, „die im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Ansätze zur
geschichtlichen Entwicklung des Schuldstrafrechts zu rekonstruieren.“ Das
Verhältnis von Strafrecht und Geschichte soll am Beispiel der
„Geschichtsschreibung zur ‚Entstehung‘ der strafrechtlichen Schuldzurechnung“
beleuchtet werden. Dieser Zielsetzung folgt denn auch der Aufbau der Arbeit:
Die beiden miteinander inhaltlich allerdings nur teilweise verknüpften
Hauptteile stehen unter den fundamentalen Titeln „Strafrecht und Geschichte“
und „Schuld und Strafrechtsgeschichte“. Stübinger
möchte „die auch historisch konstitutive Funktion der Verbindung von
Schuldzurechnung und öffentlichem Strafrecht“ wie auch „die dadurch
entstehenden Probleme der Strafrechtsgeschichtsschreibung“ aufzeigen. Dies
beabsichtigt er, anhand einer Analyse von Texten ausgewählter Produzenten der
älteren (Straf)Rechtsgeschichtsschreibung zu bewerkstelligen. Ganz bewusst
verzichtet der Autor – ein nicht unbedeutender Teil der historisch
interessierten Leserschaft wird dies bedauern – auf die Berücksichtigung des
biographischen, „realhistorischen“ und politischen Hintergrunds dieser Akteure
und deren Wirkens, angeblich um nicht „in eine triste Schwarz-Weiß-Malerei“ zu
geraten. Stübinger fügt seine Untersuchung
bereichernd in den Kontext der aktuellen Historismusforschung. Tatsächlich
kommt man nicht umhin, für die Strafrechtsgeschichte mehr als für die
Privatrechtsgeschichte diesbezüglich ein Forschungsdesiderat zu erkennen.
Stübinger stellt fest,
dass „der überdisziplinäre Aufschwung des historischen Denkens im 19.
Jahrhundert“ von der Strafrechtswissenschaft kaum mitgetragen wurde. Er erklärt
dieses Phänomen einerseits mit der sich am Überzeitlichen orientierenden
naturrechtlichen Tradition der damaligen Strafrechtswissenschaft, andererseits
führt er das strafrechtshistorische Desinteresse jedenfalls zu Beginn des 19.
Jahrhunderts auf die in die damalige Gegenwart hineinreichende faktische
Kontinuität alten Strafrechts zurück. Der fehlende zeitliche Abstand
verhinderte demnach den für eine historische Betrachtung notwendigen Überblick.
Beeinflusst durch die Aufklärung orientierte sich das Strafrecht primär
philosophisch und politisch. Das historische Interesse richtete sich selektiv
nach der Gegenwart und der Zukunft. Stübinger
zeigt unter Hinweis auf Gallus Alois Kleinschrod,
dass historische Argumente Eingang in die strafrechtswissenschaftliche
Diskussion vor allem dann fanden, wenn sie dogmatischen oder theoretischen
Gewinn versprachen. Im Übrigen galt es die aus aufklärerischer Sicht – Stübinger nennt Christian Thomasius, Montesquieu und
Cesare Beccaria – zweifellos düstere
Strafrechtsgeschichte als Geschichte irrationaler Grausamkeit zu überwinden.
Gleichwohl kam der „Historie“ anfangs des 19.
Jahrhunderts mit einem neuen, dem historischen Zusammenhang verpflichteten
Quelleninteresse besondere Bedeutung zu. Die auf empirischem Boden gedeihende,
quellenorientierte Geschichtswissenschaft – Stübinger
weist auf Leopold von Ranke hin – machte der Philosophie deren
alleinigen Wahrheitsanspruch zunehmend streitig, wodurch ein gewisses
historisches Bewusstsein erwachte. Doch die damals vorherrschende Epoche der
Romantik fühlte sich, wie der Autor unter Einbezug zahlreicher Quellen
eingehend aufzuzeigen versteht, weniger der historischen Datenbeschaffung
verpflichtet. Vielmehr diente ihr die Geschichte und deren Kontinuität als
Mittel zur Selbstvergewisserung. In diesen Grund schlägt der Historismus sein
Wurzelwerk.
Am Beispiel Rankes und Georg F. Hegels zeigt der
Autor die unterschiedlichen Positionen der das Einzelne untersuchenden und
darin den Schlüssel zum Allgemeinen findenden Geschichtstheorie und der sich am
Allgemeinen orientierenden idealistischen, der Vernunft verpflichteten
Geschichtsphilosophie. Diese Auseinandersetzung wird rechtshistorisch
spezifizierend ergänzt durch eine treffende Darstellung von Friedrich Carl von
Savignys Projekt einer geschichtlichen Rechtswissenschaft.
Unter Hinweis u. a. auf Karl Marx, Heinrich Heine
und Arthur Schopenhauer beschreibt Stübinger
die gegenüber der historischen Rechtsschule erwachsene Kritik, die sich
insbesondere an der Erkenntnis nährte, wonach rechtliches Sollen sich nicht aus
historischem Sein ableiten lasse, weshalb die Befassung mit der Geschichte dem
Juristen nur sehr beschränkte Dienste zu leisten vermöge.
Johann Paul A. v.
Feuerbach lehnte die Geschichte als für das gegenwärtige Recht hilfreiches
Erkenntnismittel daher ab. Das von ihm vertretene Legalitätsprinzip vertrug
sich primär nicht mit geschichtlich abgeleiteten Rechtsregeln. Soweit
vorpositive Normen zu ergründen waren, gab Feuerbach der Philosophie den
Vorzug. Noch ausgeprägter band Carl August Tittmann
das Strafrecht an die Philosophie. Geschichtliche Belehrung kann demnach nur im
Dienst philosophischer Ableitung erfolgen. Stübinger
zeigt auf, dass zahlreiche Vertreter der Strafrechtswissenschaft (J. P. A. v.
Feuerbach, Christoph Carl v. Stübel, Ernst Ferdinand Klein und G. A. Kleinschrod) im frühen 19. Jahrhundert sich gegen die
historische Rechtsschule wandten und der Geschichte sowie ihrer Methode keinen
für die wissenschaftliche Begründung und Weiterentwicklung des Strafrechts
relevanten Stellenwert einräumten. Karl Joseph A. Mittermaier
erkannte in der historischen Methode jedoch eine Hilfswissenschaft zur
Rechtsauslegung und Carl Ernst Jarcke fand Sinn im
Studium der Strafrechtsgeschichte, da diese aufzeige, wie das geltende Recht
entstanden sei. Auch Heinrich Luden fand neben der Strafrechtsphilosophie Raum
für eine Geschichte des Rechts, die er zum geschichtsphilosophisch verbrämten
Forschungsgegenstand erhob. Demgegenüber traten Friedrich August Biener, Franz Arnold M. v. Woringen,
Conrad Franz Rosshirt und Karl Gustav Geib als
Vertreter der historischen Rechtsschule für eine im weitesten Sinne
geschichtliche Betrachtung des Strafrechts ein. Das Strafrecht widerspiegelt
gemäss Rosshirt den Volksgeist als Bild der Sittengeschichte. Der besondere
Teil des Strafrechts wird durch ein solches Verständnis mitunter historisiert.
Für Geib ist die Geschichte „die reichste Quelle
aller criminalistischen Bildung.“
Diese Polarisierung
zwischen philosophisch-abstrakter Deutung des Strafrechts und dessen
realgeschichtlicher Entwicklungsperspektive versuchten die Hegelianer Julius
Friedrich H. Abegg, Albert Friedrich Berner und
Christian Reinhold Köstlin zu überwinden.
Philosophische Idee und historische „Wirklichkeit“ sollten sich gegenseitig
ergänzen, statt einander zu verdrängen. Stübinger
spinnt den Faden zeitlich weiter und zeigt den Weg zur Aufhebung der
philosophisch-historischen Kontroverse am Beispiel der Ansätze von Adolf
Merkels Konzept einer Philosophie und Geschichte erfassenden positiven
Rechtswissenschaft.
Mit dem wachsenden
Stellenwert der Geschichte im Gefüge der Strafrechtswissenschaft vermochte sich
allmählich auch eine Strafrechtshistoriographie zu etablieren (Hermann Wilhelm
E. Henke; Carl J. G. v. Wächter, F.A. Biener, Wilhelm
Eduard Wilda, Eduard Osenbrüggen
u. a.). Stübinger zeigt in diesem Kapitel
gelungen und unter großem Aufgebot der neueren Ergebnisse der
Historismusforschung die wissenschaftstheoretische Entwicklung der „Historie“
und namentlich der Strafrechtsgeschichte im Spannungsfeld von Geschichtsphilosophie
und kasuistischer Empirie auf. Ob der Verfasser der für die Behandlung dieser
Materie zumindest für Deutschland äußerst wichtigen Nationalismusthematik im
19. Jahrhundert ausreichend Rechnung trägt, werden sich Kritiker indessen nicht
unbegründetermaßen fragen dürfen.
Mit dem Kapitel über
„Strafrecht und Geschichte“ teilweise verwoben folgen die Ausführungen über
„Schuld und Strafrechtsgeschichte“. Stübinger
untersucht die Werke ausgewählter strafrechtlicher, rechtshistorischer und
anderer wissenschaftlicher Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, welche
sich zur Entstehung des Schuldstrafrechts äußerten. H. W. E. Henke legte
bereits 1809 seinen „Grundriss einer Geschichte des deutschen peinlichen Rechts
und der peinlichen Rechtswissenschaft. Ein Versuch“ vor. Es handelt sich dabei
um eine mit der Bildung des Staates beginnende „Erfolgsgeschichte“, welche auf
eine Überwindung der Vergeltungsidee hinausläuft. Dem Begriff der Schuld kommt
in Henkes strafrechtshistorischer Forschung praktisch
keine Bedeutung zu. Anders verknüpfte Karl August Rogge
in seiner 1820 erschienenen Schrift „Über das Gerichtswesen der Germanen. Ein
germanistischer Versuch“ das Vorliegen eines Strafrechts mit schuldrelevanten
Bedingungen. Solche konnte er im „Altgermanischen Criminalrecht“
nicht vorfinden, weshalb er die damals geübte Methode der Konfliktbewältigung
als „eine reine Versönigungstheorie“ bezeichnete. W.
E. Wilda vertrat in seinem 1842 publizierten, durch
die Integration zahlreicher Quellen fundierten Werk „Das Strafrecht der
Germanen“ die gegenteilige These. Danach verfügten die Germanen sehr wohl über
ein Strafrecht, welches durchaus zu schuldrelevanten Differenzierungen zwischen
widerrechtlich gewollten und „von Ungefähr zugefügten Verletzungen“ fähig war. Wilda, so stellt Stübinger
zutreffend fest, verband die Fähigkeit zur Unterscheidung von bösem Willen und
Absichtslosigkeit nicht mit einem entwicklungsdynamischen, zeitgebundenen
Konzept, sondern sah darin ein zeitresistentes Phänomen des deutschen „Volksgeistes“.
Staat und Strafrecht werden gleichsam „zirkulär“ generiert. Die Vorstellung
eines selbständigen und -gezeugten „Deutschen Rechts“ entsprach dem die
Geschichte instrumentalisierenden Zeitgeist des Historismus. Die Frage, ob das
germanische Strafrecht über einen Schuldbegriff verfügte oder reines
Erfolgsstrafrecht war, beschäftigte die rechtshistorische Forschung auch
später. Stübinger beleuchtet dazu den
Kompromissvorschlag Heinrich Brunners.
Unter dem Titel
„Strafrechtliche Rechtsgeschichte um 1900“ befasst sich der Autor sodann mit
der Behandlung historischer Aspekte des Schuldbegriffs im Kontext der damals
hochaktuellen Straftheoriediskussion. Stübinger
präsentiert u. a. Alexander Löfflers dogmatisch-historisch angelegte
Geschichte der strafrechtlichen Schuldformen. Besonders eindrücklich fällt
ferner „Die geschichtliche Entwicklung der Schuldhaftung im Rahmen der
Normenlehre“ Karl Bindings aus. Dieser verband die Existenz des
Strafrechts mit dem Begriff der Schuld. Das Verbrechen erscheint aus dieser
dogmengeschichtlichen Betrachtung auch im Umfeld germanischen Rechts als
„schuldhafte Handlung“. Stübinger macht
deutlich, wie ausgeprägt Binding seine am zeitgenössischen Strafrecht
gemessene dogmatische Auffassung „in die historische Untersuchung
transportiert.“ Der die historische Perspektive verzerrende Effekt einer
solchen Sichtweise wird an diesem Beispiel besonders offensichtlich.
Die Darstellung wird durch
einen innovativen „Beitrag aus der Rechtsvergleichung/Universalgeschichte“ von Juliusz Makarewicz
ergänzt. Eingehend und kompetent durchdringt Stübinger
zur Freude des Rezensenten auch die „nicht-historische Geschichte der Schuld“,
wie sie Friedrich Nietzsche schrieb. Am Schluss werden der aktuelle
Forschungsstand und die Tendenzen der Forschung präsentiert. Etwas verloren
folgen die als „Supplement – Schuld und Strafrecht“ titulierten „Notizen zur
Entwicklung des Wortes ‚Schuld‘ zu einem strafrechtlichen Systembegriff.“
Obschon das Konzept der
Schrift mit der „Programmierung“ einer „Schuldstrafrechthistoriographiegeschichte“
durchaus in Einklang steht, ist der sich auf gesamthaft vier Ebenen
beschränkende eigenwillige Aufbau gewöhnungsbedürftig und dem Verständnis sowie
der Konsistenz der Studie nicht immer förderlich. Auf die kurze, aber gut
verständliche und literarisch breit abgestützte Einführung folgt über 170
Seiten das weitgefasste Kapitel „Strafrecht und Geschichte“. Mehr als 100
Seiten davon sind jedoch hauptsächlich der allgemeinen Geschichtsschreibung im
18. Jahrhundert und dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. Diesen wiederum sehr breit abgestützten
und klar durchdachten allgemeinen Ausführungen stehen 50 Seiten Theorie zur
Strafrechtshistorie im 19. Jahrhundert gegenüber. Der Leser, der diese
reichhaltige Darstellung in der Annahme durcharbeitet, sich dadurch die
Grundlagen für das Verständnis des zweiten Hauptteils über Schuld und
Strafrechtsgeschichte zu verschaffen, wird teilweise enttäuscht, denn der
weiträumigen Auslegeordnung über die verschiedenen Ansätze historischen
Selbstverständnisses im genannten Zeitraum folgen für diese Epochen nur 25
Seiten zur Schuldstrafrechtsgeschichte, was freilich darauf beruht, dass die
geschichtliche Erforschung des strafrechtlichen Schuldbegriffs zu dieser Zeit
unbedeutend ist. Schwerpunkte legt Stübinger bei der
Behandlung dieser Thematik auf die Zeit um 1900.
Die öfters vorkommende
Aufteilung einzelner Termini durch eingefügte Bindestriche mag bisweilen zum
Begriffsverständnis beitragen, doch verunsichert eine zu häufige Anwendung
dieser Technik den Leser, zumal nicht immer deutlich hervorgeht, ob der
Bindestrich absichtlich gesetzt wurde oder aber ob vielmehr eine Silbentrennung
über das Zeilenende hinausgerutscht ist. Auch der Versuch, grundlegende
Probleme, etwa die Frage, „ob und seit wann die Historie als ‚Wissenschaft‘
bezeichnet werden“ könne, sozusagen begleitend in ausgedehnten Fußnoten zu
behandeln, vermag zu irritieren. Doch sind die erwähnten Eigenheiten primär
Ausdruck eigensinniger und erfrischender Originalität. Im Interesse der
Benützerfreundlichkeit hätte dem Werk angesichts seiner inhaltlichen Fülle ein
Register gut angestanden. Die von eindrücklicher Belesenheit und
interdisziplinärer Offenheit gleichermaßen wie von einer ausgeprägten
Selbstsicherheit ihres Autors zeugende Schrift leistet einen wichtigen Beitrag
zur Erforschung des vielfältigen Beziehungsgefüges zwischen Schuldstrafrecht
und Geschichte unter entwicklungsdynamischen und historiographischen Aspekten.
Zürich Lukas
Gschwend