GschwendSchmidt-Recla20010823 Nr. 10345 ZRG 119
(2002) 88
Schmidt-Recla, Adrian, Theorien zur Schuldfähigkeit.
Psychowissenschaftliche Konzepte zur Beurteilung strafrechtlicher
Verantwortlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Anleitung zur Verwertbarkeit
(= Leipziger juristische Studien, Strafrechtliche Abteilung 4). Leipziger
Universitätsverlag. Leipzig 2000. 334 S.
Schmidt-Recla stellt einleitend zu seiner 1999 von der
Leipziger Juristenfakultät abgenommenen strafrechtlichen Dissertation fest,
zwischen Rechts- und Psychowissenschaft habe sich heute „ein weitgehender
‚Burgfrieden‘ eingestellt“. Anlass für die Untersuchung gab ihm die
Beobachtung, dass in jüngster Zeit sowohl Juristen als auch Psychiater
verstärkt über eine deutlichere Vergeltung von Schuld und Unrecht auch
gegenüber möglicherweise psychisch gestörten Delinquenten nachdächten. Sodann
bestünden nach wie vor latente Konflikte zwischen den genannten
Wissenschaftszweigen, die etwa bei der Beurteilung von Gutachten mitunter zu
Unstimmigkeiten führten (S. 15). Der Autor beabsichtigt mit seiner
Untersuchung, insbesondere dem Juristen ein besseres Verständnis für
psychowissenschaftliche Theorien zu vermitteln (S. 18). Er behandelt das
Problem der Schuldfähigkeit aus strafrechtlicher und psychowissenschaftlicher
Sicht für das 19. und 20. Jahrhundert und konzentriert sich auf die Entwicklung
in Deutschland. Die Situation in der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik und während der nationalsozialistischen Zeit bleiben überwiegend
ausgeblendet.
Schmidt-Recla stellt der eigentlichen Untersuchung ein sehr
aussagekräftiges Kapitel über den Schuldbegriff des Strafrechts voran. Er
erläutert innerhalb der normativen Schuldlehre die Theorie vom Andershandelnkönnen, die Charakterschuldtheorie, die Gesinnungsschuldtheorie
sowie die reine Zwecktheorie und die Theorien von der normativen
Ansprechbarkeit. Der Verfasser legt seiner Arbeit einen „sozial-normativen
Schuldbegriff“ zu Grunde, der auf einer Umschreibung im Sinne der normativen
Ansprechbarkeit beruht, und dabei das philosophisch-naturwissenschaftliche
Determinismusproblem gleichermaßen ausklammert wie die Frage nach der mit dem
Schuldvorwurf einhergehenden ethischen Bewertung. Betreffend die philosophische
Frage nach der Willensfreiheit weist der Autor sowohl auf die heutige
Bevorzugung wie auch auf die Vorzüge eines agnostischen Standpunktes hin. Die
prägnante und differenzierte Darstellung orientiert sich an der neuesten
Entwicklung der dogmatischen Diskussion. Damit hat sich der Verfasser für einen
der begrifflichen Klärung nützlichen, rechtstheoretisch durchaus sinnvollen,
wenn auch historisch wenig ergiebigen, namentlich keine diskursanalytische
Erkenntnisse vermittelnden Methodenansatz und auch für keine
historisch-kritische Betrachtung entschieden.
Einer äusserst knappen, aber mit weiterführenden Hinweisen
angereicherten Übersicht über die Entwicklung der rechtswissenschaftlichen
Determinismusdiskussion folgt eine Darstellung der Definition der
Zurechnungsfähigkeit in den deutschen Partikulargesetzgebungen des 19.
Jahrhunderts. Der Verfasser untersucht die einschlägigen strafgesetzlichen
Bestimmungen für Bayern, Württemberg, Sachsen, Thüringen, Reuß
und Anhalt sowie Hessen, Braunschweig, Baden und Preußen. Er stellt fest, „dass
das Freiheitsproblem fast einheitlich behandelt wurde.“ In aller Regel bedingte
die strafrechtliche Zurechnung gemäss diesen Normen die Willensfreiheit. Sodann
kommt er zum Schluss, dass bis 1855 sich für die Erfassung der
Zurechnungsfähigkeit in den Strafgesetzbüchern dieser Staaten weitgehend die
biologisch-psychologisch (psychisch-normativ) gemischte Methode durchsetzte,
wobei er Definitionen, welche ein allgemeines Prinzip der Zurechnung aufstellen
und dieses exemplarisch ergänzen (bayerisch-gemischt), von jenen unterscheidet,
welche nur in den besonders erwähnten Fällen „nach Maßgabe des allgemeinen
Prinzips“ die Zurechnungsfähigkeit ausschließen (sächsisch-gemischt). Das 1851
in Kraft getretene Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten beruhte
demgegenüber auf einer rein biologischen Methode, während das Allgemeine
Landrecht von 1794 der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit noch eine rein
psychologische Definition zugrunde gelegt hatte. Die für das
Reichsstrafgesetzbuch von 1872 maßgeblichen Entwürfe für ein Strafgesetzbuch
des Norddeutschen Bundes bestimmten die Zurechnungsfähigkeit nach der
sächsisch-gemischten Methode. Es folgt eine abrissartige Kurzdarstellung der
weiteren Entwicklung der gesetzlichen Definitionen der Schuldfähigkeit und
verminderten Schuldfähigkeit bis hin zur großen Strafrechtsreform 1954–1975.
Wiederum strickt Schmidt-Recla den historisch
begründeten Faden weiter. Er liebäugelt zwar mit einer psychologischen
(normativen) Definition, schlägt für eine künftige Reform jedoch – in der
Annahme, dass die gemischte Methode beibehalten wird – folgende, insbesondere
das konfliktträchtige biologische Kriterium der „schweren anderen seelischen
Abartigkeit“ (§ 20 dStGB) vermeidende Definition vor:
„Ohne Schuld handelt, wer zur Zeit der Tat wegen einer
schweren seelischen Störung oder wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung
unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu
handeln.“
Im
dritten Kapitel folgt eine skizzenartige, nachvollziehbare Schwerpunkte
setzende psychiatriegeschichtliche Darstellung des Krankheitsbegriffs. Im
Mittelpunkt dieser Betrachtungen über die „romantische Psychiatrie“ steht die
Auseinandersetzung zwischen Psychikern und Somatikern. Hatte Kant in seiner Anthropologie der Medizin die Fähigkeit zur
Beurteilung, ob ein Angeklagter zur Tatzeit im Besitz seines „natürlichen
Verstandes- und Beurtheilungsvermögens“ war, noch
klar abgesprochen, entwickelte die Psychiatrie unter dem Einfluss des Psychikers Johann Christian August Heinroth
und namentlich des Somatikers Johann Baptist
Friedreich allmählich einen Krankheitsbegriff, der eine gewisse forensische
Kompetenz versprach. Schmidt-Recla illustriert
die Thematik mit einem Hinweis auf die literarische Debatte von 1824/25 um den
Leipziger Mordprozess gegen Johann Christian Woyzeck (1780–1824). Unter
Berufung auf Karl Jaspers erkennt der Autor in der Auseinandersetzung
zwischen Psychiker und Somatiker
einen „Vorläufer des wissenschaftstheoretischen Paradigmenaustausches, der die
Psychiatrie und ihren forensischen Ableger regelmäßig und intervallartig
durchzieht.“ (S. 109).
Sodann
behandelt die Studie die beginnenden Kompetenzstreitigkeiten zwischen
Psychiatrie und Justiz, welche der Verfasser am Beispiel der mania sine delirio-Thematik treffend darstellt. Es folgen informative
Ausführungen über die moral-insanity-Debatte in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und über Cesare Lombrosos
Theorie vom geborenen Verbrecher, die jedoch über eine allgemeine Darstellung
der bekannten psychiatrie- und strafrechtshistorischen Entwicklung nicht
hinausreichen und auch die neueste rechts- und psychohistorische Literatur
nicht umfassend integrieren. Schön herausgearbeitet wird der professionelle
Psychiatriedeterminismus und dessen Tendenz zur Eingrenzung der biologischen
Komponente des § 51 RStGB auf Geisteskrankheiten i.
e. S., die insbesondere mit Bezug auf die Definition der moral
insanity und der Psychopathie in enger Wechselwirkung
mit der Umschreibung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs stand.
Im
Vordergrund des die Verhältnisse im 20. Jahrhundert betreffenden Hauptteils der
Untersuchung stehen Darstellung und Diskussion des psychiatrischen
Krankheitsbegriffs sowie der jüngeren Entwicklung der Gerichtspsychiatrie. Im
Rahmen der Behandlung der somatologischen
Gerichtspsychiatrie kommt der Verfasser auf Emil Kraepelin
und Karl Jaspers zu sprechen. Diesem weist Schmidt-Recla
die Rolle als Begründer der agnostisch-klinischen forensischen Psychiatrie zu.
Es folgt eine kurze kritische Auseinandersetzung mit Kurt Schneiders
Systematik der krankhaften und nicht-krankhaften Psychopathien. Dabei wird
offensichtlich, dass eine scheinbare Annäherung des psychiatrischen
Krankheitsbegriffs an das begriffliche Instrumentarium des Juristen der
Beantwortung der sich stellenden Fragen bezüglich Schuldfähigkeit keineswegs
hilfreich zu sein braucht. Deutlich kommt auch zum Ausdruck, wie hinderlich die
vermeintlich stets sich stellende allgemeine Frage nach der Willensfreiheit
einem ergiebigen psychiatrisch-juristischen Dialog sein muss.
Die
Untersuchung der forensisch-psychiatrischen Gesichtspunkte zur Erfassung der
Schuldfähigkeit wird bis in die jüngste Vergangenheit der somatologischen
Gerichtspsychiatrie fortgesetzt. Über Hermann Witters
Hypothese vom Brückenschlag von der psychopathologischen Diagnose des
forensischen Psychiaters zur juristischen Wertung gelangt die Darstellung zu Siegfried
Haddenbrocks pragmatischem Krankheitsbegriff,
wonach ein Straftäter rechtsrelevant krank ist, „dessen Tat die Manifestation
einer gleichwie gearteten psychischen Anomalie ist, die, wenn sie fortbesteht,
entweder psychischer Hilfe bedarf ... oder einem erheblichen unheilbaren,
organisch begründeten psychischen Defekt gleichzuachten
ist.“ (S. 183) Mit der Präsentation der anthropologischen forensischen Psychiatrie
(Ulrich Venzlaff), der sozial-therapeutischen
und strukturanalytischen Psychiatrie (Wilfried Rasch, Werner Janzarik) wie auch anderer moderner Konzepte (Hans-Ludwig
Kröber, Rainer Luthe,
Norbert Nedopil) wird die Schrift weitgehend
zur gegenwartsorientierten forensisch-psychiatrischen Darstellung, deren
historische Bezüge sich überwiegend im entwicklungsdynamischen Aspekt
erschöpfen, jedoch als moderner Diskussionsbeitrag im aktuellen
psychiatrisch-juristischen Diskurs gute Dienste leistet. Erfreulicherweise
werden die Ausführungen zur forensischen Psychiatrie durch ein Kapitel über
forensische Psychologie und Psychoanalyse mit Bezug auf die Frage nach der
Schuldfähigkeit ergänzt, wobei mit dem Einbezug der Pionierstudie „Der
Verbrecher und seine Richter“ von Franz Alexander und Hugo Staub eine
ansprechende historische Einbindung stattfindet. Schmidt-Reclas
Publikation ist mit einer aussagekräftigen, konzisen Zusammenfassung versehen.
Die
interessante und auf weiten Strecken gut lesbare Arbeit verfügt zwar über einen
entwicklungsperspektivischen Ansatz, doch liegen ihre Vorzüge vielmehr in der
problem- und lösungsorientierten theoretisch-dogmatischen Auseinandersetzung
als in der historischen Analyse. Mit Ausnahme einiger zeitgeschichtlicher
Bemerkungen gilt das Interesse des Verfassers im Hauptkapitel über die
Schuldfähigkeit in der forensischen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts stets auch
der Beurteilung der materiellen Stimmigkeit zwischen den jeweils untersuchten
älteren Theorien und dem jüngsten schuldstrafrechtlichen Forschungsstand.
Dieses einer historischen Methode kaum verbundene, sondern vielmehr der
strafrechtsdogmatischen Diskussionstechnik entliehene Werten und Abwägen wird
den einen oder anderen einer rechtshistorischen Erwartungshaltung verpflichteten
Leser irritieren. Seinem erklärten Anspruch, nämlich dem Juristen ein besseres
Verständnis für psychowissenschaftliche Theorien zu vermitteln, wird Schmidt-Recla sicherlich gerecht.
Zürich Lukas
Gschwend