GromitsarisVerfassungsgeschichte20010823 Nr. 10387 ZRG 119 (2002) 55
Verfassungsgeschichte und Staatsrechtslehre. Griechisch-deutsche Wechselwirkungen, hg. v. Kassimatis, Georg/Stolleis, Michael (= Ius Commune Sonderheft 140). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. VIII, 290 S.
Wie ist
Staatsbildung möglich? Läßt sich die westliche Figur „Staat“ exportieren? Wer
ist das Staatsvolk? Das sind Fragen, die anhand fundierter Quellenforschung in
den in diesem Band gesammelten Aufsätzen mit Blick auf die Verhältnisse des
frühen 19. Jhahrhunderts in Deutschland und
Griechenland behandelt werden. Der Sammelband enthält die „wichtigsten
Referate“ von zwei Tagungen, die das Institut für Griechische
Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht (Athen) und das Max-Planck-Institut
für Europäische Rechtsgeschichte (Frankfurt am Main) veranstaltet haben. Die
Thematik der Tagungen und des Buches wurde an zwei Schwerpunkten ausgerichtet.
Der erste liegt in der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des 19.
Jahrhunderts. Den zweiten bilden die Austauschverhältnisse zwischen den beiden
Ländern in Staatsrecht und Staatslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre.
Das frühe
19. Jahrhundert ist in Griechenland „die Zeit des Befreiungskampfes, der
Staatsgründung und der nationalen Selbstfindung“ (S. VII). Die Entstehung des
griechischen Staates stellte zwar die Gründung eines kleinen Balkanstaates dar.
Dieser sollte aber sowohl für die Befreiungskämpfer als auch in der Sicht von
außen eine Art „Wiedergeburt“ bzw. „Wiederentdeckung“ bedeuten. Von Neugriechen
wurde verlangt, in eine vergangene Epoche ihrer Geschichte so einzutauchen und
ihre Sprache so (aus) zu sprechen, als ob alles Dazwischenliegende wertlos
wäre. Diese Erwartungshaltung und das damit einher gehende Enttäuschungspotential
kamen in der von Gerhard Grimm
(„Der Philhellenismus und die Anfänge der Wissenschaft von Griechenland“)
untersuchten „stark emotionalen Bewegung“ des „Philhellenismus“ zum Ausdruck
(S. 1ff., 3). Grimm interessiert die „Wirkung von
emotionaler Anteilnahme an politischen Vorgängen“ auf die wissenschaftliche
Würdigung der Staatsgründung in Griechenland sowie auf die wissenschaftliche
Beschäftigung mit den Kulturerscheinungen des griechischen Sprachgebiets.
In
Deutschland war die alte Verfassungsform des Reichs zerbrochen. Der Deutsche
Bund überwölbte die einzelnen Staaten, „die ihrerseits neue Verfassungen
erhielten“ (S. VII). Gerhard Schuck untersucht
„Souveränität und Verfassungsdiskussion“ in dieser „rheinbündischen
Reformzeit“, in der die Staatsrechtler mit „Schiffen, unter welchen das Wasser
abgelaufen ist“, verglichen wurden und im Staatsrechtsumbruch um Neuverankerung
ihrer Wissenschaft bemüht waren (S. 20). Während es in Deutschland
innenpolitisch um die „Durchsetzung der Souveränität“ und die „notwendigen
Voraussetzungen zur Modernisierung des Staates“ ging (S. 23), hatte sich das
Königreich Bayern, seit 1818 ein Verfassungsstaat, die außenpolitische Aufgabe
gegeben, den neu gegründeten griechischen Staat zu regieren und die griechische
Verfassungsfrage einer Lösung zuzuführen. Reinhard Heydenreuter zeigt, daß
der griechische Zustand als Ausgangslage und Bayern als das zu erreichende Ziel
behandelt wurden, wobei innen- und außenpolitische Erwägungen dem Export der
Verfassung Bayerns entgegenstanden. Der Abstand zwischen Istzustand
und Sollzustand raubte König Ludwig I. von Bayern den Glauben an die
„Demokratiefähigkeit“ der Griechen, die er mit den immer unruhigen und
republikanisch gesinnten Pfälzern verglich. Eine „autokratische Regierung nach
russischem Vorbild“ wäre nach seiner Auffassung für sie das geeignete Regime
(S. 38-39). Um Europäisierung „morgenländischer Rückständigkeit“ ging es auch
der bayerischen Regentschaft, deren idealisiertes Hellasbild mit den
Schwierigkeiten des Versuchs kontrastierte, Institutionen des Verfassungs- und
Verwaltungsrechts in das Land einzuführen. Karl Dickopf kann in seiner Studie
(„Maurer und die bayerische Regentschaft in Griechenland“) zeigen, womit die
„Probleme einer Staatsgründung“ (S. 45ff.) in einer
Welt, in der Entwicklungen nicht gleichzeitig stattfinden, zusammenhängen: Eine
Gesellschaft kann sich nicht unabhängig von der Struktur ihrer Sozialordnung
auf rezipierte Institutionen des Verfassungs- und
Rechtslebens einlassen (S. 77). Stellt sie die ein rationales staatliches
Handeln ergänzenden und bedingenden Verhaltensweisen nicht bereit, so können
diese vom neu gegründeten Staat nicht dekretiert werden. Dennoch sieht sich der
neue Staat genötigt, die gesellschaftlichen Strukturen, die ihn lebensfähig machen
werden, erst zu schaffen. Es ist daher nur verständlich, daß die verpflanzten
Institutionen von der Regentschaft mit erzieherischen Aufgaben betraut werden:
Die Armee samt ihrer Kleiderordnung soll als „Schule“ und die Gesetzgebung als
„geistige Wiedergeburt“ der Nation fungieren (S. 55, 71). Allerdings muß dies
mit der Zerstörung vorhandener Muster von Selbstorganisation des Soziallebens
bezahlt werden, was die Kluft der Mißverständnisse zwischen Regierenden und
Regierten noch weiter vertieft. Hinzu kommt, daß das Regentschaftsmitglied
Georg Ludwig von Maurer Probleme zu lösen versuchte, die er in seiner
Eigenschaft als deutscher Jurist und insbesondere als von Savigny beeinflußter
„Forscher auf dem Gebiete der germanischen Schule“ sowie als Gelehrter und
Protestant (S. 67, 78) wahrnahm. Kann das man ihm zum Vorwurf machen? Im Falle
einer Staatsgründung zählen aber nicht Absichten, sondern (Neben-) Folgen. Es
ist – wie Spyros Troianos
in seinem Beitrag „Die Kirchenpolitik des griechischen Staates im 19. Jahrhundert“
hervorhebt - nicht ohne Bedeutung, daß Maurer „einerseits Bayer und
andererseits Protestant“ war. Da er „keine genaue Kenntnis der Tradition der
Kirche im griechischen Osten hatte, sah er aufgrund seiner Erfahrungen mit der
römisch-katholischen Kirche in der (orthodoxen) Kirche einen Rivalen um die
Staatsgewalt.“ (S. 155). Er verordnete dementsprechend dem Staat eine „Roßkur
an Säkularisation und Enteignung, die der von Montgelas
in Bayern am Anfang des Jahrhunderts wenig nachstand.“ (Dickopf,
S. 66).
Die Frage,
wer das Volk sei, haben die von Dimitri
Dimoulis („Zwischen Frankreich und Deutschland, Volk, Staatsangehörigkeit
und Staatsbürger im griechischen öffentlich-rechtlichen Denken des 19. Jh.“)
untersuchten griechischen Verfassungstexte nicht nach dem Muster der
Verfassungen der Französischen Revolution beantwortet. Nach einer Analyse der
Verhältnisse sozialer Differenzierung im Osmanischen Reich, dessen „Untertanen
aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit hierarchisiert wurden“, erklärt er, warum
die Forderung nach einer demokratischen Gesellschaftsordnung „als Forderung
nach einer Befreiung der Christen, die sich allmählich als Griechen, d. h. als
Nation, verstanden“, formuliert wurde (S. 95). Konsequenterweise wurde Religion
in den ersten griechischen Verfassungen zum Anknüpfungspunkt der
Staatsangehörigkeit. Der Gegensatz zu „Grieche“ war nicht „Nichtgrieche“,
sondern „Nichtchrist“, wobei das „Christsein“ weder geographisch noch kulturell
eingeschränkt wurde. Erst später wurde dieses „ius religionis“
mit einem „ius soli“ bzw. einem „ius sanguinis“ kombiniert (S. 105).
Während
revolutionäre Verfassungen das direkte Verhältnis des neu gegründeten Staates
zu den ihm zugehörigen Individuen im Staatsangehörigkeitsbegriff feierlich zum
Ausdruck bringen, sehen sie von politische Parteien ab. Die Rede ist vom Volk,
nicht von seinen Parteien. Auf deren Entstehung, Wirkung und Symbolik („sie
symbolisieren Streit, `Zerissenheit´ und Unfähigkeit
zu konstruktivem Handeln“, S. 206) geht Michael Stolleis („Die Entstehung
des modernen Parteienwesens im 19. und 20. Jahrhundert und die aktuelle
Parteienkritik“) ein, der im Anschluß an Max Weber, Robert Michels und Richard
Schmidt eine idealtypische Charakterisierung der Parteienstaatlichkeit
versucht. Politische Parteien sind unter anderem auch das Thema von Wassiliki Neumann-Roustopanis
(„Die griechischen Romanisten und die Verfassungsfrage“). Sie thematisiert die
Rolle von Parteien in einer Gesellschaft, die durch einen einheitlichen,
überregionalen und zentralen Staat westlicher Prägung noch nicht befriedet ist
(S. 140-145).
Auf ein
weiteres verfassungsrechtliches Schweigen macht Heinz Mohnhaupt („Richter
und Rechtsprechung in deutschen Verfassungen“) aufmerksam (S. 181ff., 193). Ihm geht es darum, daß zur „rechtsproduktiven
Funktion der Justiz“ keine Vorschriften in den Verfassungen zu finden sind. Er
versteht seinen Beitrag als eine Beleuchtung der historischen Dimension der
Tatsache, daß richterliche Rechtsfortbildung trotz der offiziellen
Gewaltenteilungslehre sowohl unter den Bedingungen gesetzlicher Bindung
(Deutschland) als auch unter der Geltung von Gewohnheitsrecht im Falle einer
rudimentären Staatsorganisation (Griechenland) unentbehrlich wurde (S. 198).
Wie sich
schließlich aus den Beiträgen zum zweiten thematischen Schwerpunkt des Buches
ergibt, wurden bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Griechenland
„Institutionen französischer Prägung eingeführt und durch eine deutsch
orientierte Wissenschaftszunft systematisch erforscht“, was „das Berücksichtigen
rechtsvergleichender Aspekte“ für die „Untersuchung der griechischen
Rechtsgeschichte“ erforderlich macht (so Michael Tsapogas, „Rechtsnationalismus als
Verwaltungskritik“, S. 244). Diesem methodischen Ansatz folgen auch die
Beiträge von Philippos K. Vassilojannis („Nikolaos N. Saripolos und die
Anwendung der sogenannten juristischen Methode“), Spyridon V. Vlachopoulos („Der Einfluß der deutschen
Staatsrechtler auf das Werk von Nikolaos Saripolos am Beispiel des
Beamtenrechts“) sowie von Georgios Pachos („Der
Einfluß des deutschen staatsrechtlichen Positivismus auf das Werk von Alexandros Svolos“ und „Ilias Kyriakopoulos´ Beziehungen zur deutschen Staatslehre“).
Die
Bedeutung der Untersuchungen der „griechisch-deutschen Wechselwirkungen“ im
besprochenen Band geht über Austauschverhältnisse zwischen Deutschland und
Griechenland hinaus. Die historisch-rechtsvergleichende Beleuchtung der
Probleme einer Staatsgründung in Südosteuropa läßt sich gleichzeitig als ein
Beitrag zur verfassungsrechtlichen Rechtsquellenlehre und Staatsrechtslehre
lesen. Sie macht ferner klar, daß die Verpflanzung von Institutionen scheitern
wird, solange eine Gesellschaft für die von ihr rezipierten
Institutionen zwar das Wort, aber nicht den Begriff hat. Und am „griechischen
Abenteuer“ Bayerns kann gesehen werden, daß die Ausgestaltung eines „modernen“
Staates dem Recht, der Kirche, den Gemeinden, den lokalen Machtzentren
Funktionen nimmt und daß man sich insofern nach Ersatzleistungen umsehen muß.
Nach Maßgabe der von der Regentschaft mitgebrachten Kategorien waren nun diese
Funktionen entweder nicht sichtbar oder unterschätzt. Nichtsdestotrotz sind die
von Maurer geschaffenen Gesetzbücher bleibende Leistungen: Seine
Zivilprozeßordnung galt bis 1968.
Jena Athanasios Gromitsaris