GerlichSchmale20010912 Nr. 10457 ZRG 119 (2002) 01
Schmale, Wolfgang, Geschichte Frankreichs (=
UTB 2145). Ulmer, Stuttgart 2000. 432 S. 16 Ktn. im Anhang.
Die Geschichte einer großen Nation und ihres in zwei
Jahrtausenden gewachsenen Staates in nur einem Band mittleren Umfanges
darzustellen und angesichts reicher Literatur neue Akzente zu setzen, ist ein
Wagnis. Schon die Frage nach den Anfängen birgt eine eigene Problematik. Hier
erwies es sich als nützlich, daß sich Schmale der sicheren Führung von Karl-Ferdinand
Werner anvertraute, um den Mittelalterteil darzustellen. Schon hier zeigt
sich eine gewisse Abkehr von tradierten Epochengrenzen zugunsten der Suche nach
übergreifenden Entwicklungssträngen. Das kulturelle Gedächtnis der Franzosen,
die Mythographie seit dem 7. Jahrhundert bis zur Ausformung eines
Nationalmythos in Wissenschaft und Literatur, wird als Wesenszug hervorgekehrt.
Nicht so sehr punktuell erfaßbare Ereignisse, sondern lang sich hinziehende
Vorgänge wie die Völkerwanderungen, die Leitlinien dynastischer
Aufeinanderfolgen seit Karl dem Großen verbunden mit Macht- und
Gemeindebildungen, dann des Städtewesens und der Geldwirtschaft, das Werden
einer spezifisch kommunalen Gesellschaft parallel mit den sich verdichtenden
Grundherrschaften durchziehen die Darstellung. Diskutiert wird das Bild des
Dreiständeaufbaues in der von Georges Duby und Jean Favier
geformten modernen Forschung. Der Verfasser erweist intensive Vertrautheit mit
der weit gestreuten Gelehrsamkeit Frankreichs. Zum überkommenen Bild gehört die
Bedeutung der Krondomäne als Basis der gewiß nicht gradlinig verlaufenden, doch
immer erneut Wirkkraft zeigenden Integration Frankreichs. Dazu wird hier die
Zusammenführung der religiösen, sozialen und kuturellen Elemente dargestellt.
Trefflich charakterisiert werden die großen Machtverschiebungen im Kampf mit
dem englischen Königtum, die Rolle des Lehnrechts und das System der Apanagen.
Herrschaftssymbolik und Königstheologie werden besonders bedacht, die
Institutionalisierung des römischen Rechtes kurz aufgezeigt. Widerstände,
Adelsligen und Revolten des 15. Jahrhunderts werden knapp behandelt. Als dritte
Integrationsstufe der Nationswerdung bis zu Heinrich IV. wird die Zeit des 16.
Jahrhunderts trotz der in ihm sich abspielenden blutigen Kämpfe und der mit
ihnen verbundenen tiefgreifenden geistigen Auseinandersetzungen begriffen. Die
Generalstände, sie schon durch Philipp den Schönen als Organ der Königspolitik
instrumentalisiert, werden als Repräsentanz der Nation seit 1484 bewertet. Damals
wurde ein Grundverständnis geschaffen, das über zwei Jahrhunderte der
Nichteinberufung hinweg lebendig blieb, ehe es 1787 seine dann zur Revolution
hinführende Erneuerung fand. Zu den Kernpunkten der Darstellung gehört das
Hinführen des Lesers zum Wechselspiel von Initiativen der Krone, der General-
und besonders der Provinzialstände seit dem 13. Jahrhundert, trefflich gerafft
werden Rechts- und Verfassungslehren in deren Abkunft aus der Scholastik bis
hin zur Epoche des Absolutismus, dessen Erforschung, geführt durch Roland
Mousnier, geschildert wird. Weniger die herkömmlicherweise im Vordergrund
stehenden Personen geben diesem Teil das Gepräge als die Auseinandersetzungen
mit der Fronde, die Ausdifferenzierungen der Gesellschaft, die Rolle des
Calvinismus, des Jansenismus und der Jesuiten im Umfeld der perfekten
Monarchie. Von gleich hohem Wert sind die Hinweise auf die Demographie und den
Feminismus in Recht, Literatur und Philosophie seit dem 16. Jahrhundert.
Die Französische Revolution sieht Schmale sehr
wohl als einen tiefen Einschnitt in die Geschichte des Landes, lehnt es jedoch
ab, sie als einen Katalysator der modernen Nationswerdung zu werten. Diese
umgreift er in kulturgeschichtlicher Interpretation ähnlich wie seit einigen
Jahren Rudolf Reichardt. In Napoleon erblickt er die Synthese von
Revolution und Absolutismus. Von den Ereignissen seit 1789 zieht der Verfasser
eine Linie zu den vielfältigen Unruhen und Revolutionen der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts, geht dabei intensiv auf den Wandel der Körperbilder weg vom
Herrscher hin zur Nation, die Ausbildung politischer Grundrichtungen in der
Notabelngesellschaft und das Wiedererstarken des Katholizismus in dem schon vor
der Revolution fühlbar entchristlichen Volk ein. Von den 1830er Jahren an über
den Staatsstreich Napoleons III. bis hin zum Ende des Second Empire schlägt Schmale
einen weiten Bogen, um die Symptome der nationalen Integration zu schildern:
Eisenbahnbau, Industrialisierung, Verdichtung des Handels, Neugestaltung von
Paris. Erst daran anschließend stehen die Kapitel, die sich mit Napoleons III.
Deutschlandpolitik, dem Krieg von 1870/71 und den Folgen der Niederlage
beschäftigen. Der Dritten Republik wird in relativer Breite, doch weiterhin
enormer inhaltlicher Verdichtung, viel Energie der Darstellung zugewandt, wobei
den innenpolitischen Entwicklungen Vorrang gewährt wird.
In einem bewußt abgesetzten Teil wird die Geschichte
Frankreichs nach dem Ersten Weltkrieg behandelt. Neue Quellenarten und in
wachsender Zeit die modernen Medien geben jenen Seiten einen anderen Charakter
im Sinne des politikgeschichtlichen Referats, in dem der Verfasser zeigt, wie
eine Siegernation sich innerlich zersetzt. Sachkenntnis und Ausgewogenheit des
Urteils gehören auch hier zum Wesen der Darstellung. Wie hilflos krisenhaft
Frankreichs Führungsklasse 1938/39 war, wird gut belegt. Die Kriegsereignisse
werden nur kurz gestreift, die Darstellung dann wiederum in wohltuender
Ausgewogenheit den Jahren der Besetzung gewidmet. Die Probleme der
Kollaboration und Résistance finden eine kluge Würdigung, Petain und de Gaulle
werden als die signifikanten Hauptakteure herausgestellt, Gruppen und
Persönlichkeiten beider Lager in deren Verhalten analysiert und so ein
Musterbeispiel der Zeitgeschichtsschreibung geboten. Unklar bleibt nur, warum Schmale
dann die Nachkriegsgeschichte in einem eigenen Großabschnitt abspaltet und an
das Ende setzt, statt die kontinuierliche Darstellung beizubehalten.
Den eben genannten Unterbruch nutzt der Verfasser zu
Überlegungen über Beziehungen, die er unter dem Stichwort der kulturellen
Referenzen begreift. Expansion und Kolonialismus bieten die Hauptlinien. In
Anlehnung an Forschungstendenzen, für die Namen wie Fernand Braudel, Michel
Espagne,
Der Rezensent steht am Ende: Ein Taschenbuch nur, aber
eines, das die Taschen füllt mit reicher Belehrung, vielen Anstößen zum
Überdenken, dies stets in heute seltener Klarheit der Diktion in dichter
Gedankenfolge.
Mainz Alois
Gerlich