GergenRechtsreformen20010914 Nr. 1199 ZRG 119 (2002) 81

 

 

Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika, hg. v. Ahrens, Helene/Nolte, Detlef (= Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde Hamburg 48). Vervuert, Frankfurt am Main 1999. 361 S.

 

Die Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist seit Jahren ein Garant für die Publikation informativer und wissenschaftlich fundierter Bücher zu Geschichte, Politik und Wirtschaft der lateinamerikanischen Länder. Mit dem vorliegenden Band erweitert sich die Reihe gleichermaßen um den Bereich von Recht und Justiz. Juristen, Politikwissenschaftler und Soziologen, die ihre Beiträge im Dezember 1997 auf einer Tagung des Instituts in Hamburg vorstellten, dokumentieren anschaulich, wie sehr die Rechtsreformen der 90er-Jahre in komplexe soziale und politische Prozesse eingebettet waren. Auch machen sie deutlich, daß der Erfolg dieser Reformen stets von der Bereitschaft der Akteure (Polizei, Richterschaft, Anwaltschaft und Staatsanwaltschaft, Gefängniswärter, Menschenrechtsorganisationen etc.) zur Kooperation untereinander abhängt. Laut Umfrageergebnissen wurden diese Akteure und die dazugehörigen Institutionen sehr negativ bewertet, was begründen kann, daß der Vertrauensverlust der Bevölkerung in einer zunehmenden Entlegitimierung der Justiz mündet. Grund genug und vor allem Aufgabe für die Staaten Lateinamerikas, mittels Reformen dieses Vertrauen ihrer Bevölkerungen zurückzugewinnen.

Die 90er-Jahre stehen als Dekade der großen Justizreformen und des rechtspolitischen Umbruchs in der Geschichte Lateinamerikas. Die auftretenden Probleme erklären sich durch einen Blick in die Geschichte und Rechtsgeschichte der beiden vergangenen Jahrhunderte. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts galt dort das spanische Recht mit einigen Sonderbestimmungen, wie den Leyes de Indias von 1860. Wichtige Impulse für die ersten Verfassungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gingen - neben den nordamerikanischen und französischen Vorbildern - auch von der spanischen Konstitution von Cádiz (1812) aus. Obschon bereits erste Verfassungen von 1811 stammten, zeigte sich erst ab 1820 eine erste konstitutionelle Stabilität. Als erste Nation gab sich 1824 Brasilien eine Verfassung, dem Uruguay und Venezuela 1830, Chile 1833, die Dominikanische Republik 1844, Argentinien 1853, Mexiko 1857, Nikaragua 1858, Peru 1860, Paraguay 1870 und Costa Rica 1871 folgten. Erst 1901 gelang es in Kuba, eine Verfassung zu verabschieden.

Im Bereich des Zivilrechtes kam es Mitte des 19. Jahrhunderts zu ersten Kodifikationen. Da das Recht Spaniens als das Recht der ehemaligen Kolonialmacht weitgehend ausschied, orientierte man sich bei der Erstellung einheitlicher nationaler Zivilgesetzbücher nahezu ausschließlich am Code civil (Code Napoléon) von 1804. Rechtsgeschichtlich von Bedeutung und erwähnenswert sind drei Kodifikationen: die erste von dem Venezolaner Andrés Bello in Chile in den Jahren 1846-1855 durchgeführt, die zweite von Dalmacio Vélez Sarsfield in Argentinien aus den Jahren 1863-1869 sowie die dritte von Teixera de Freitas in Brasilien aus der Zeit von 1856-1865. Allesamt übernahmen Vorbildfunktion für die anderen lateinamerikanischen Länder: So wurde das chilenische Zivilgesetzbuch später von Ekuador (1860) und Kolumbien (1873) rezipiert und beeinflußte ferner die Zivilgesetzbücher von Venezuela (1862) und Uruguay (1868).

Allerdings ergab sich schon sehr frühzeitig ein eklatanter Widerspruch zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Denn die unabhängig gewordenen Staaten gaben sich moderne Verfassungen, die sich an den fortgeschrittenen Vorbildern orientierten, jedoch realiter sozial rückständig blieben. Kein geringerer als Simón Bolívar erkannte diese Kluft und sprach von den „Traumrepubliken“, die sich die Väter der Verfassungen vorgegaukelt hätten. Der argentinische General und Befreier San Martín formulierte seine Bedenken im September 1833 folgendermaßen:

„Ich bin fest überzeugt, daß die Übel, die die neuen Staaten Amerikas heimsuchen, nicht so sehr von ihren Bewohnern abhängen wie von ihren Verfassungen. Wenn diejenigen, die sich Gesetzgeber in Amerika nennen, vor Augen gehabt hätten, daß man den Völkern nicht die besten Gesetze geben soll, sondern die besten, die ihrem Charakter angepaßt sind, würde die Lage unseres Landes eine andere sein – aber sprechen wir darüber nicht weiter, denn es hieße, sich in ein unabsehbares Chaos zu begeben.“ (S. 95)

Die Effizienz der neuen Verfassungen war durch zwei essentielle Faktoren gehemmt. Erstens waren die nötigen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen nicht vorhanden, denn es fehlte an einer gesellschaftstragenden bürgerlichen Schicht. Die Mehrheit der Bevölkerung verfügte über keine abstrakte Vorstellung vom Staat, was u. a. dazu beitrug, daß viele sich regional und später national auftretenden Anführern (caudillos) anschlossen. Zweitens mangelte es sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein an dem Bewußtsein, in einem Nationalstaat zu leben. Infolgedessen waren die abstrakten Verfassungen über große Zeiträume nicht geeignet, das politische Leben zu strukturieren. Zudem enthielten einige Konstitutionen unrealisierbare und von den Regierungen nie eingelöste Versprechen, etwa die Ankündigung von Agrarreformen oder eines Sozialstaates.

Bis in die 60er Jahre gab es im Durchschnitt alle sieben bis acht Monate eine neue Verfassung in Lateinamerika. Die meisten Verfassungsänderungen zielten darüber hinaus oft auf eine Amtszeitverlängerung ab und dienten weniger der Reaktion auf geänderte gesellschaftliche und politische Bedürfnisse als den politischen und persönlichen Ambitionen der amtierenden Präsidenten. Verfassungsänderungen mit dem Ziel einer zweiten Amtszeit gab es unter den Präsidenten Fujimori in Peru im Jahre 1993 sowie Menem in Argentinien im Jahre 1994. Eine weitere Schwächung der Verfassung hatte sich aus der Dekretierung des Ausnahmezustandes ergeben. Verfassungstheorie und Verfassungsrealität stießen sich auch am spezifisch „iberischen Korporatismus“, d. h. an den Privilegien, Pflichten und Würden, die jeder Stand und jede „Klasse“ beanspruchen konnten, sowie den traditionellen Patron-Klient-Beziehungen.

Die Bestimmung des Wertes der Verfassung in der Bevölkerung drückt schließlich noch der Satz „Man ehrt die Gesetze, aber man befolgt sie nicht.“ aus, ein Satz, der noch zugespitzter heißt: „Für unsere Freunde alles, für Fremde nichts und für Feinde – das Gesetz!“ (S. 97/98). Solche Aussagen belegen – wenn auch pauschal, doch sehr klar - , daß in Lateinamerika das Recht zwar zur Kenntnis genommen wird, doch im konkreten Verfassungsleben nahezu bedeutungslos und „ungeliebt“ ist. Lateinamerika ist gerade ob der Ungleichzeitigkeit seiner Entwicklung als „lebendiges Museum“ bezeichnet worden. Zu früh wurden Normen (Verfassungen, Zivilgesetzbücher und Strafgesetzbücher) aus Europa rezipiert, ohne die praktische Durchführbarkeit und Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung geprüft zu haben.

Trotz dieser historisch bedingten Voraussetzungen haben sich indessen nach und nach Fortschritte in der Rechtspflege vieler lateinamerikanischer Länder eingestellt. Dies wird deutlich bei den Ernennungsverfahren für Richter (mit dem Ziel einer größeren politischen Unabhängigkeit), der Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit, dem Schutz der Menschen- und Bürgerrechte (dank der Arbeit der Menschenrechtsbeauftragten oder Ombudsmänner), der Ausweitung der Präsenz und der Unabhängigkeit der Wahlgerichte, der Einführung außergerichtlicher Verfahren der Konfliktregulierung (Schlichtungsregeln, Friedensrichter), der Modernisierung der Justizverwaltung, der Reform des Strafrechts und der Strafprozeßordnungen und nicht zuletzt des Strafvollzuges.

Der vorliegende Tagungsband schließt ab mit Berichten über die Chancen und Risiken der Zusammenarbeit deutscher Stiftungen mit der Justiz lateinamerikanischer Länder. Er konfrontiert die Wissenschaft mit der entwicklungspolitischen Praxis von Rechtsberatungsprogrammen und geht auf das Spannungsverhältnis zwischen dem aus der Sicht des Wissenschaftlers Wünschbaren und dem unter den vorgegebenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen Machbaren bei derartigen Programmen ein.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen