FrassekBecht20010606 Nr. 10240 ZRG 119 (2002) 39

 

 

Becht, Michael, Pium consensum tueri. Studien zum Begriff consensus im Werk von Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon und Johannes Calvin (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 144). Aschendorff, Münster 2000. XII, 589 S.

 

Die von Peter Walter betreute, im Wintersemester 1998/1999 von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. angenommene Dissertation widmet sich einem Begriff, der sowohl im theologischen als auch im juristischen Kontext eine zentrale Bedeu­tung für sich beanspruchen kann. Der bereits in seiner Grundbedeutung: Übereinstimmung, Einigkeit, Harmonie, sehr komplexe Begriff Konsens findet in beiden Disziplinen auf zwei verschiede­nen Ebenen Verwen­dung. Konsens kann einerseits die fundamentalen Gemeinsam­keiten bezeichnen, die in einer Gesellschaftsordnung als Grundlage und Voraussetzung einer gemein­samen Glaubens- oder Rechtsordnung bestehen. Andererseits kann ein Konsens das Ergeb­nis eines Meinungsbildungsprozesses darstellen, das, ausgehend von einer kontro­versen Inter­essenlage, auf einer gemeinsamen Suche nach Ver­ständi­gung gefunden wurde. Ein solches Ergebnis kann sich in Form eines Beschlusses eines kirch­lichen Gremiums oder schlicht in Form von Verträgen zeigen, wie sie alltäglich von den Menschen geschlossen werden, um ihre persönlichen Verhält­nisse ihren Vor­stellungen und Interessen gerecht werdend zu regeln. Steht in der Rechts­wissen­schaft, zumindest in quantitativer Hinsicht, die zuletzt beschriebene Bedeu­tungs­ebene des Konsenses als Ergebnis im Vordergrund, so kommt im theologi­schen Bereich dem Konsens als Grundlage, als Zustimmung zu Gottes Handeln an den Menschen und an der Welt zentrale Aufmerksamkeit zu. Dies gilt insbesonde­re für den historischen Zeitraum, dem sich Becht in seiner Unter­suchung widmet. Gerade die Ereignisse des Reforma­tionsjahrhunderts mußten die Frage des Beste­hens und der Erhaltung jenes christlichen Grundkonsenses auf­werfen. Die vom Verfasser untersuchten Werke Erasmus' von Rotterdam, Philipp Melanchthons und Johannes Calvins, dreier Persönlichkeiten, die jeweils eine der bedeutenden Strömungen der Reformationszeit verkörpern, spiegeln Fragen und Antworten der Zeit wider, die an den Begriff des Konsenses geknüpft sind. Die gewis­senhafte, jeweils die quantitative wie qualitative Verwendung des Begriffes und Begriffs­feldes beleuchtende Untersuchung des Verfassers begnügt sich nicht mit einer ober­flächlichen Betrach­tung, sondern ermöglicht ein tiefergreifendes Ver­ständnis der von Calvin, Melanchthon und Erasmus vertretenen Positionen.

Die Arbeit ist, dem Untertitel entsprechend, in drei Hauptkapitel geglie­dert. Vorangestellt ist eine relativ knappe Einleitung, die zunächst auf mehreren We­gen, vom Allgemeinen zum Beson­deren schreitend, an den Forschungs­gegen­stand heranführt. Erörtert wird der all­gemeine Sprachgebrauch, die Bedeutung des Konsensargumentes im Rahmen der philo­sophischen Frage nach der Wahrheit, in der gegenwärtigen Theologie, der christli­chen Tradition und das Thema des Konsenses in den theologischen Kontroversen der Reforma­tionszeit. Abgeschlos­sen wird die Einleitung mit der Erläuterung der Zielsetzung der Arbeit, des For­schungsstandes und der Methodik.

Der Verfasser hat sich zum Ziel gesetzt, in die gegenwärtige Diskussion um den Ort und den Sinn von Konsens in der Kirche den Beitrag des frühen 16. Jahrhunderts einzubringen, um dem aus seiner Sicht häufig undifferenziert ge­brauchten Konsensbegriff aus der Per­spektive der Reformationszeit ein schärferes Profil zu geben (S. 17). Weiterhin soll ein Beitrag zur Begriffsgeschichte des Wortes Konsens geleistet werden (S. 18), indem die Arbeit ihren Ausgang vom konkreten Sprachgebrauch der drei untersuchten Autoren nimmt. Dem Sprach­gebrauch komme für den Untersuchungszeitraum eine besondere Bedeu­tung zu, da die Bewegung des sog. Renaissancehumanismus ganz wesentlich von der Neube­wertung des Mediums Sprache bestimmt sei (S. 20). Angesichts der Kom­plexität des Begriffes könne Voll­ständig­keit im Sinne einer auch nur annä­hernden Ermittlung des Konsensbegriffes in der Reformations­zeit jedoch nicht geleistet werden (S. 23).

Die systemati­sche Analyse, die der Verfasser in den drei Hauptkapiteln der Arbeit für jeden der drei bedeutenden Theologen vornimmt, stellt zunächst die Frage, in welcher Gestalt und in welchem Kontext sich in ihren Schriften der Konsensbegriff und dessen Derivate finden, um in einem zweiten Schritt die theologische Funktion der Begriffs­ver­wendung zu erforschen. Der Verfasser unter­sucht insbesondere, welche Bedeutung dem Konsens­gedanken innerhalb der zen­tralen Diskussion der Zeit zugemessen wird, ob er mit theologi­schem Gehalt versehen ist oder lediglich formelhaft gebraucht wird (S. 22).

Das erste Hauptkapitel der Untersuchung widmet sich dem Werk Erasmus' von Rotterdam. Insgesamt 1030mal hat der Verfasser die Verwendung des Begriffes consensus und verwandter Alternativbegriffe dort registriert. Der Begriff werde in unterschiedlicher Häufung, aber doch durchgängig in allen Phasen seines Wer­kes gebraucht (S. 35). Die gründli­che sprachliche Analyse des Verfassers zitiert beispiel­haft eine Vielzahl der Begriffskombinationen und gram­mati­ka­lischen Erschei­nungsformen des Wortfeldes, die einen plastischen Eindruck des Verwen­dungs­zusammen­hanges vermitteln (S. 36-69). Im Rahmen der an­schließen­den inhaltli­chen Analyse wird zunächst der Kontext der Begriffsver­wendung darge­stellt, wobei der Verfasser eine Gliederung nach Begriffspaaren wie beispielsweise Konsens und Natur, Konsens und Autorität, Konsens und Wahrheit vornimmt. Den weitesten Raum nimmt hierbei der Themenbereich Konsens und Kirche ein (S. 138-193), aus juristischer Sicht ist der Komplex Konsens und Ehe (S. 73-94) von beson­derem Interesse. Der Charakter der Ehe und die Möglichkeit der Eheschei­dung waren im 16. Jahrhundert kontrovers diskutierte Problemfelder am Schnitt­punkt der theolo­gi­schen und der juristischen Disziplin. Im Ergebnis stellt der Verfasser fest, daß Erasmus keine eigentliche Konsenslehre im Sinne einer konsisten­ten und durch­dachten Theorie entwickelt habe, wodurch die Verwendung des Konsensbegriffes in seinem Werk nicht immer völlig ausgewogen erscheine. Andererseits müsse die hohe Wertschät­zung betont werden, die Erasmus dem Kon­sensargument ent­gegengebracht habe. Großes Vertrauen habe er in die ein­mütige Überzeugung der vielen gehabt, besonders wenn diese noch vom Zeugnis des Altertums bekräftigt und vom einmütigen Urteil der Gelehrten gestützt werde. Trotz des Fehlens einer ausgebildeten Lehre sei festzustellen, daß Erasmus den Begriff eben nicht nur in unspezifischer Weise für eine wie auch immer beschaf­fene Überein­stimmung gebrauche, sondern ihn im Kontext zentraler Fragestel­lungen wie Autori­tät, Schrift und Kirche als einen theologisch gefüllten Begriff ver­wende. Der consensus könne als Zen­tralbegriff erasmischen Denkens, einge­bettet in dessen Vorstellung einer auf Harmonie und Einklang angelegten Welt, verstanden werden (S. 210f.).

Auch in den Werken Melanchthons registriert der Verfasser eine außerordent­lich häufige Ver­wendung von Begriffen aus dem Wortfeld consensus. In allen Phasen seines Lebens habe Melanchthon in unterschiedlichen Zusammenhängen vom Konsensargument Gebrauch gemacht (S. 224). Wie im ersten Hauptkapitel erfolgt zunächst eine sprachliche Analyse mit der Darstellung der grammatikali­schen Erscheinungsformen und verwendeten Begriffskom­binationen (S. 225-250). Obwohl die Begriffsverwendung in Melanchthons Werk sich nach den Ergebnis­sen des Verfassers durchaus nicht nur auf den Bereich kirchlichen Lebens beschränkt, bildet zu Recht die Betrachtung des consensus ec­clesiae den Schwerpunkt seiner inhaltlichen Analyse. Der dem Wittenberger Reformator entgegengebrachte Vorwurf, aus dem Konsens der Kirche auszuscheiden, mußte dessen Auseinander­setzung mit diesem Problemkreis herausfordern und der von ihm vertretenen Position besondere Bedeutung verleihen. Als Zwischenergebnis ermittelt Becht zunächst, daß der Konsens für Melanchthon keinen absoluten Wert dargestellt habe, sondern nur dann, wenn eben dieser Konsens auch auf der Grundlage von Wahrheit beruhe (S. 345). Weiterhin lege Melanchthon die Überlegung zugrunde, daß sich der consensus ecclesiae vor dem Horizont einer sich verändernden historischen Situation durchaus in seiner Gestalt ändern könne, wobei man für die Ermitt­lung der Inhalte auf die Gebildeten der Kirche der jeweiligen Zeit ver­wiesen sei. Der Verfasser veranschaulicht Melanch­thons Vorstellung mit dem Bild, daß an einen Kern mit der doctrina evangelii zu denken sei, um den sich - entsprechend dem geschichtlichen Fortgang der kirchlichen Schriftauslegung und Schriftverkündung - in konzentrischen Kreisen die Schriften des Alten und Neuen Testamentes, die Symbola und die Väterschriften bis hin zur Confessio Augusta­na, die die Refor­matoren als das „nostri temporis Symbolum“ verstanden, legten (S. 362).

Auch im Werk Johannes Calvins stellt Becht eine hohe Bedeutung und Wert­schätzung des Konsensgedankens fest, der vom bisheri­gen Gang der Calvinfor­schung jedoch relativ wenig Beachtung geschenkt worden sei (S. 368, 443). 1550 mal konnten Varianten des Wortfeldes ermittelt werden, die sich zeitlich über alle Lebensphasen des Reformators verteilen. Beson­ders sei bei Calvin die volks­sprachli­che Verwendung zu berücksichtigen, da diese für ihn als Vermittlungs­medium einen weit höheren Stellenwert eingenommen habe als für Melanch­thon (S. 372). Wie Melanch­thon betone jedoch auch Calvin die Bedeutung der Wahr­heit als Grundlage (S. 366, 472ff.). In stärkerem Maße als die Werke Erasmus' und Melanchthons sei das Werk Calvins spezi­fisch theologisch geprägt, was sich auch in den thematischen Zusammen­hängen zeige, in denen Begriffe des Wortfel­des vorkommen. Großen Raum beanspruchten jene Aussagen, die um die für ihn zentrale Frage des rechten Gottes­dienstes kreisen (S. 405, 529). Ein gewisses Spannungsverhältnis in Calvins Konsensverständnis resultiere daraus, daß einer­seits der Konsens der Kirche auf dem Boden der Schrift er­wachsen müsse, anderer­seits die Gemeinde nicht auf den auslegenden Dienst der einträchti­gen Kirche verzichten könne. Dies stelle jedoch keinen Zirkelschluß dar, sondern gehöre zu jener grundsätzlichen Dialektik von Vorgabe und Ziel, die sowohl die christliche Existenz im allgemeinen als auch den consensus ecclesiae im besonde­ren kennzeichne (S. 530).

Im Schlußkapitel der Arbeit faßt Becht die ermittelten Ergebnisse in konzen­trierter Form zusammen und schlägt eine Brücke zur Gegenwart. Wenig über­raschend ist dabei die Aussage, eine zentrale Botschaft der unter­suchten Quellen sei, daß die Bewahrung und Herstellung von Übereinstimmung in der Kirche ein schwieriges Unternehmen ist, das selten gelinge und seine Ursache in der menschlichen Natur habe. Schwerer wiegt dagegen die bereits von Me­lanch­thon ausgesprochene Mahnung, die Kirche müsse sich vor allem der „Liebe zur Wahr­heit“ und der „Sorge um den schützenden Konsens der Gottesfürchtigen“ als ihrer beiden „heilsamsten Tugenden“ annehmen (S. 545f.).

Der Wert der Untersu­chung folgt aus den gebotenen, disziplinüber­grei­fend interessanten Einblicken in die Gedankenwelt des 16. Jahrhunderts. Dar­über hinaus regt sie für die Gegen­wart dazu an, auch in ihrer Bedeutung so festgefügt schei­nenden Begriffen Aufmerksamkeit zu schenken, ihre Inhalte und ihre Ver­wendung zu hinterfragen.

 

Halle (Saale)                                                                                                        Ralf Fras­sek