FiedlerBülow20010222 Nr. 795 ZRG 119 (2002) 85

 

 

Bülow, Birgit von, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945-1952) (= Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts 2). Berlin-Verlag/Nomos, Berlin/Baden-Baden 1996. 213 S.

 

Die Schaffung der neuen Bundesländer und die Eingliederung in die Bundesrepublik Deutschland bieten den äußeren Anlaß für diese willkommene Untersuchung eines heiklen Themas. Die deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte kennt in den letzten zweihundert Jahren eine Reihe von Umbrüchen, die sich bis in die letzten Jahre fortsetzen. Immer war die Frage gestellt, wie das Verhalten der Staatsrechtslehrer vorher und nachher zu beurteilen sein könnte, folglich auch das spezielle Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre zum Nationalsozialismus. Dies wird von der Autorin, die bei Bernhard Schlink promovierte, in einer empfehlenswerten Publikation zum Thema gemacht. Die Arbeit entstand zwischen 1991 und 1994 in Bonn und Berlin und führt zu einer interessanten Aufarbeitung der Nachkriegszeit. Gleichzeitig wird bewußt, wie lange Zeit inzwischen vergangen ist und wie schwierig es ist, die Verantwortlichkeiten zu personalisieren. Die Arbeit widmet sich speziell der Staatsrechtswissenschaft, obwohl gelegentlich der Eindruck entsteht, als seien die Juristen schlechthin gemeint. Denn schon in der Einleitung stellt die Verfasserin fest, daß der Anteil ehemaliger Nationalsozialisten unter den Rechtswissenschaftlern deshalb die Aufmerksamkeit erregt, weil sich die „Juristen in Universität und Staatsämtern oft genug zu den Hütern von Recht und richtigem Handeln bestimmt haben und deswegen besondere Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen“.

Interessant ist, warum die Autorin gerade den Zeitraum von 1945 bis 1952 ausgewählt hat. Der Zeitraum von 1933 bis 1945 erscheint dagegen als selbstverständlich. Die Dimensionen haben sich freilich bis heute verschoben, die Zahl der an der Diskussion Beteiligten ist nicht oder nur schwer zu vergleichen mit der heutigen Mitgliedschaft in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Denn aus den damals zugrunde zu legenden etwa 90 Mitgliedern sind heute über 300 geworden, so daß eine pauschale Erörterung der einzelnen Namen sehr schwer fällt. Von den 90 Mitgliedern der Staatsrechtslehrervereinigung äußerten sich lediglich 50 zu aktuellen Fragen. Offen bleibt ohnehin, welche Eigenschaft ein Rechtswissenschaftler mitbringen mußte, um als Nationalsozialist bezeichnet zu werden. Seine Hinwendung zum Kaiserreich oder zur Weimarer Republik reichten zu einer entsprechenden Einstufung offensichtlich nicht. Überhaupt fällt es offensichtlich schwer, eindeutige Urteile abzugeben über die Verstrickung mit dem Nationalsozialismus. Die Verfasserin geht davon aus, daß nach 1945 bis 1949 eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus fast vollständig unterblieb (S. 33).

Im zweiten Kapitel überprüft die Verfasserin vier Themen der Staatsrechtslehre, die zur Diskussion standen. Einmal geht es um die Parteienstaatsdiskussion (S. 35ff.). Ferner um die Gerichtskontrolle der Staatsführung und das Verhältnis von Recht und Politik (S. 62ff.), um die Diskussion um das vorzugswürdige Regierungssystem (S. 80f.) sowie um die Naturrechtsdiskussion (S. 100ff.). Hierzu beurteilt die Verfasserin mündliche und schriftliche Äußerungen bis 1952.

Das dritte Kapitel ist demgegenüber der Zeit zwischen 1933 und 1945 gewidmet. Hier fällt auf, daß zwar eindeutige Befürworter des Nationalsozialismus gefunden werden können (S. 153ff.), daß aber die Abgrenzung im Übrigen sehr schwer fällt. Die Verfasserin bemüht sich ernsthaft um das Thema der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, ohne allerdings selbst eine Antwort auf die entsprechende Fragestellung zu liefern oder eine überzeugende Einstufung vornehmen zu können. Gelegentlich kommen der Verfasserin offenbar selbst Zweifel an der Verteilung entsprechender Bewertungen, wenn sie etwa die Orientierung an formalen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus behandelt (S. 159). Interessant ist, wie die Gruppe der zum Nationalsozialismus schweigenden Staatsrechtslehrer zusammengesetzt ist (S. 160ff.) und wie die Gruppe der exponierten Gegner des Nationalsozialismus aussieht (S. 163ff.). Die Verfasserin hat zwar gesehen, daß eine Reihe von Persönlichkeiten bei der Gründungsversammlung der Staatsrechtslehrervereinigung nicht anwesend war, und auch später keine Aufnahme fand (S. 166f.) aber es ist fraglich, ob die von der Verfasserin gewählte Methode des Abstempelns einzelner Personen zutrifft oder nicht. Wie es scheint, war die Kategorie der „Mitläufer“ noch nicht hinreichend etabliert, um die Staatsrechtslehrer mehrheitlich zu erfassen. Nach wie vor bleiben viele Fragen offen. Da die Verfasserin auch die Veröffentlichungen bis 1952 überprüft, kann sehr fraglich sein, ob diese Methode entsprechenden Erfolg haben kann. Eine herausragende Rolle spielt dabei die Stellungnahme zu antipluralistischem und demokratieskeptischem Denken (S. 147). Ob eine Tendenz zu obrigkeitsstaatlicher Staatsrechtslehre gleich die Schublade des Nationalsozialismus öffnen kann, bleibt unklar.

Die Verfasserin geht von der klaren Unterscheidbarkeit der Positionen aus, verschafft allerdings manchen zweifelhaften Gestalten dadurch einen Heiligenschein wie etwa Abendroth, den sie als „Demokraten“ bezeichnet (S. 167). Das abschließende „Bild der Staatsrechtslehrer der Nachkriegszeit“ gelangt zu einer starken persönlichen Kontinuität der Staatsrechtslehrer trotz des Bruches von 1945 (S. 187f.). Als Ergebnis der Arbeit zeigt sich die Unmöglichkeit, klare Einstufungen vornehmen zu können.

Das Literaturverzeichnis (S. 189ff.) bringt manche Publikation wieder ans Tageslicht, die man besser vergessen hätte. Immerhin ist auf diese Weise gesichert, daß die entsprechenden Schriften noch gelesen werden können. Sehr nützlich sind auch das Stichwortregister am Ende des Bandes (S. 207ff.) und das Personenregister (S. 211ff.). Die Publikation weist darauf hin, daß bei der Beurteilung der Vergangenheit manche weiße Flecken bestehen, die noch bearbeitet werden müssen. Das gilt auch etwa im Bezug auf osteuropäische Länder und den Gesamtvorgang der Vertreibung aus diesen Ländern. Weiße Flecken dieser Art machen deutlich, daß noch viel Arbeit auf die jetzt aktive Generation wartet, auch wenn es sich um ein unangenehmes Thema handelt. Ganz ausgespart ist die ehemalige Deutsche Demokratische Republik, deren Repräsentanten auch im Bereich des Rechts Halt suchten. Auch hier wäre manche Problematik zu erörtern, aber das war kein Thema der Autorin. Der Verfasserin ist es gelungen, die Diskussion über die personellen Faktoren der Umbrüche in Deutschland wieder anzufachen. Warum im Einzelfalle mancher Name einer öffentlichen Verfolgung ausgesetzt war, andere Namen aber in bester Erinnerung blieben, bleibt nach wie vor ein Geheimnis. Kennzeichnend ist, wie viel Zeit vergehen mußte, um die Thematik wieder aufzunehmen. Es mag dabei wenig deutlich erscheinen, daß die damals aktiven Personen diese Zeit nicht hatten.

 

Saarbrücken                                                                                                     Wilfried Fiedler