EisenhardtMüllersybille20010801 Nr. 10266 ZRG 119 (2002) 45
Müller, Sibylle, Gibt es Menschenrechte bei Samuel Pufendorf? (= Rechtshistorische Reihe 231). Lang, Frankfurt am Main – Berlin – Bern – Brüssel – New York – Oxford – Wien 2000. XLII, 166 S.
Angesichts der nach wie vor aktuellen Diskussion um die
Frage, ob die Menschenrechte einen überall und allgegenwärtigen Hintergrund
haben oder ob sie doch entwicklungsspezifisch und kulturell ausgerichtet sind,
stößt eine Arbeit auf Interesse, welche die Frage zu beantworten sucht, ob sich
die Existenz von Menschenrechten ein Jahrhundert vor der französischen
Menschenrechtsdeklaration im Naturrechtssystem Pufendorfs nachweisen lässt.
In der Frage nach dem Zweck des Staates, die das vom Naturrecht beeinflusste neue Staatsdenken stellte, war zugleich die weitere Frage nach der Stellung des Menschen zum Staate angelegt. Sie zielte darauf ab, die Beschränkung der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen zu bestimmen, wie sie sich für den Bürger nach der Auffassung der Zeit durch seinen Eintritt in den Staat aus dem Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag und dem dadurch festgesetzten Staatszweck ergab. Die Wende zur neueren Naturrechtsauffassung und zur rein naturrechtlichen Grundlegung von Recht und Staat vollzogen in Deutschland Samuel Freiherr von Pufendorf und Christian Thomasius. Die Frage, ob man Pufendorf als Vordenker, als Wegbereiter des Menschrechtsgedankens bezeichnen kann, ist in der Literatur bereits behandelt, jedoch, wie die Verfasserin meint, mit unzureichenden Begründungen. Diese Lücke will sie mit ihrer von Jan Schröder betreuten Dissertation schließen.
Nachdem sie Leben und Werk Pufendorfs vorgestellt hat, versucht die Verfasserin „in Konturen“ festzulegen, was unter dem Begriff Menschenrechte zu verstehen sei. Methodisch geht sie dabei so vor, dass sie Pufendorfs Gedanken in einen Vergleich zu abstrakt formulierten Menschenrechtsmerkmalen stellt, wie sie im 18. Jahrhundert verstanden worden sind und etwa in der Virginia Bill of Rights (1776) ihren Niederschlag gefunden haben. Das bedeutet, dass bei Pufendorf Menschenrechte zunächst als Prinzipien zu untersuchen sind und nicht als unmittelbar geltende und durchsetzbare Rechtssätze. Die so verstandenen Menschenrechte sind angeborene und unveräußerliche Rechte in einem herrschaftsbegrenzenden Freiraum, der die Selbstbestimmung der Bürger voraussetzt; die Abwehrsubstanz als Menschenrechtsmerkmal setzt ein entsprechendes Bewußtsein der Bürger voraus. Die Verfasserin läßt hier offen, ab wann man von einem Bürger dieser Qualität sprechen kann, dem ein entsprechendes Bewußtsein zugebilligt werden kann.
Mit der so gefundenen Definition der Menschenrechte wendet sich die Verfasserin im Hauptkapitel der Frage zu, ob es bei Pufendorf Menschenrechte gegeben hat. In Teil 1 dieses Kapitels geht es um die Suche nach Ansatzpunkten für die Existenz von Menschenrechten in Pufendorfs System (S. 21-94), in Teil 2 um die Menschenrechte im einzelnen (S. 95-148). Teil 3, der das Hauptkapitel beschließt (S. 149-162), beschäftigt sich mit dem Einfluß Pufendorfs auf die amerikanischen Menschenrechtserklärungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts.
Um zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen, geht die Verfasserin also so vor, dass sie zunächst anhand des Pufendorfschen Werkes untersucht, ob dort – in seinem „System“ – Ansatzpunkte für die Existenz von Menschenrechten zu finden sind. Sodann versucht sie, einzelne Menschenrechte aufzufinden. Sie knüpft also - methodisch gelungen - ein doppeltes Netz.
„Ideelle Wurzeln der Menschenrechte“ lassen sich, falls vorhanden, nach Ansicht der Verfasserin in „drei Gruppen“ – sprachlich ist dies wohl nicht ganz gelungen und mißverständlich – finden: 1. bei Individualismus und Menschenbild, 2. in der Rechtstheorie und 3. in der Staatstheorie.
In Bezug auf den Individualismus stellt die Verfasserin einen Vergleich mit Locke an, der die von ihm formulierten Rechte vom Individuum her entwickelt; Pufendorfs Naturrecht hingegen habe eine soziale Ausrichtung, lasse aber der Individualität für die Entfaltung der Menschenrechte zu wenig Raum. Die Verfasserin stimmt darin mit H. Denzer überein. Was das Menschenbild bei Pufendorf angeht, so gelangt die Verfasserin aufgrund einer Auswertung seiner Schriften und unter Einbeziehung der Literaturmeinungen zu dem Ergebnis, dass die von ihm anerkannte Menschenwürde zur Entstehung von Pflichten zur Regelung des sozialen Lebens, nicht aber zu Rechten der Menschen führt.
Nachdem die Verfasserin weder beim Individualismus noch beim Menschenbild Pufendorfs Ansätze für die Entwicklung von Menschenrechten gefunden hat, sucht sie danach in der Rechtstheorie. Dabei geht es u. a. um die Frage, ob sich bei Pufendorf Rechte und Pflichten gegenseitig bedingen, wie es die Idee der Menschenrechte erfordert. Bei der Beantwortung dieser Frage legt die Verfasserin besonderen Wert auf die Frage, ob die Korrelation von Rechten und Pflichten auch auf der Ebene Herrscher-Untertan Bestand hat. Anhand der Schriften Pufendorfs wendet sie sich - mit durchaus überzeugenden Argumenten - gegen die These (Randelzhofer), Pufendorfs Pflichtenlehre beinhalte keine freiheitsbeschränkende Funktion und ermögliche die Ausbildung von Rechten; die Überbetonung von Pflichten lassen für die Ausbildung von Menschenrechten keinen Raum. Die Verfasserin mag auch keine Trennung von Recht und Moral bei Pufendorf feststellen, die den Staat aus dem Bereich der Sittlichkeit verweist und damit die individuelle Freiheit als Voraussetzung für die Entwicklung von Menschenrechten stärkt.
Es bleibt die Staatslehre. Auch in dieser findet die Verfasserin keine ausreichenden Ansatzpunkte für den Nachweis von Menschenrechten bei Pufendorf. Eine strenge Überprüfung der Vertragstheorie führt die Verfasserin zu der Schlußfolgerung, dass, während bei Locke der Naturzustand als Grundlage für die Entwicklung der Rechte der Bürger diene, er bei Pufendorf den Zweck habe, die Basis für die Begründung und Notwendigkeit der Herrschaft zu sein; die natürlichen Rechte blieben in den Naturzustand verbannt. In der Pufendorfschen Staatszwecklehre soll – so die Verfasserin – im Gegensatz zu Locke das Bestimmungsrecht des Herrschers so ausgeprägt sein, dass kein gesicherter Freiraum existiert, der als staatsfreie Sphäre Menschenrechte entstehen lassen kann. Die Verfasserin meint auch davon ausgehen zu dürfen, dass eine die Menschenrechtsidee fördernde Trennung von Staat und Gesellschaft bei Pufendorf nicht nachweisbar ist. Sie räumt allerdings ein – und dies ist auch ein durchaus interessanter Aspekt der Untersuchung ‑, dass Pufendorf der Würde des Menschen eine besondere Bedeutung zumißt, allerdings ohne den Begriff Menschenwürde mit den Rechten der Menschen zu verbinden.
Das bisher gewonnene Ergebnis wird nun in einem zweiten Teil so überprüft, dass nach den wichtigsten Menschenrechten – Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Widerstandsrecht, Religionsfreiheit –im Werk Pufendorfs geforscht wird. Die Verfasserin beginnt mit dem Widerstandsrecht, das zum Kernbestand der Menschenrechte zählte und schon in den ersten Menschenrechtsdeklarationen seinen Niederschlag gefunden hatte. Mit einem Teil der Literatur ist die Verfasserin sich darin einig, dass Pufendorf zwar ein Widerstandsrecht anerkennt, es aber zugunsten eines stabilen Staates so stark einschränkt, dass es „auf eine rein theoretische Größe schrumpft“. Gleichwohl hebt sie hervor, Pufendorf sei seiner Zeit damit vorausgewesen; er habe aber dem Widerstandsrecht noch nicht den die Menschenrechte förderlichen Inhalt beigemessen, „es noch nicht mit der Vorstellung von Rechten verbunden, die durch keine staatliche Rechtsordnung ungültig gemacht werden können“. Die Verfasserin wendet sich dann Freiheit und Gleichheit zu und untersucht, ob Pufendorf deren grundlegende Elemente erkannt und bestimmt hat. Sie meint, entgegen Teilen der Literatur, von unveräußerlicher Freiheit und Gleichheit und damit von Menschenrechten könne bei Pufendorf nicht die Rede sein; sie schienen in den Naturzustand verbannt zu sein. Pufendorfs großzügig gestaltetes Auswanderungsrecht erklärt die Verfasserin „als Ausnahme unter historischen Bedingungen“; Pufendorf habe geglaubt, auf diese Art und Weise eine dauerhafte Friedenssicherung erreichen zu können. Die Sicherung des Friedens ist auch das Argument für die Beschränkung der Meinungsfreiheit und der Lehrfreiheit. Breiter Raum ist der Religionsfreiheit gewidmet. Die Verfasserin arbeitet heraus, dass Pufendorf wegen seiner eigenen Bindung an den Protestantismus weder eine generelle Toleranz noch religiöse Freiheit befürwortet. Wenn Pufendorf auch ein großzügig interpretiertes Eigentumsrecht garantieren will, so betont er doch dessen Begrenzung durch die Staatsgewalt, nicht zuletzt zur Begründung sozialer Pflichten, und zwar nach Ansicht der Verfasserin so sehr, dass den Anforderungen, die an den „menschenrechtlichen Eigentumsbegriff“ zu stellen sind, noch nicht genügt ist. Gemeint ist wohl: Es fehlt eine hinreichende gedankliche Verknüpfung von Eigentum und persönlicher Freiheit. Dem zu folgen fällt nicht leicht.
Die Verfasserin beendet diesen zweiten Teil, ohne ein Fazit zu ziehen, und untersucht dann, ob ein Einfluß Pufendorfs auf die amerikanischen Menschenrechtserklärungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts festzustellen ist. Angesichts des bisher gefundenen Ergebnisses erstaunt diese Fragestellung. Die Verfasserin setzt sich mit der Welzelschen These auseinander [H. Welzel, Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (John Wise und Samuel Pufendorf), in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte. Wege der Forschung Band XI, 1964, S. 238ff.], Pufendorfs Einfluß auf die amerikanischen Menschenrechtserklärungen sei über John Wise nachweisbar. Wenn sich Wise – so die Verfasserin - auch auf das Pufendorfsche Naturrechtssystem beruft, so läßt sich doch nicht nachweisen, dass die Revolutionäre dieses überhaupt zur Kenntnis genommen haben. Im Hinblick auf die Kernfrage, ob die amerikanischen Menschenrechtserklärungen von Pufendorf beeinflußt waren, gelangt die Verfasserin zu einer differenzierenden Betrachtung. Als Naturrechtler gewann Pufendorf auch in Amerika Autorität. Zur Begründung der Menschenrechte bezog man sich allerdings nicht auf Pufendorf, sondern auf Locke und andere. Das Interesse an Pufendorf führt die Verfasserin zurück auf die in „seiner Lehre existierenden Denkmöglichkeiten zur Begründung der staats‑ und völkerrechtlichen Interessen Amerikas gegenüber England“. Die Verfasserin resümiert zu diesem Komplex, Pufendorf sei „Teil der naturrechtlichen Entwicklungsreihe“; eine konkrete Mitwirkung an der Ausbildung von Menschenrechten sei ihm nicht zuzuschreiben. Mit dem Satz „Zwar aus ihm, aber nicht durch ihn“ seien die Menschenrechte entstanden, relativiert die Verfasserin ihre bis dahin gefundenen Ergebnisse recht deutlich.
In einem „Schlussfazit“ faßt die Verfasserin ihre Thesen noch einmal zusammen, mit denen sie begründet, dass bei Pufendorf noch keine ausreichenden Ansatzpunkte für die Bildung und Existenz von Menschenrechten vorhanden gewesen sind:
1. Pufendorf wünschte einen starken und stabilen Staat mit einem starken Herrscher; das war der Grund dafür, dass es nicht gelang, der Staatsgewalt gültige, tatsächlich verbindliche Machtschranken zu errichten.
2. Dazu kommt eine starke Betonung des Gemeinwohlaspektes, der eine „ausreichende Freisetzung des einzelnen Menschen aus dem gesellschaftlichen Ganzen“ nicht zuläßt.
3. Schließlich bleiben die für den Naturzustand aufgestellten Prinzipien der natürlichen Freiheit und Gleichheit auf diesen beschränkt.
Der Wert der vorliegenden Arbeit besteht vor allem in der sorgfältigen Analyse des Pufendorfschen Werkes. Verbunden mit der von ihr gewählten Methode gelangt die Verfasserin in kritischer Auseinandersetzung mit der Literatur zu interessanten und neuen Ergebnissen, die die Diskussion um die Entwicklung der Menschenrechte anregen werden. Die These, „zwar aus ihm, nicht aber durch ihn“ seien die Menschenrechte entstanden, nimmt manchen anderen zuvor niedergelegten Teilergebnissen über Pufendorf und die Menschenrechte ein wenig die Schärfe. Der Einfluß Pufendorfs auf die amerikanischen Menschenrechtserklärungen ist mit Augenmerk gewertet. Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Entwicklung der Menschenrechte.
Hagen Ulrich Eisenhardt