DilcherProdi20001003 Nr. 10124
ZRG 119 (2002) 03
Prodi, Paolo, Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al
moderno dualismo tra coscienza e diritto (= Collezione di Testi e di Studi).
Società editrice il Mulino, Bologna 2000. 499 S.
Una storia della giustizia ‑
das läßt sich übersetzen als Geschichte der Gerechtigkeit, aber ebenso als
Geschichte der Justiz, der Gerichtsbarkeit. Von beidem handelt in der Tat
dieses Buch, und damit auch in ganz zentraler Weise von dem, was zwischen dem Gedanken
der Gerechtigkeit und den Urteilen der Gerichte steht: Dem Begriff von Recht.
Also ein eminent rechtshistorisches Buch, geschrieben von einem „Allgemein“‑Historiker,
Paolo Prodi, der den Rechts‑ und Verfassungshistorikern schon,
außer seinem Buch über den „papal prince“ durch das Buch über den Eid als
Sakrament der Herrschaft wohlbekannt ist.
Es scheint, daß die
erkenntnisleitenden Perspektiven für einen Entwurf der Geschichte des Rechts
immer mehr nicht aus dem Juristischen, sondern von außerhalb, aus der
Sozialgeschichte (als Verfassungsgeschichte) oder aus der Geschichte der
Religion kommen. Dies letztere ist die Paolo Prodi bedrängende
Perspektive, bedrängend deshalb, weil ihm, ähnlich wie Herold Berman,
die Frage nach dem Ende des westlichen Rechts‑Paradigmas vor Augen steht,
wenn Recht und religiöse Bindung sich vollständig voneinander lösen, die
Gerechtigkeitsfrage sich mithin auflöst in der Positivität und Autonomie des
Rechts. Die ersten beiden Fußnoten des Buches nehmen denn auch zum einen auf John
Rawls, als Versuch eines Fortdenkens kantianischer Tradition, zum anderen
auf Jacques Ellul, Fortdenken der christlichen Rechtsbegründung im
Zeitalter der Säkularisation, Bezug.
Paolo Prodi hat also eine substantielle Fragestellung, die er anfangs
entfaltet, die ihn bei dem langen Gang durch die Geschichte begleitet, auf die
er im Schlußkapitel eine Antwort im Hinblick auf die Gegenwart zu geben sucht.
Eine unglaubliche Belesenheit in der italienischen, deutschen, englisch‑amerikanischen,
französischen und spanischen Literatur befähigt ihn, die schwierigsten Probleme
ungeheuer dicht und auf dem neuesten Diskussionsstand zu behandeln. Die
Geschichte der christlichen Religiosität und Theologie und des kanonischen
Rechts bilden die Leitlinie, wobei sich einmal mehr die kirchliche
Rechtsgeschichte nicht nur als das offenste und bedeutendste Forum der
internationalen Diskussion, sondern auch als die interdisziplinäre Achse, auf
der Theologie, Philosophie, politische Theorie und Recht konvergieren, herausstellt;
man könnte auch sagen, wo die für die Prägung der Gesellschaft maßgebenden
normativen Systeme sich treffen. In der Tat ist man als Leser oft versucht, die
Gedankengänge Prodis in systemtheoretische Kategorien zu fassen, auch wenn
Prodi eher historisch‑hermeneutisch vorgeht: Die von ihm vorgeführten
Verlagerungen von Problemlösungen auf forum
internum und forum externum, auf
Gewissen oder Rechtszwang, auf kirchliche oder weltliche Institutionen, auf
Gesellschaft oder Staat, zeigen überaus deutlich, wie eine nur innenrechtliche
(oder nur philosophischgeistesgeschichtliche) Geschichte der „Giustizia“ der
Vielzahl der Foren, dem „pluralismo dei ordinamenti“, die im Spiel sind, nicht
gerecht wird. Jedenfalls sieht Prodi am Ende dieses von ihm entwickelten, für
die europäische Geschichte als konstituierend angesehenen Pluralismus eine
Selbstreferenzialität des Rechts, die gleichzeitig dessen Eindimensionalität,
beliebige Verfügbarkeit und Stagnation bedeutet.
Prodi holt weit aus: Am Anfang
steht ihm die Begegnung und Konfrontation griechischer Philosophie und des
jüdischen Monotheismus an den Anfängen des Christentums, Jerusalem und Athen.
Dann erst folgt die innere Begegnung mit Rom und die Verbindung von Reich und
Kirche, die mit innerer Notwendigkeit die Ausbildung eines Dualismus der Foren
zur Folge hat, die der Unterscheidung von menschlicher und göttlicher
Gerechtigkeit entspricht. Über Abälard und die „päpstliche Revolution“ führt
das dann nach Gratian auch innerkirchlich zum Dualismus des Kirchenrechts auf
der einen und des Bußsakraments auf der anderen Seite; der Anordnung der
jährlichen Beichtpflicht für jeden Gläubigen auf dem IV. Laterankonzil 1215
wird eine entscheidende Bedeutung für die Ausbildung des abendländischen
Rechtsbewußtseins zugemessen. Auf dieser Grundlage kann dann in Kapitel III. „Utrumque ius in utroque foro“ eine
Behandlung zentraler Fragen der europäischen Rechtsgeschichte angegangen
werden: Naturrecht und römisches Recht, die Frage des ius commune, universales und partikulares Recht, die Geburt des
öffentlichen Strafrechts, die Unterscheidung von kanonischem und Zivilrecht
sowie Theologie. Hier finden zahlreiche für den Rechtshistoriker zentrale
Probleme eine Erörterung, etwa, ob man kanonisches und römisches Recht einfach
als ius commune zusammenfassen kann.
Auf diesem Stand kann dann das spätmittelalterliche Denken mit Occam und
Marsilius den Boden des augustinisch‑thomistischen Realismus verlassen
und auf einer neuen Ebene den Konflikt von Gesetz und Gewissen austragen, ein
Konflikt, aus dem dann schließlich moderner Staat und modernes Individuum
hervorgehen. Prodi betont, daß hier ein rein ideengeschichtlicher Ansatz leer
läuft, vielmehr die Geschichte des Denkens mit der konkreten Geschichte der
Normen und Institutionen zusammengesehen werden muß. Dabei bezieht er sich vor
allem auf Brian Tierney, K. Pennington und J. Miethke.
Der damit aufgebrochene Konflikt zwischen Gesetz und
Gewissen (auf verschiedenen Foren ausgetragen) findet dann für Prodi
zwei verschiedene Antworten: In der religiösen Reformation, also dem
Protestantismus, und dem nachtridentinischen Katholizismus. Prodi zeigt
hier, wie sich der lutherische und anglikanische Protestantismus durchaus als
„Kirche“ verhält, indem er in Verbindung mit dem Staat Foren der Rechtsprechung
besetzt und damit Pluralismus und Osmose zwischen den Bereichen erhält‑
anders als christliche Kleingruppen und Sekten. Die Geschichte der okzidentalen
Normativität wird dann in zwei auseinanderstrebenden Zweigen verfolgt: Das
„Recht der Moral“ und „Die Moral des Rechts“, die immer noch in Wechselbeziehung
gesehen werden. Die erste Linie entwickelt sich von der spätmittelalterlichen
Moraltheologie zu Grotius, vom Naturrecht zum „giusnaturalismo“, dem
„natürlichen“ Vernunftrecht, schließlich zum Auseinanderdenken von Recht und
Moral bei Kant. Die zweite Linie führt zur Moralisierung und schließlich
Sakralisierung des Rechts, zur omnipotenten Souveränität des Staates, die Gott
als Gesetzgeber imitiert, zum „öffentlichen Strafanspruch“, womit der Staat
beansprucht, das einzige oder doch maßgebende Forum des Urteilens über die
Verfehlungen der Menschen zu sein, mit der offenkundigen Gefahr des
Totalitären.
Im
Schlußkapitel versucht Prodi, gegen die drohende Eindimensionalität des
modernen Normbegriffs anzudenken. Entgegen der traditionellen Historiographie
hat Prodi ja nicht gegeneinandergestellte normative Blöcke (Staat‑
Kirche, Recht‑ Moral) aufgebaut, sondern denkt in Beziehungen der
Dialektik und der Osmose, aus denen für ihn gerade die Ordnung der Freiheit und
Demokratie in Europa hervorgegangen ist. Doch auch diese Ordnung bedarf der
Spannungsverhältnisse, um lebendig und offen zu bleiben. Selbstreferentialität
des Rechts etwa bedeutet für Prodi dessen Erstarrung in bloßer Positivität.
Die Säkularisierung, dieser schillernde Interpretationsbegriff, kann also nicht
einlinig als „Freisetzung“ der Welt gesehen werden, sondern führt auch zu
Sakralisierung von Staat und Recht.
Für
die Gegenwart geht Prodi von der Analyse aus, die Dietrich Bonhoeffer
in der Konfrontation mit dem totalitären Staat gegeben hat, um von einer
Juridifizierung des kirchlichen Standpunktes Abstand zu gewinnen, wie er in der
katholischen Konzeption der societas
perfecta enthalten ist. Seiner Überzeugung noch bedarf eine menschliche
Gesellschaft, da sie nie einen „Stand der Unschuld“ gewinnen kann, neben dem
Rechtsforum einer anderen Instanz der normativen Beurteilung. Diese ist ihm nur
im Religiösen denkbar.
Der lange Weg abendländischen Denkens und historischer Erfahrung,
den Prodi zeichnet, bedarf eines wirklichen Nach‑Denkens. Dies
wird, so ist zu hoffen, für den deutschen Leser in absehbarer Zeit durch eine
Übersetzung erleichtert. Auch dem Rezensenten scheint es, angesichts der Fülle
komprimierter und wohldurchdachter Geschichte und Geschichtsdeutung,
unangemessen, hier an Einzelpunkten Kritik vorzutragen. Prodis
Darstellung führt Theorie und Geschichte zusammen als Mittel vertiefter
analytischer Erkenntnis der conditio
humana. Das Recht hat dabei eine zentrale, aber nicht autonome Rolle. Er
schreibt die Geschichte des Rechts aus einer Sicht von außen. Die wechselnde
Rolle rechtlicher Normativität im Verhältnis zu anderen Normbereichen wird
dadurch zum Hauptthema. Das, was die Entwicklung in Bewegung hält, ist das
Ringen um Selbstdeutung und Weltdeutung der westlichabendländischen
Menschheit, und zwar als gleichzeitiges Ringen um die Prinzipien einer
gesellschaftlichen Ordnung. Um die Stelle, die das Recht auf den verschiedenen
Foren im Laufe des historischen Prozesses eingenommen hat, geht es in diesem
Buch. Die Hauptthesen scheinen mir von Prodi überzeugend entwickelt: Die
Bedeutung der Foren der Normverwirklichung, das wechselnde Bezugsverhältnis
verschiedener normativer Ordnungen (Dialektik), die Wechselwirkung inhaltlicher
Grundprinzipien zwischen diesen Ordnungen (Osmose).
Königstein Gerhard
Dilcher