DilcherQuellenzurverfassungsgeschichte20010912 Nr. 10339 ZRG 119 (2002) 33
Quellen zur Verfassungsgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter. Diplomata et acta publica statum civitatum Medii Aevi illustrantia, ausgew. u. übers. v. Hergemöller, Bernd-Ulrich (= Ausgewählte Quellen zu deutschen Geschichte des Mittelalters 34). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000. VI, 503 S.
Ein Band in der verdienstvollen Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe erweckt immer hohe Erwartungen: Der neueste Stand der Quellenedition, repräsentative Auswahl wichtiger Quellen, kompetente Übersetzung und Erläuterung. Bei einer Auswahl zur „Verfassungsgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter“ steht die Ausgabe in Konkurrenz zu dem oft kritisierten und doch immer wieder bewährten Keutgen[1] und zu der in dem europäischen (unvollendeten) Projekt des Elenchus fontium historiae urbanae stehenden Ausgabe von Diestelkamp.[2] Schon von der Anlage der Freiherr vom Stein-Ausgabe ergeben sich für den Benutzer unbestreitbare Vorteile gegenüber jeder der beiden Ausgaben: Keiner der beiden Vorgänger bietet Übersetzungen (und für die meisten fraglichen Urkunden sind bisher Übersetzungen nicht greifbar), die Urkunden werden vollständig, einschließlich Protokoll und Eschatoll wiedergegeben und bieten so ihren vollen Informationsgehalt. Der Keutgen krankt an der z. T. veralteten Editionsgrundlage und der oft sehr spontanen Auswahl und Einordnung unter oft etwas beliebige Stichworte (was allerdings oft auch Übersicht erleichtert und Information bündelt), Diestelkamp mußte durch die Anlage des Gesamtprojekts zeitliche (bis 1250) und geographische Beschränkungen (nicht Straßburg und andere elsässische Städte, nicht Österreich und die Schweiz) hinnehmen und konnte so den ganzen Raum der deutschen Stadtkultur nicht darstellen. Diese Defizite kann Hergemöller durch die Anlage seiner Quellenauswahl füllen. Sein Werk ist durch Register (wobei das Sachregister allerdings nicht an die Fülle der Nachweise im Keutgen heranreicht) ausreichend erschlossen.
Die Gliederung zeigt das Bestreben, einen exemplarischen Überblick über die deutsche Stadtgeschichte und die Stadtformen zu gewinnen: Bischofs- und Abteisiedlungen der karolingischen und ottonischen Zeit (Nr. 1-14), Frühformen gefreiter Ortsgemeinden in salischer Zeit (Nr. 15-21), die Rechts- und Ratsstadt der Stauferzeit (Nr. 22-41), Neugründungen, Rechtsweisungen und Verfassungsänderungen des späten Mittelalters (Nr. 42-70). Das Gewicht auf dem Spätmittelalter, das sich hierin zeigt, entspricht nicht nur der Überlieferungsgeschichte, sondern stellt auch ein Desiderat der Lehre und Forschung dar, angesichts langer Betonung der Frühgeschichte. Die geographische Breite der Auswahl und die Berücksichtigung auch von kleineren Städten ist zu begrüßen. Darum mußte auch manches bekannte Dokument fehlen. Aber als Beispiel: Allein bei Keutgen finden sich die wichtigen Doppelprivilegien durch Heinrich V und Friedrich I für Worms und Speyer!
Der Verfassungsbegriff wird im Titel als zentraler Aspekt des Werkes und der Auswahl benannt. Er ist bekanntlich vieldeutig. Hergemöller konkretisiert ihn durch die Gesichtspunkte Recht, Raumfunktion, bauliche Gestaltung und Einheit in sozialer Ungleichheit (Gemeinde). Das ist sehr akzeptabel.
Der Rechtsbegriff von Hergemöller bleibt aber seltsam unscharf. Die neuere rechtshistorische Forschung nimmt er nicht zur Kenntnis und läßt sich auch nicht von der Darstellung des Historikers Eberhard Isenmann in dieser Richtung inspirieren. Das wird nicht nur in der Einleitung, die doch den Benutzer auch in dieser Hinsicht informieren soll, sondern auch in der Auswahl deutlich. Das für den städtischen Rechtsbegriff so aussagestarke zweite Straßburger Stadtrecht (wohl 1214, Keutgen Nr. 127, dort c. 6: consules non iudicabunt secundum ius provincie, quod dicitur landrecht, sed secundum veritatem et statuta civitatis subscripta) fehlt, ebenso der Kölner, wohl von Albertus Magnus formulierte Schiedsspruch von 1258, in dem er mit scholastischer Dialektik die städtischen Gerichtsverhältnisse zu ordnen sucht. Beide Dokumente sind in der neueren Literatur mehrfach diskutiert. Die Überschrift „Neugründungen, Rechtsweisungen und Verfassungsänderungen“ ist rechtlich unpräzise (was ist mit „Rechtsweisungen“ gemeint, z. T. offenbar auch stadtherrliche Privilegien). Doch sei betont, daß die Auswahl hier insgesamt bereichernd ist, wichtige Dokumente wie der Ulmer Schwörbrief von 1345 oder der Kölner Verbundbrief über die Gaffelverfassung von 1396 sind endlich gut greifbar, wenig Bekanntes wird als exemplarisch vorgestellt.
Die mangelnde Berücksichtigung rechtlicher Aspekte zeigt sich auch in den Übersetzungen (deren Bewältigung insgesamt ein großes Arbeitspensum darstellt). Warum wird beim ältesten Straßburger Stadtrecht (Nr. 23) pacem .... omni tempore et ab omnibus nicht präzise wiedergegeben als „zu jeder Zeit und von jedermann“, sondern schwammig „für alle Zeit und in jeder Hinsicht“, was die Rechtsbedeutung nicht erfaßt. Solche Schwächen finden sich öfters.
Eine rechtshistorische Chance wurde vertan bei dem bekannten Privileg Barbarossas für Augsburg von 1156 (Nr. 25). Hier heißt es: .... imperator, utpote non solum armis ornatus, sed etiam legibus armatus eos etc. Hier stellt sich Barbarossa mit einer Wendung des Gesetzgebers Justinian (Promulgation der Institutionen „Imperatoriam maiestatem“) als Nachfolger der antiken Kaiser vor. Im Stadtrecht also renovatio imperii und Rezeption römischer Rechtstopoi! Das wird nicht nur nicht nachgewiesen, sondern fälschlich auf die Stadt statt auf den Kaiser bezogen (S. 191): „.... damit die Stadt nicht allein mit Waffen, sondern auch mit Gesetzen geziert sei“. Das war nicht gemeint!
Eine schwerer verständliche Lücke stellt es dar, wenn zu dem bekannten Freiburger Stadtrecht (von 1120?) zwar die älteren Kontroversen, aber nicht die die Schichtungen klärende große Untersuchung von Marita Blattmann (Die Freiburger Stadtrechte etc. 2 Bde. Freiburg, Würzburg 1991, mit Übersetzung) zitiert wird.
Diese kritischen Hinweise möchten keineswegs die im ganzen verdienstvolle und nützliche Quellenausgabe abwerten. Sie bringt in einer einleuchtenden Auswahl eine ausgewogene Entwicklungslinie. Allerdings wird man auch in Zukunft nicht auf einen Blick in die Sammlungen von Keutgen und Diestelkamp verzichten: Ersterer ist insgesamt noch immer bei weitem am reichhaltigsten, der letztere bietet gerade zum Problem „Verfassung“ manche Quellenstelle (coniurationes, Reichsgesetze), die bei Hergemöller keinen Platz fand.
Frankfurt am Main Gerhard Dilcher