CarlenRecht 20010411 Nr. 10312 ZRG 119 (2002) 00

 

 

Recht ‑ Idee ‑ Geschichte. Beiträge zur Rechts‑ und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anlässlich seines 80. Geburtstages, hg. v. Lück, Heiner/Schild, Bernd. Böhlau, Köln 2000. X, 727 S. 6 Abb.

 

Die 30 Beiträge verteilen sich auf 4 Abteilungen und bekunden die vielseitigen Interessengebiete des Jubilars. Der erste Teil vereinigt Aufsätze zum Gericht und Verfahren. Günter Jerouscheck und Daniela Müller überprüfen, wie weit der historische Ansatz des Thomasius um die Denunziation im Strafverfahren zu approbieren oder zu diskreditieren, historischer Wirklichkeit standhält und untersuchen deshalb „Die Ursprünge der Denunziation im Kanonischen Recht“. Dass Richard Wagner im ersten Akt seiner Oper „Lohengrin“ im Zweikampf des Titelhelden mit Heinrich Graf von Tebramund ein Gottesurteil historisch getreu schildert, auch wenn er nicht mehr in diesem mittelalterlichen Weltbild stand, zeigt Wolfgang Schild. Der Beitrag weitet sich aus zu einer umfassenden Studie über den Zweikampf als Gottesurteil. Die Gründe, die zum Verlust der Gottesurteile geführt haben, werden hervorgehoben. Jürgen Weitzel schreibt über „Recht und Spruch der Laienurteiler zumindest eine Epoche der europäischen Rechtsgeschichte“. Er bezieht sich hauptsächlich auf die Epoche der Laienurteiler ab 1200 (Einsetzen der Aufzeichnung des Rechts und Einflüsse des gelehrten Recht) und stellt die Verhältnisse in Mittel‑ und Ostmitteleuropa in den Vordergrund. Die europäische Dimension ist sachlich und geographisch begründet. Die Inhalte des Rechts der Laienurteiler sind gemessen an der Fülle des Materials gering. Weitzel erörtert eingehend einige hervorstechende Merkmale des Rechts und der Sprüche der Laienurteiler.

Bernhard Diestelkamp wertet einen Quellenfund im Landeshauptarchiv Magdeburg aus. Es handelt sich um den Bericht einer Einung thüringisch‑sächsischer Städte aus dem Jahre 1423 im Kampf gegen die Veme. In einem fein abgestuften System denkbarer Reaktionen wurden Maßnahmen gegen die als bedrohlich empfundene Tätigkeit der Westfälischen Freigerichte beschlossen.

„Reichskammergericht, Reichsstadt und Aufklärung. Wetzlar im späten 18. Jahrhundert“ heißt die Studie von Monika Neugebauer-Wölk. Sie will „einen Beitrag dazu leisten, das aufgeklärte Sozietätswesen in der Stadt des Reichskammergerichtes genauer zu analysieren“. Bei der Darstellung der verschiedenen Phasen zeigt sie, wie sich das Verhältnis zwischen Kammergerichtspersonal und Bürgergesellschaft, die in der aufgeklärten Sozietätsbildung im Reich bis Ende des 18. Jahrhunderts einen Sondertyp bildete, gestaltete. Hinrich Rüping verbreitete sich über Sondergerichte im Dritten Reich. Er resümiert die zeitgeschichtliche Forschung über die Sondergerichte, behandelt deren Errichtung, die Lenkung in Sondergerichtssachen, die Organisation der Sondergerichtsbarkeit und die Praxis der Sondergericht und bewertet sie. Er zitiert dabei einen Grundsatzentscheid des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone von 1949, der sagt, dass zahlreiche Gerichte das Recht zur terroristischen Unterdrückung missbrauchten, während „viele deutsche Richter dem während des Krieges von den nationalsozialistischen Machthabern ausgeübten Druck widerstanden und ihre Entscheidung nach ihrer vom Gesetz und ihrem Gewissen gelenkten Überzeugung trafen“.

Im zweiten Teil, dem die Herausgeber den Titel „Recht und Ordnung“ gaben, vergleicht Ruth Schmidt-Wiegand „Sprache zwischen Recht und Gesetz — Mainzer Reichslandfriede und Sachsenspiegel‑Prolog“, „um sich auf diese Weise die Anfänge rechtssprachlicher Entwicklung zu einer Fachsprache des Rechts zu vergegenwärtigen“. Der Vergleich erweitert die Kenntnis über Herkunft und Weitergabe sog. Paarformeln und ist auch für den Prozess der Begriffsbildung in einer Rechtssprache aufschlussreich, die zu einer Fachsprache führte. Ulrich-Dieter Oppitz publiziert den Text einer sächsischen Ordnung zur „Gerade“ aus dem 15. Jahrhundert, die frühestens vor 1485 entstanden sein kann, stellt sie in allgemeine und lokale Zusammenhänge und bringt interessante Vergleiche. Frank-Michael Kaufmann befasst sich mit der geplanten Edition der Glosse des märkischen Hofrichters Johann von Buch zum Sachsenspiegel‑Landrecht. Er erläutert die Forschungsgeschichte und verbreitet sich über die Zahl und Einteilung der Handschriften und die einer Edition zugrunde zu legenden Handschriften und gibt Beispiele römisch‑rechtlicher Zitate. Ebenfalls ins Gebiet der Handschriften deutscher Rechtsbücher geht Rudolf Grosse mit seinem Beitrag über „Schwabenspiegel‑Handschriften im Sachsenspiegelland“, wobei er auch eine Antwort gibt, warum mitten im Herkunftsland des Sachsenspiegels der Schwabenspiegel einbezogen wurde. Stephan Buchholz fragt, ob es Frühformen der „Rassenschande“ in Hessen gab. Es geht um das Verbot der Eheschließung und des außerehelichen Verkehrs zwischen Juden und Christen und um die Frage, ob Parallelen zwischen der hessischen Judenordnung von 1539 und dem nationalsozialistischen „Blutschutzgesetz“ von 1935 gegeben sind. Buchholz verneint die Annahme einer Kontinuität aus historischer Sichtweise und kommt zum Schluss: „Die Rassenschandejustiz hat mit dem Judenrecht des Ancien regime nichts zu tun; sie beruht auf einem völkischen Rassismus, der auf das späte 19. Jahrhundert zurückgeht“.

Im Beitrag „Die frühneuzeitliche Policey‑ und Landesgesetzgebung am Beispiel von Dorf‑ und Landesordnungen der Grafschaft Schwarzburg aus dem 16. Jahrhundert“ behandelt Bernd Schildt allgemein die Policey‑ und Landesgesetzgebung der frühen Neuzeit und ihre Probleme und deren stiefmütterliche Behandlung, um dann auf die Schwarzburgischen Landesordnungen einzugehen und „zentrale“ und lokale Policey­und Landesgesetzgebung in der Grafschaft Schwarzburg zu vergleichen. Er weist auf eine verbreitete Unterschätzung der gesetzgeberischen Praxis des frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaates hin. Gerhard Lingelbach befasst sich mit Entstehung, Inhalt und Wirkungsgeschichte des „Codex Augusteus“, einer reichhaltigen Quellensammlung der sächsisch‑kurfürstlichen Gesetze, Mandate, Verordnungen, Befehle für Juristen, die im 18. Jahrhundert begonnen wurde, aber bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zurückreicht. Er bezeichnet den Codex als „Ausdruck für eine Anpassung bodenständiger, tradierter Rechte an moderne Zeiterfordernisse im Zuge der Rezeption des römisch‑byzantinischen Rechts“. „Der Film 'Jud Süß' ‑ über die Popularisierung eines inhumanen Gesetzes“ betitelt sich der Beitrag von Felix Ecke. Er schildert die Hintergründe dieses nationalsozialistischen Propagandafilms gegen die Juden, seinen Inhalt und die Wirkung des Films, in dem erstklassige Schauspieler mitwirkten und der ein großes Echo fand.

Der dritte Teil der Festschrift ist überschrieben mit „Universität und Wissenschaft“ und wird eingeleitet durch einen grundlegenden Beitrag von Heiner Lück, der auch die Bibliographie Rolf Lieberwirth am Schluss des Bandes zusammentrug. „Wittenberg und die europäische Rechtswissenschaft. Forschungsstand und ‑Perspektiven am Vorabend des 500. Gründungsjubiläums der Universität Wittenberg.“ Der Verfasser weist nach, dass auch die Wittenberger Universität die europäische Rechtsentwicklung beeinflusst hat, besonders im 16. Jahrhundert, weniger stark für die späteren Phasen des Usus modernus, wenn auch Gelehrte wie Ziegler und Leyser europäisches Ansehen hatten. An den Diskussionen des 19. Jahrhunderts für und gegen die großen Kodifikationen war Wittenberg nicht beteiligt. Lück zeigt auch weitere Forschungsdesiderate für die Wittenberger Jurisprudenz auf. Ebenfalls mit der Universität Wittenberg befasst sich Walter Zöllner, wenn er über „Geschichte und Geschichtswissenschaft“ an dieser Hochschule schreibt, wobei die Anfänge geschichtlicher Studien bereits in die vorreformatorische Universität zurückreichen und sich die Geschichte als akademische Disziplin im 18. Jahrhundert festigte. Vorgestellt werden auch die wichtigsten Historiker nach der Reformationszeit bis ins beginnende 19. Jahrhundert. Wenn Detlef Döring „Die 'Excesse' des Leipziger Mathematikprofessors Johannes Kühn“ behandelt, gibt er einen Einblick in die Sozialgeschichte der Professoren, die im Gegensatz zu jener der Studenten in der Forschung bisher weniger Aufmerksamkeit fand. Dieser Beitrag zur Geschichte des universitären Alltags gibt auch eine Vorstellung von der Funktion der Universität als Gericht.

Der englisch geschriebene Beitrag von Hanns Gross wendet sich Johann Samuel Stryk zu, der am Ende des 17. Jahrhunderts Professor in Halle wurde. Es geht dabei um dessen Verhältnis zwischen dem „Usus modernus Pandectarum“ und dem Pietismus. „Die Reflexion deutschrechtlicher Forschung im Briefwechsel deutscher Germanisten mit K. J. A. Mittermaier“ behandelt Lieselotte Jelowik. In den ausgewerteten 224 einschlägigen Briefen von 28 Gelehrten treten individuelle Züge deutlich hervor, sie bereichern die Wissenschafts‑ und Gelehrtengeschichte des 19. Jahrhunderts und bekunden auch die Wertschätzung Mittermaiers vor allem bei der jüngeren Generation seiner Zeitgenossen. Die Erkenntnisse zur germanistischen Forschung zwischen 1832 und 1867 werden erweitert, auch das Verhältnis Mittermaiers zur Zeitschrift für Deutsches Recht und Deutsche Rechtswissenschaft, deren Leitung Mittermaier angetragen wurde, wird erläutert. Siegfried Hoyer verfolgt die „Studenten aus dem zaristischen Russland an der Universität Leipzig 1870/1914“. Zwar lassen sich solche schon seit 1531 nachweisen, in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts nahm deren Zahl zu und stieg 1912/13 sogar auf 408. Der Autor befasst sich auch mit den Gründen der Russen für ein Leipziger Studium und deren Stellung („Ausländerfrage“) sowie den akademischen Vereinigungen.

Der vierte Teil der Festschrift trägt die Überschrift „Staat und Idee“ und beginnt mit einem Aufsatz Gerhard Dilchers über „Mittelalterliche Stadtkommune, Städtebünde und Staatsbildung. Ein Vergleich Oberitalien ‑ Deutschland“. Er behandelt die Kommune als Verfassungsform und als Form politischer Herrschaft nach innen, während die Stadtkommunen nach außen stark sind durch den Zusammenschluss zu Städteligen oder Hansen, die nach außen Handel und Frieden auf den Strassen schützen, die Politik nicht um ihrer selbst willen betreiben, sondern sie Kaisern, Königen, Fürsten und Adel überlassen. Eingegangen wird auf die Frage, wieweit die mittelalterliche Kommune zum modernen Staat Strukturähnlichkeit hatte und ob sie die Verfassungsentwicklung der Neuzeit zum modernen Staat mitgeprägt hat und wieweit die Entwicklung in Oberitalien und Deutschland Übereinstimmungen und Abweichungen kennt.

Die Zeit der Krisen in mehreren Territorien des Alten Reiches in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war auch eine Zeit der Reformversuche. Das zeigt Barbara Dölemeyer für Kursachsen und Hessen‑Darmstadt, indem sie die Staatsreformprogramme von Thomas von Fritsch (1700‑1775) für das erste und von Friedrich Carl von Moser (1723‑1738) für das zweite Territorium erläutert und sie vergleicht. Für beide Territorien standen Sanierung des Staatshaushaltes und wirtschaftliche Maßnahmen im Vordergrund, aber auch Rechts‑ und Justizreformen sowie Bildungs‑ und Verwaltungsreformen wurden angegangen.

Erich Donnert, der Biograf der russischen Kaiserin Katharina II., schildert deren Versuch, ihr großes Land zu reformieren, eine aktive Kulturpolitik zu treiben und die staatliche und wirtschaftliche Infrastruktur zu stärken. Zusammenhänge bestehen mit der Entfaltung und Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts in den elitären Gesellschaftskreisen des Zarenreiches. Daran war die Monarchie, in deren Denken deutsche Frühaufklärung und Kameralistik wichtig waren, führend beteiligt. Vor allem Katharinas „Instruktionen“, die Gouvernementsverfassung, die Gnadenbriefe an den Adel und die Bauem, die Stadtordnung, der Versuch einer Freisetzung der „Stände“ werden eingehend besprochen.

Günter Mühlpfordt liefert eine bezeichnungsgeschichtliche Studie mit „Mitteldeutsche Anfänge des Gesinnungsbegriffs 'liberal'. Für und wider 'die Liberalen' zur Zeit der Aufklärung“. Eingehend werden die heftigen Kontroversen zwischen Orthodoxen und Aufklärern um das Für und Wider geschildert.

Rechtsphilosophie begegnet im Aufsatz Walter Paulys: „Freiheit und Zwang in Fichtes Staatsphilosophie“, die verschiedene Entwicklungsphasen durchlief. In den Revolutionsschriften herrscht Staatsskepsis, dann begegnet transzendentale Deduktion des Zwangsstaates. In Fichtes Spätphilosophie wird die Freiheit als reale Erscheinung Gottes verstanden und im Vertrauen auf dessen Wirken wird Zwang als Recht erkannt. „Der verhinderte Staat. Ständeherrschaft und Staatlichkeit im Markgraftum Oberlausitz bis 1835“ nennt sich der Beitrag Karlheinz Blaschkes, der eine Übersicht der Geschichte der Oberlausitz gibt und die Verfassungs‑ und Verwaltungsgeschichte sowie die Entwicklung von der Landesherrschaft zum frühneuzeitlichen Staat herausarbeitet. Dabei werden die Gründe erläutert, die maßgeblich waren, um der Oberlausitz bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts, als Sonderfall in der deutschen Geschichte der frühen Neuzeit, eine eigentümliche Verfassung zu bewahren, die auch von anderen ostmitteleuropäischen Ländern abwich.

Wilhelm Brauneder gibt einen interessanten Oberblick über „Die Erneuerung der Staatlichkeit in Mitteleuropa nach 1945“. Für Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien, Rumänien, Albanien werden die maßgeblichen Faktoren der Entwicklung herausgearbeitet. Es sind die Staatlichkeit, die Regierung (Exil‑ und Inlandregierungen), mit Spezialfall Österreich 1945, die Rolle der Kommunistischen Parteien und ihr Zusammengehen mit der Sozialdemokratischen Partei, die Einheitsfront KP‑SP‑bürgerliche Parteien, die Besatzung und die Wirtschaft. Schließlich wird auch die Verfassungslage erläutert.

Heinz Mohnhaupt schreibt über „Europäische Rechtsgeschichte und Europäische Einigung. Historische Beobachtungen zu Einheitlichkeit und Vielfalt des Rechts und der Rechtsentwicklung in Europa“. Der Verfasser mahnt, dass die Rechtsvereinheitlichung in Europa die Rechtsgeschichte nicht außer Acht lassen darf, dass sie auf dem Bewusstsein einer Einheitlichkeit europäischer Rechtskulturen und zugleich von deren Vielfalt auszugehen hat. Er weist aber auch auf definitorische und methodische Schwierigkeiten hin: was ist Europa, Recht, Rechtskultur? Die europäischen Gemeinsamkeiten im 16.‑19. Jahrhundert werden hervorgehoben mit teilidentischen Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten.

Wolfgang Sellert berichtet über „Wirtschaft, Politik und Recht in China: Eindrücke, Erfahrungen, Prognosen“. Er zeigt das Wirtschaftswunder auf, das trotz fehlender Demokratie vorhanden ist, um dann zum Recht zu kommen, jenem des kaiserlichen China, der Entwicklung von 1904-1949 und jenem unter kommunistischer Herrschaft und der Rechtserneuerung seit Deng Xiaoping mit ihrer Gesetzgebungswelle und den Mängeln und Ursachen. Am Schluss äußert der Verfasser Hoffnungen und Prognosen.

Der Band endet mit der Besprechung eines Gelegenheitsfundes von Karl Kroeschell über ein unbekanntes Ölbild aus dem 19. Jahrhundert der Burg Falkenstein.

 

Brig                                                                                                                  Louis Carlen