BuschmannNaucke20010903 Nr. 10280 ZRG 119 (2002) 88
Naucke, Wolfgang, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte (= Juristische Zeitgeschichte, 1 Allgemeine Reihe 4). Nomos, Baden-Baden 2000. XIII, 437 S.
Die vorliegende Aufsatzsammlung des bekannten Frankfurter Strafrechtlers faßt die strafrechtsgeschichtlichen Arbeiten zusammen, die der Verfasser in den Jahren 1963 bis 1993 zu zentralen Themen der neueren Strafrechtsgeschichte, namentlich der Strafrechtsgeschichte des 18., 19. und des 20. Jahrhunderts verfaßt und an verschiedenen Orten veröffentlicht hat. Es nennt die Sammlung im Untertitel bescheiden „Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte“, tatsächlich handelt es sich um eine fundamentale Auseinandersetzung mit den Kernfragen des modernen Strafrechts und der modernen Strafrechtsgeschichte überhaupt.
Die Sammlung ist in vier Abschnitte gegliedert. In einem ersten sind die Arbeiten zusammengestellt, die sich mit dem Strafrecht der Aufklärung und der Französischen Revolution beschäftigen und die im Untertitel unter dem Tenor der Einrichtung des modernen Strafrechts als Machtmittel zusammengefaßt sind. Der Kreis der Themen reicht von der Begründung des Strafrechts bei Luther, Beccaria und Kant über die Modernisierung des Strafrechts durch die Lehren Beccarias, die Strafrechtsentwicklung in der Französischen Revolution bis zur Entwicklung des preußischen Strafrechts in der Zeit von 1786 bis 1806. Der zweite Abschnitt ist der Strafrechtstheorie Kants gewidmet und enthält Studien zu Kants Straftheorie, über die Reichweite des Vergeltungsstrafrechts bei Kant, die Dogmatisierung von Strafrechtsproblemen bei Kant bis zur Untersuchung des Einflusses von Kants Strafrechtslehre auf Theorie und Praxis des Strafrechts im 19. Jahrhundert. Im dritten Abschnitt wird P. J. A. Feuerbachs Strafrechtslehre behandelt, die der Verfasser unter das Motto der Veredelung der Effektivität des Strafens durch die Gerechtigkeit stellt und in dem neben einer Würdigung Feuerbachs aus Anlaß der 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 14. November 1975 Studien über Feuerbachs Rolle als liberaler Strafrechtspraktiker, seinen Straftatbegriff und die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts von Feuerbach zu C. J. A. Mittermaier enthalten sind. Im letzten Abschnitt schließlich sind jene Arbeiten zusammengefaßt, die der Verfasser über verschiedene Themen der Strafrechtsgeschichte des Deutschen Reiches der Zeit von 1871 bis 1945 veröffentlicht hat und die unter das Motto: „Das Strafrecht als Mittel der aktuellen Politik“ gestellt sind. Hier finden sich Studien zur Funktion der Strafe nach dem Marburger Programm von 1882, zum Kolonialstrafrecht des Deutschen Reiches von 1886 bis 1918, zum Strafrecht im Ersten Weltkrieg, zur Aufhebung des Analogieverbots im Jahre 1935 und zur Mißachtung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots in der Zeit von 1933 bis 1945 sowie zum nationalsozialistischen Strafrecht als Perversion neuzeitlichen Strafrechts. Am Schluß sind noch drei Arbeiten abgedruckt, die sich mit dem Vordringen der politischen Macht - der Verfasser nennt dies das Vordringen des Polizeigedankens – und dem Ende der metaphysischen Begründung des Rechts, dem Zusammenhang zwischen Innenpolitik und Strafrechtsreform und der Schwäche des rechtsstaatlichen Strafrechts gegenüber der politischen Macht und den politischen Machthabern beschäftigen.
Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die Ergebnisse dieser Studien im einzelnen zu diskutieren. Im Mittelpunkt aller Überlegungen des Verfassers stehen direkt oder indirekt zwei Fragen, die zu den Kernfragen des Strafrechts schlechthin gezählt werden müssen, nämlich die Frage nach der Legitimation staatlichen Strafanspruchs und die Frage nach der Humanität des Strafens, die beide aufs engste miteinander verknüpft sind. Für den Verfasser ist es erwiesen, daß spätestens seit der Französischen Revolution Strafe und Strafrecht ihre Legitimation aus der politischen Utilität beziehen, eine über diese hinausführende Begründung des Strafrechts nicht mehr existiert und die Humanität dem Gedanken der Utilität untergeordnet wird. In der Frage der Humanität des Strafens wird vom Verfasser zu Recht die Richtigkeit der gängigen Auffassung von der stetigen Humanisierung des Strafrechts seit der Aufklärung bezweifelt. Schon das Strafrecht der Aufklärung war in der Tat weit davon entfernt, ein wirklich humanes Strafrecht zu sein. Man braucht nur einmal den Strafenkatalog des sog. Josephinischen Strafgesetzbuches von 1787 durchzugehen, das vielfach als Musterbeispiel eines aufgeklärten Strafgesetzbuches gilt, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Vollends überzeugt ist man von der Inhumanität des aufklärerischen Strafrechts, wenn man eines der Gefängnisse des josephinischen Zeitalters in Augenschein nimmt, etwa die Festung auf dem Spielberg in Brünn, auch wenn hier durch den Kaiser persönlich Verbesserungen veranlaßt wurden. Von Humanität kann angesichts der feuchten Kasematten, in denen die Gefangenen wie Tiere gehalten wurden, keine Rede sein. Auch die drakonischen Strafen der französischen Revolutionsstrafgesetzgebung wie der Strafenkatalog des Kolonialstrafrechts und des Kriegstrafrechts sprechen eine eindeutig inhumane Sprache. Zuzustimmen ist dem Verfasser auch, daß in diesen Kontext das nationalsozialistische Strafrecht keineswegs als eine bloße „Ausbuchtung“ der von der Humanisierung geprägten Entwicklungslinie zu sehen ist, sondern eine Fortsetzung einer Tendenz, die sich schon in der Aufklärung ankündigte und erstmals in vollem Umfang in der Französischen Revolution sichtbar wurde, nämlich die Tendenz zur Instrumentalisierung des Strafrechts zur Erhaltung politischer, auch parteipolitischer Macht.
Angesichts eines solchen Befundes muß, wie der Verfasser zu Recht betont, der Forschrittsoptimismus, der seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts Strafrechtswissenschaft und Strafrechtsgeschichtsschreibung beherrscht, verblassen und einer deutlichen Korrektur unterzogen werden. In seinen resümierenden Bemerkungen leitet der Verfasser aus diesem Sachverhalt die Forderung ab, künftighin staatliches Strafrecht und Politik säuberlich zu trennen und ein rechtsstaatliches Strafrecht jeder Politik gleich welcher Couleur entschieden entgegenzusetzen, um der unzulässigen Instrumentalisierung des Strafrechts, wie dies in der Vergangenheit mit wechselnden Begründungen geschah, vorzubeugen. Ob dies in absehbarer Zeit gelingen wird, muß allerdings bezweifelt werden. Der Philosoph Leonard Nelson hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg eine entsprechende Forderung in seinem Buch „Rechtswissenschaft ohne Recht“ erhoben und eine Rückkehr zu einer „ehrlichen Metaphysik des Rechts“ verlangt, ohne allerdings Gehör zu finden. Immerhin wäre es ein bemerkenswerter Fortschritt, wenn die Erkenntnis von der Instrumentalisierung und damit dem Mißbrauch des staatlichen Strafanspruchs in der Vergangenheit nicht nur offengelegt, sondern vor allem in das allgemeine Bewußtsein dringen würde. Vielleicht könnte es auf diese Weise gelingen, auch jene nachdenklich zu machen, die noch immer allzu ungeniert mit dem staatlichen Strafrecht hantieren, um ihre politischen Vorstellungen zu realisieren und deren Realisation sicherzustellen. Zur Bekämpfung des Mißbrauchs staatlichen Strafrechts empfiehlt der Verfasser, das Studium der neueren Strafrechtsgeschichte künftig zu einem wichtigen Bestandteil der juristischen Ausbildung zu machen, damit an diesem Beispiel Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines kritischen und distanzierten Verhältnisses zum jeweils geltenden Strafrechts studiert und entsprechende Konsequenzen für das eigene Handeln daraus gezogen werden können. Dem kann nur zugestimmt werden. Der Blick in die Geschichte des Rechts, so wird man als Rechtshistoriker hinzufügen, war schon immer hilfreich für die Erkenntnis der Substanz des geltenden Rechts in der jeweiligen Gegenwart. Dies für das Strafrecht und dessen Geschichte mit seinen Studien eindrucksvoll vor Augen gestellt zu haben, ist das besondere Verdienst des Verfassers, das nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Salzburg Arno Buschmann