BühlerLewinski20010824
Nr. 10399 ZRG 119 (20029 54
Lewinski,
Kai von, Deutschrechtliche Systembildung im 19. Jahrhundert (=
Rechtshistorische Reihe 238). Lang, Frankfurt am Main 2001. XXXIII, 252 S.
Der
Verfasser untersucht die Systematik von Gesamtdarstellungen des deutschen
Rechts im 19. Jahrhundert im Hinblick auf ein spezifisches deutschrechtliches
System. Diese Fragestellung ist ungewöhnlich.
Die Darstellung ist in acht Kapitel gegliedert: l. Kapitel: Einleitung; 2. Kapitel, Systementwicklung bis zum 19. Jahrhundert; 3. Kapitel: Systeme in der Historischen Schule; 4. Kapitel: Eigenständige germanistische Systembildung; 5. Kapitel: Durchsetzung des Pandektensystems; 6. Kapitel: Deutschrechtliche Systeme und das BGB; 7. Kapitel: Systeme des Deutschen Rechts nach 1900 und 8. Kapitel: Scheitern deutschrechtlicher Systemversuche.
Neben der
Darstellung der Untersuchung und ihrer Ergebnisse enthält diese Dissertation
eine Reihe von Biographien von Verfassern, die heute weitgehend vergessen sind,
so Christian Ludwig Runde (1773-1849), Karl August Rogge (1795-1827), Julius
Weiske (1801-1877), Friedrich Ludwig von Bernhard (1801-1871), Georg Phillips
(1804-1871), Karl Friedrich Vollgraff (1792-1863) und Ferdinand Walter
(1794-1879).. Daneben werden die Werke von Johann Stephan Pütter, Karl
Friedrich Eichhorn, Karl Josef Anton Mittermaier, Wilhelm Eduard Albrecht,
Wilhelm Theodor Kraut, August Ludwig Reyscher, Georg Beseler, Johann Caspar
Bluntschli, Romeo Maurenbrecher, Friedrich Georg von Bunge, Karl Friedrich von
Gerber, Johann Heinrich Thöl, Otto Stobbe, Alex Franken, Andreas Heusler, Otto
von Gierke, Anton Menger, Franz Beyerle und Mitteis/Lieberich.untersucht.
Dagegen fehlen Heinrich Brunners Deutsche Rechtsgeschichte, Otto von Gierkes
Genossenschaftsrecht und Karl Siegfried Baders Studien zum mittelalterlichen
Dorf. Gerade sie haben eine vom Pandektensystem nicht beeinflusste Systematik
angewendet.
Eine
eigenständige germanistische Systembildung bieten Christian Ludwig Rundes,
Rechtslehre von der Interimswirtschaft auf deutschen Bauerngüter (1796, zweite
Auflage 1832), und Rechtslehre von der Leibzucht oder dem Altentheile auf
Deutschen Bauerngütern (1805), Karl August Rogges, Ueber das Gerichtswesen der
Germanen (1820), Wilhelm Eduard Albrechts, Gewere (1828), Georg Beselers
Erbverträge (1835-1840), Wilhelm Theodor Krauts, Die Vormundschaft nach den
Grundsätzen des deutschen Rechts (1835-1849). Hierbei handelt es sich genau
genommen um Monographien über ein abgerundetes Thema, bei welchen ohnehin mit einer spezifischen Gliederung zu rechnen ist.
Ob diese nun ausgesprochen deutschrechtlich ist, bleibt auch nach den
Ausführungen des Verfassers - wie noch dargetan wird - offen.
Umfassende
Darstellungen oder Lehrbücher, bei welchen Alternativen zum römischrechtlichen
Institutionen- oder Pandektensystem zu erwarten sind, waren vielmehr Weiskes,
Grundsätze des teutschen Privatrechtes nach dem Sachsenspiegel (1826),
Bernhards, „Ueber die Restauration des deutschen Rechts“ (1829) und „Das
Teutsche Land‑Recht“ (1831) und Phillips, Grundsätze des gemeinen
deutschen Privatrechts (3. Auflagen 1829-1846) Schließlich wäre noch Karl
Friedrich von Gerbers, System des deutschen Privatrechts (siebzehn Auflagen
zwischen 1848 und 1898) zu nennen, der in das Pandektensystems ein deutschrechtliches
System integrierte („System im System“).
„Allen hier
dargestellten deutschrechtlichen Systemen ist gemeinsam, dass sie sich weder in
der Wissenschaft noch in der Praxis durchsetzen konnten. Bis auf Phillips’
„Grundsätze“ wurden sie in ihrer Zeit fast gar nicht wahrgenommen. Die Gründe
hierfür lassen sich auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass sich die
eigenständigen deutschrechtlichen Systeme alle an einem Weltbild orientierten,
das dem Mittelalter entlehnt war. Diese auf die Bürgerliche Gesellschaft des
19. Jahrhunderts zu übertragen, scheiterte an der Kluft zwischen dem modernen
Gesellschaftsbild und dem des Mittelalters“ (S. 164). Diese Schlussfolgerung
des Verfassers aus seiner Untersuchung trifft zweifellos zu, die Begründung
hierfür ist jedoch zu kurz: Zunächst ist der Begriff „deutschrechtlich“ alles
andere feststehend. In Deutschland selbst galt bis zum Untergang des alten
Reichs das auf römischrechtlicher Grundlage fussende „gemeine Recht“ neben
unzähligen lokalen Rechte, Inwieweit diese als „germanisches Recht“ gedeutet
werden können, ist genau so umstritten wie der Begriff „germanisches Recht“
selbst. Jedenfalls und in diesem Punkt ist dem Verfasser zuzustimmen, galt das
deutsche Recht bereits im 19. Jahrhundert als antiquiert.
Einzig das
Lehnrecht und das Ständerecht „als Monumente einer anderen Zeit“ waren im
Deutschland des 19. Jahrhunderts noch teilweise in Kraft. „Ihre Nähe zum
Oeffentlichen Recht liess es nicht zu, das System des Deutschen Rechts als ein
rein auf das Privatrecht ausgerichtetes aufzubauen., das den Vorstellungen des
Liberalismus im 19. Jahrhundert gleichermaßen wie das Pandektensystem
entsprach. Bei der Entscheidung, durch die Systeme entweder ein überholtes
Gesellschaftsmodell zu beschreiben oder aber wichtige deutschrechtliche
Rechtsgebiete nur unzureichend berücksichtigen zu können, sind die meisten
Germanisten des 19. Jahrhunderts Kompromisse eingegangen und haben versucht,
beiden Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Dadurch verloren die Darstellungen
systematisch an Überzeugungskraft. Arbeiten, die die Gliederungskriterien
konsequent dem Deutschen Recht entnommen haben, litten daran, dass sie der
tatsächlichen rechtlichen Situation des 19. Jahrhunderts nur wenig entsprachen,
sondern bestenfalls (Philipps) „geschichtliche" Bedeutung hatten“ (S.
251).
Ein
weiterer Grund steht im Zusammenhang mit den Kodifikationen, die leider in der
besprochenen Untersuchung nicht berücksichtigt werden. Hier ist das Beispiel
Johann Caspsar Bluntschli besonders aufschlussreich: Bluntschli hat bekanntlich
das Privatrechtliche Gesetzbuch seines Heimatkantons verfasst und dieses nach
dem Pandektensystem gegliedert, wobei er neu das Familienrecht als besondere
Materie vom übrigen Stoff ausschied. Es wäre nun merkwürdig gewesen, wenn er
für seine Darstellung des Deutschen Privatrechts eine andere Gliederung gewählt
hätte. Die damals bekannten Gesetzbücher, der Code civil und das
österreichische ABGB folgten dem römischrechtlichen Institutionensystem. Der
Entwicklung zum Pandektensystem hatten bereits die Stadt- und
Landrechtsreformationen vorgearbeitet, indem diese das Vertragsrecht, das
Testamentsrecht und das Erbrecht als einheitliche Rechtsmaterien
zusammenfassten (typisch das „Neu Landrecht des Fürstentumbs Württemberg, in
vier Teil verfasst“, 1554). Nun können Lehrbücher solche Fakten nicht
ungestraft außer acht lassen oder, wenn sie es tun, haben sie überzeugendere
Alternativen anzubieten. Dies war bei den Germanisten des 19. Jahrhunderts
offensichtlich nicht der Fall, was zu dem negativen Ergebnis in der
besprochenen Untersuchung geführt hat.
Winterthur Theodor
Bühler