BraunederDieerfurter20010226 Nr. 10183, 10318 ZRG 119 (2002) 50
Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament 1850, hg. v. Mai, Gunther. Böhlau, Köln 2000. 470 S.
Einhundertfünfzig (150) Jahre Erfurter Unionsparlament (1850-2000), hg. v. Thüringer Landtag Erfurt, red. v. Mittelsdorf, Harald (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 15). Wartburg Verlag, Weimar 2000. 194 S.
Das Gedenken an den Zusammentritt eines, nach der Paulskirche, weiteren nahezu gesamtdeutschen Parlaments sowie an die von ihm verabschiedete, nach der Paulskirchenverfassung, zweite nahezu gesamtdeutsche Verfassung im Jahre 1850 initiierte die beiden Bände. Der zweite von Mittelsdorf für den Thüringer Landtag als Herausgeber redigierte Band (hier: II) weist bewußt Bezüge zum lokalen Geschehen auf, geht aber doch darüber hinaus, ein solcher fehlt auch im erstgenannten Titel (hier: I) nicht gänzlich (W. Schmidt, Die Stadt Erfurt, ihre Bürger und das Parlament). Beiden Bänden ist es ein Anliegen, ihre Gegenstände wieder mehr in den Vordergrund einer somit umfassenderen verfassungshistorischen Betrachtung zu stellen, sie deutlicher als bisher in kaum vorhandenen Monographien oder übergreifenderen Darstellungen geschehen abzuhandeln und in das Bewusstsein zu rücken. Für die Zeitgenossen schien übrigens das Erfurter Projekt beziehungsweise die Union keineswegs chancenlos wie besonders Mai betont (I 31, 46).
Die Erfurter Ereignisse stehen in doppeltem Schatten: einmal dem der voraufgegangenen Nationalversammlung und ihres Verfassungswerks, sodann dem der nachfolgenden Reichsgründung 1870/71, die wieder den Norddeutschen Bund absorbiert, der Erfurt noch am ehesten nahesteht. Daher auch hatte „sich keine große politische Kraft in Deutschland je auf dieses Parlament des Jahres 1850 berufen“ (Hahn, II 15ff.), denn es bedeutete sowohl aus großdeutscher Sicht wegen seines kleindeutschen Ansatzes wie aus kleindeutschem Blickwinkel wegen seines Fehlschlages nichts Erinnerungswürdiges. Fernab von derart geprägten politischen Vorstellungen und mit dem Blick auf Kontinuitäten oder Diskontinuitäten in Verfassungsstrukturen, Parlamentsorganisationen oder Parteibildungen rückt das Erfurter Geschehen und sein Projekt in andere Dimensionen. Mai (I 39) bekräftigt Triepels Charakteristik der Unionsverfassung als „Zwischenstufe“ zwischen den beiden Reichsverfassungen von 1849 und 1871 und Lingelbach (II 143) nennt sie „ein wesentliches Zwischenglied“. Boldt weist zurecht auf die Bedeutung der in der Erfurter Augustinerkirche abgelaufenen Verfassungsdiskussion hin (I 429), die freilich schon allein deshalb im Schatten der in Frankfurts Paulskirche abgehaltenen stehen muss, da die Unionsverfassung nahezu zwei Drittel an Bestimmungen aus der Paulskirchenverfassung wortwörtlich übernahm. So ist Boldt zuzustimmen (I 417), die Unionsverfassung stehe „am Ende jenes ereignisreichen Geschehens, das 1848 mit der Märzrevolution begonnen hat. Sie ist gleichsam sein Schlusspunkt“. Und die Erfurter Verfassungsdiskussion stellt sich als eine Fortsetzung beziehungsweise Zweitauflage der Frankfurter Debatten dar. Auch ein anderer Blickwinkel zeigt, daß sich „1848“ bis nach Erfurt 1850 fortsetzte: Die staatliche Einigung Deutschlands galt noch immer als ein Ziel, aber wohl nicht nur für die Staaten der Union, sondern auch für andere (Boldt, I 418), da ihre Nichtteilnahme am Unionsprojekt durch eine andere Art dieser Einigung begründet war wie etwa im Falle Bayerns, das Österreich nicht aus Deutschland verdrängt, nicht zu einem „slawischen Staat“ hingedrängt sehen wollte (Mai, I 22). Für Österreich freilich kam ein Staat anstelle des Deutschen Bundes nicht in Frage.
Auch Erfurt zeigt, wie sehr die gesamtdeutsche Verfassungsentwicklung durch jene in den beiden Großstaaten Preußen und Österreich bestimmt wurde. So waren Union und Preußen in einem Punkte besonders verbunden: Da dieses als werbewirksames Mittel die Idee einer Nationalrepräsentation nutzte, und zwar eingebettet in eine konstitutionelle Verfassung, konnte es seine eigene, wenig geliebte Verfassung nicht aufheben, übertrug aber aus dieser in die Unionsverfassung das Dreiklassenwahlrecht. Österreich hingegen lehnte trotz der nach Jahresbeginn 1849 erlassenen konstitutionellen Verfassung etwa seit Mitte 1850 dieses Konzept ab, und zwar sowohl innerstaatlich wie auch für den Deutschen Bund, und hob diese Verfassung zu Jahresende 1851 formell auf. Die dafür insbesondere von Luchterhandt vorgebrachten Argumente und Motive sind ganz wesentlich dadurch zu ergänzen, daß sich Österreich mit den Verfassungsgrundsätzen 1852 hinwendete zu modifizierten gewachsenen Strukturen im Sinne des Historischen Staatsrechts und damit zu einer neuständisch beschränkten (nicht bloß neo-absolutistischen: I 101) Monarchie in der Hoffnung, so die Vielfalt wie auch die Einheit des Kaisertums Österreich zu garantieren. Nicht nur formal-sprachlich ist es daher verfehlt, von Österreich-Ungarn zu sprechen (die Bezeichnung entstand erst nach dem Ausgleich 1867), sondern vor allem auch von der Staatskonstruktion her: Einen derartigen Dualismus sollte es eben nicht geben. Im Kern dieses Konzepts stand die Idee neuständischer Landtage, die ein ebensolches Zentralorgan als Ausschußlandtag beschicken sollten, ein Konzept, welches der österreichische Bundesreformplan 1863 auf Bundesebene fortsetzte, nämlich mit einer Delegiertenversammlung der Parlamente statt einer Nationalrepräsentation. Zur Zeit der Erfurter Union allerdings war man erst bei gedanklichen Ansätzen zu dieser Konstruktion, eigentlich erst im Vorfeld derselben, nämlich der Verhinderung des Konstitutionalismus - eben auch auf gesamtdeutscher Ebene. Dass man daher wenig anderes zur Hand hatte als Brucks Plan einer Mitteleuropa-Zollunion und diese unter dem Eindruck des kommenden Unionsparlaments veröffentlichte, liegt tatsächlich auf der Hand (Luchterhandt, I 99). Als Gegen-Plan allerdings sollten Brucks Vorstellungen nicht überbewertet werden, richtiger Weise aber auch nicht als „multinationales Gegenmodell zum Nationalstaatsentwurf der Frankfurter Paulskirche“ (ebda 98). Einer Fehleinschätzung unterliegt, freilich nicht nur bei Luchterhandt (I 83ff.), die Verfassung 1849 als einheitsstaatliche Verfassung und damit als Absage an das Frankfurter Verfassungswerk. Schon Österreichs Verfassung 1848 hatte zwischen bundeszugehörigen und anderen Ländern keinen Unterschied gemacht, da sie sich gleichförmig mit Galizien, Buchenland (Bukowina) und Dalmatien auch auf solche erstreckte, was in Durchführung jener österreichischen Note von knapp zuvor erfolgte, die ausdrücklich einer Umwandlung des Deutschen Bundes in einen „Bundesstaat“ eine Absage erteilt hatte. Die Verfassung 1849 tat dann nichts anderes, allerdings plakativer, da nunmehr auch die ungarischen Länder und Lombardo-Venetien, also das gesamte Kaisertum Österreich, den Geltungsbereich dieser Verfassung ausmachten. Damit war sie aber zwar eine gesamtstaatliche, durchaus aber keine einheitsstaatliche, denn allen nicht-cisleithanischen Ländern war ein jeweils anderer Status eingeräumt, der sich sodann klar aus den entsprechenden Landesverfassungen ablesen lässt. Beispielsweise gab es einen umfassenden Grundrechtskatalog nur in den cisleithanischen Ländern, die allerdings, wie zur Verfassung 1848 ausgeführt, nicht identisch waren mit dem bundeszugehörigen Gebiet. Warum überhaupt die Verfassung 1849 einen „Bruch der Bundesakte“ beziehungsweise, in Hinblick auf die Verfassung 1848, erst sie einen solchen darstellen sollte, erscheint nicht klar und wäre erklärungsbedürftig gewesen (I 89). Übrigens: Metternich hat im März 1848 natürlich nicht Kaiser Franz Joseph, aber auch nicht Kaiser Ferdinand „zum Verfassungsversprechen genötigt“ (I 108 FN 96).
Nach den Erfahrungen mit „Frankfurt“, letztendlich in Stuttgart, aber wie aufgrund der diesen Entwicklungsstrang begleitenden Diskussionen, wählte man für und in Erfurt den realistischeren Weg einer Einigung erst einmal der beteiligten Regierungen untereinander und sodann dieser mit einer Nationalvertretung. Dass dies nicht auf den Widerstand der Bevölkerung stieß, zeigt die sowohl von Lengemann wie auch Mai festgehaltene Tatsache einer kaum geringeren Wahlbeteiligung als zur Frankfurter Nationalversammlung (I 31, 312).
Das Erfurter Projekt hat während seines kurzen Bestandes eine entscheidende Wandlung erfahren, die eher nur beiläufig anklingt: Zufolge der sogleich anfänglichen Ablehnung durch Bayern und Württemberg und des späteren Abspringens von Sachsen und Hannover, vor allem wegen des Widerstands Österreichs wandelte sich der Plan der Bildung eines kleindeutschen Bundesstaates anstelle des aus preußischer Sicht erloschenen Deutschen Bundes in nur völkerrechtlicher Verbindung mit Österreich um in eine bundesstaatliche Union innerhalb des fortbestehenden Deutschen Bundes, offen für den Beitritt weiterer Bundesmitglieder. Das Konzept und die - freilich nur kurzzeitig-provisorische - Existenz der Erfurter Union sind somit zweierlei und bieten auch verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten. Konzeptiv ist das Unionsprojekt eine gewisse Vorwegnahme der kleindeutschen Lösung, auf die kurze Realität bezogen hingegen eher eine solche des Norddeutschen Bundes, denn für Kleindeutschland fehlten immerhin Württemberg, Bayern, Sachsen und Hannover. Dessen Absprung hinterließ freilich ein großes norddeutsches Loch, auch trat der Norddeutsche Bund in seinem Gebiet doch an die Stelle des Deutschen Bundes. Die Realität der Erfurter Union hingegen hat jedenfalls erwiesen, daß es möglich war und einem Bedürfnis entsprach, einen Teil der deutschen Staaten zu einem Bundesstaate zu vereinigen, und zwar mit dem Konzept, andere Staaten zum Beitritt einzuladen um schließlich bei einer kleindeutschen Lösung zu landen. Für ihre Realisierung 1870/71 gab die Union ein weiteres Modell gerade mit jenen Teilen ihrer Verfassung ab, welche die Reichsverfassung 1849 modifizierten: Die mit der Krone Preußens verbundene Würde des Reichsvorstandes nahm das spätere Bundespräsidium beziehungsweise den Deutschen Kaiser vorweg, das Fürstenkollegium in etwa den späteren Bundesrat, und dem Zustandekommen der Unionsverfassung durch zwei Vereinbarungen, nämlich erst der Regierungen und sodann mit den Volksvertretern, folgte in etwa das Zustandekommen der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Dies nicht von ungefähr: Sowohl 1849/50 wie auch 1867 und dann 1870/71 waren nicht Volksvertreter, sondern einzelstaatliche Regierungen die einheitsbildende Kraft.
Das Erfurter Projekt beziehungsweise die Union beleuchten beide Bände in mehrfacher Weise. Ein erster Beitrag führt jeweils in die Problematik ein, Mai mit tiefgehender Analyse von „Erfurter Union und Erfurter Unionsparlament 1850“ (I 9ff.), Hans-Werner Hahn mit einem besonders gelungenen Überblick „150 Jahre Erfurter Unionsparlament - Zur Bedeutung des Unionsparlaments in der deutschen Geschichte“ (II 9ff.). Mais Sammelband zerfällt in zwei Teile: Der erste beleuchtet das Verhalten und Verhältnis einzelner Staaten zum Projekt beziehungsweise zur Union wie etwa von Preußen (D. E. Barclay), Österreich (M. Luchterhandt), Bayern (W. D. Gruner) oder die Thüringischen Staaten (H.-W. Hahn) sowie auch das der europäischen Mächte (W. D. Gruner). In einem zweiten Teil geht es um Sachprobleme wie das Erfurter Parlament (J. Lengemann), seine Parteien (Ch. Jansen, P. Steinhoff, H.-Ch. Kraus) und vor allem die von ihm verabschiedete Verfassung (H. Boldt). Sie erfährt auch in dem von Mittelsdorf redigierten Band eine Würdigung durch G. Lingelbach, der den Inhalt eher kurz analysiert, dafür aber besonders der Vorgeschichte breiteren Platz einräumt. In willkommener Ergänzung dazu bietet hier ein Anhang auch den Text der Unionsverfassung, und zwar einschließlich der vom Parlament beschlossenen Änderungen. Seinen erwähnten Beitrag in Mais Band vertieft Lengemann hier um Kurzbiographien der Parlamentarier aus Thüringen und H.-W. Hahn um die Wahlen in Sachsen-Weimar-Eisenach. H. Moritz untersucht Zusammensetzung und Tätigkeit des Unionsparlaments, F. Möller würdigt die Rolle des Liberalismus im Zusammenhang mit Erfurt.
Jeder der beiden Bände, jener Mais besonders umfassend und ausführlich, der Mitteldorfs zwar auch umfassend, aber knapper, behandeln in interessanter, informativer und auch innovativer Weise ein wesentliches Stück deutscher Verfassungsgeschichte, welches es tatsächlich verdient, mehr als bisher gewürdigt zu werden.
Wien Wilhelm Brauneder