MüllerkaiSchneider20010807 Nr. 10223 ZRG 119 (2002) 62
Schneider, Christoph, Die Verstaatlichung des Leibes. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die Kirche: eine Dokumentationsanalyse (= MenschenArbeit 11). Hartung-Gorre, Konstanz 2000. 195, 114 S.
Das binnen eines einzigen Tages fertiggestellte nationalsozialistische „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ stand im Widerspruch zur päpstlichen Enzyklika „Casti Connubii“. Wie die katholische Kirche in der alltäglichen Praxis mit dieser Konfrontation umging, untersucht Schneider am Beispiel des katholischen Kinderheimes St. Anton in Riegel, das zumindest ab 1935 den Erziehungsanstalten der „Liste V“, dessen Zuständigkeit sich auf „erbgeschädigten und unterbegabten Nachwuchs“ bezog, offiziell zugeordnet wurde. Die Arbeit, die über einen umfangreichen Anhang von insgesamt 93 abgedruckten Dokumenten verfügt, ist in drei Kapitel gegliedert, wobei die ersten beiden die Grundlage der im dritten Teil folgenden eigentlichen Untersuchung des Kinderheimes St. Anton bilden, indem zunächst anhand einschlägiger Sekundärliteratur allgemeine Darstellungen der Rassenlehre und Sterilisationsentwicklung bzw. der katholischen Kirchenpolitik im Nationalsozialismus erfolgen.
Im ersten Kapitel wird zunächst die Rassenlehre der Sozialdarwinisten und deren Auswirkungen auf die Eugenik zusammenfassend erörtert. Anschließend folgt ein kurzer historischer Abriss der politischen und wissenschaftlichen Forderung nach Sterilisation vom Kaiserreich bis zum Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Im zweiten Kapitel geht Schneider der schwierigen Frage des Verhältnisses der katholischen Kirche zum NS-Staat nach und beleuchtet sowohl die Zeit vor 1933 als auch das für die Kirche wichtige Jahr 1933 mit der „Machtergreifung“ und dem Abschluß des Reichskonkordats sowie abschließend kurz die Zeit des „Kirchenkampfes“ von 1934 bis 1945. Hierbei beschränkt sich Schneider nicht auf die Wiedergabe der bekannten Literaturansichten, sondern bezieht selbst Stellung, so etwa, wenn er den Abschluß des Reichskonkordats als eine Form des Widerstandes gegen den NS-Staat betrachtet (S. 64) oder den fehlenden Protest der katholischen Bevölkerung gegenüber der Diskriminierung von Minderheiten darin begründet sieht, daß der kirchliche Widerstand von Laien sich offensichtlich auf die Bewahrung der „habituellen Komponenten der Religion“ beschränkt habe (S. 73f.). Zwar hätte sich teilweise eine Auseinandersetzung mit gegenläufigen Thesen, so beispielsweise in Bezug auf die Bedeutung des Reichskonkordats mit der vom Verfasser erwähnten These von Denzler/Fabricius, Christen und Nationalsozialisten, 1995, S. 69 angeboten, jedoch hätte dies wohl den Rahmen der „einleitenden Funktion“ der ersten beiden Kapitel im Hinblick auf den folgenden Hauptteil überschritten. Wünschenswert wäre aber zumindest eine umfangreichere Berücksichtigung einschlägiger Werke zu den behandelten Themen gewesen (z. B. Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene, 1988).
Den Hauptteil der Arbeit bildet das dritte Kapitel, in dem Schneider anhand der Betreuungsakten der Heimzöglinge, der Korrespondenz der Heimleitung und der in den Akten der Heimleitung aufbewahrten Ministerial- und Ordinariatserlasse die Auswirkungen des „Sterilisationsgesetzes“ auf das Heim und seine Zöglinge für den Zeitraum von 1934 bis 1939 untersucht. Hierbei konstatiert Schneider, daß während des Heimaufenthaltes keine Sterilisationen durchgeführt wurden, insoweit entgegen der gesetzlichen Grundlage nicht auf die Vollendung des 14. Lebensjahres abgestellt, sondern erst mit Heimentlassung bzw. internem Schulabschluß die Einleitung eines Sterilisationsverfahrens betrieben wurde. Auch ist ab 1937 ein deutlicher Rückgang der Sterilisationsverfahren festzustellen. Die Gründe für diesen Rückgang bleiben jedoch im Dunkeln, da die vom Verfasser ausgewerteten Quellen keine entsprechenden Informationen enthalten und ein Rückgriff auf das Quellenmaterial anderer am Sterilisationsverfahren beteiligter Institutionen nicht erfolgt. Hinsichtlich der Heimleitung bzw. der Heimmitarbeiter macht Schneider eine ablehnende Haltung gegenüber dem „Sterilisationsgesetz“ aus. Ein offener Widerstand gegen die Sterilisationsverfahren ist jedoch nicht erkennbar. Widerstand beschränkte sich vielmehr auf Verweigerung und Verzögerung bestimmter Pflichten der Heimleitung. Dies betraf zum einen die Wortwahl in den Führungszeugnissen der Heimzöglinge, bei der die nationalsozialistische/erbbiologische Terminologie vermieden wurde und zum anderen die Verlegung von Heimzöglingen, denen ein Sterilisationsverfahren bzw. die Durchführung der Sterilisation drohte, in andere katholische Heime, womit allerdings in der Regel nur ein zeitlicher Aufschub der Sterilisation einhergehen konnte.
Insgesamt gibt Schneiders Untersuchung einen wertvollen Einblick in den alltäglichen Umgang einer katholischen Institution mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und zeigt insoweit ein Stück Konfrontationsbewältigung zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus aus Sicht der Erstgenannten auf. Zur Perspektiverweiterung wäre es notwendig, aufbauend auf dieser Arbeit nunmehr auch die weiteren, am gesamten Sterilisationsverfahren beteiligten Institutionen, wie beispielsweise Landesjugendamt, Gesundheitsamt und Erbgesundheitsgericht, ins Blickfeld zu nehmen.
Halle/Saale Kai Müller