BärHackländer20010516
Nr. 10372 ZRG 119 (2002) 77
Hackländer,
Philipp, „Im Namen des Deutschen Volkes“. Der
allgemein-zivilrechtliche Prozessalltag im Dritten Reich am Beispiel der
Amtsgerichte Berlin und Spandau (= Berliner juristische Universitätsschriften,
Zivilrecht 34). Berlin Verlag, Berlin 2001. 319 S.
Hackländer gibt in
seiner Berliner Dissertation einen Einblick in die allgemein-zivilrechtliche
Entscheidungspraxis des Amtsgerichtes Spandau im Zeitraum Januar 1936 bis März
1937 und des Amtsgerichtes Berlin im Jahre 1942. (S. 16) Dazu hat er die noch
auffindbaren 1059 allgemein-zivilrechtlichen Akten der Abteilung 5 des
Amtsgerichts Spandau gesichtet, die ganz überwiegend (876 Fälle) von einem
Amtsgerichtsrat und in Einzelfällen (178 Fälle) von vier verschiedenen
Gerichtsassessoren bearbeitet wurden. (S. 35) Von den noch vorhandenen 5650
Akten der Abteilungen 14 bis 26 des Amtsgerichts Berlin wurde jede vierte Akte
für die Untersuchung herangezogen. (S. 28f.)
Hackländer ergänzt
mit dieser Untersuchung das Wissen über die nationalsozialistische
Zivilrechtsjustiz. Eine Auswertung von fortlaufenden Prozeßakten unterer
Zivilgerichte aus der Zeit des Dritten Reichs zählte bislang zu den
Forschungsdesideraten. Dabei geht es Hackländer vornehmlich um die Frage,
welche Veränderungen sich in den Entscheidungen gegenüber der Rechtsprechung
vor 1933 nachweisen lassen und ob diese gegebenenfalls dem
nationalsozialistischen Zeitgeist, den Vorgaben der NS-Politik, - Justiz und –
Wissenschaft bzw. bereits veröffentlichten Gerichtsentscheidungen entsprachen.
(S. 16) Als Maßstab wurde „ein juristisch korrekt entscheidendes ‚Idealgericht‘
konstruiert, das die vor der nationalsozialistischen Machtergreifung erlassenen
Gesetze politisch neutral angewendet, im Tatbestand nur für Verständnis und
Entscheidung Wesentliches aufgenommen und in den Entscheidungsgründen keine
unjuristischen oder überflüssigen Wertungen vermerkt hätte. Ergo: Grundsätzlich
wurde jede Anwendung einer durch den nationalsozialistischen ‚Gesetzgeber‘ erlassenen
oder geänderten Vorschrift, jede Nennung eines nationalsozialistisch geprägten
Begriffes, jedes Kennzeichen jüdischer Abstammung oder Religion als
‚Veränderung‘ verzeichnet.“ (S. 32)
Dieser auf den ersten Blick hinsichtlich seiner Realisierbarkeit fragwürdig anmutende Ansatz erweist sich im Fortgang der Untersuchung als durchaus praktikabel, obschon im Einzelfall kaum zu bestimmen ist, wie ein Idealgericht wohl entscheiden würde.
Die Einleitung und die Darstellung des Forschungsstandes leiden unter einer Reihe von Ungenauigkeiten. (S. 15-28) Die Darstellung erfolgt in diesem Teil so komprimiert, daß der Erscheinungstermin der Publikationen und der jeweilige zeithistorische Kontext unzureichend beachtet wurde.
Die Arbeit gewinnt jedoch im Bereich der Urteilsanalyse erheblich an Qualität, obwohl das verfügbare Quellenmaterial zunächst sehr übersichtlich erscheint. Der Akteninhalt beschränkt sich meist auf die knapp gehaltenen gerichtlichen Entscheidungen sowie - bei Beteiligung von Rechtsanwälten oder Rechtsbeiständen – auf die jeweiligen Kostenfestsetzungsbeschlüsse. (S. 29) Die Schriftsätze der Parteien ebenso wie Protokolle über Beweisaufnahmen waren nicht mehr auffindbar.
Für das Amtsgericht Spandau konnte Hackländer unter Heranziehung des vorhandenen Materials im Bereich Miete und Pacht keine gravierend nationalsozialistisch gefärbte Entscheidung ermitteln. Lediglich die Wortwahl (Formalismus, S. 54) oder die ‚Allgemeinheit‘ als Kriterium der Eigentumsbindung (S. 61) lassen ohne jegliche Entscheidungserheblichkeit den Zeitgeist aufscheinen. Wenig Auffälligkeiten zeigten sich auch in den Bereichen Dienst- und Geschäftsbesorgungsverträge, Darlehensverträge, Kauf- und Werkverträge. Hackländer resümiert zudem für das Jahr 1936 abschließend, „wie wenig bestimmbar ‚nationalsozialistisches Rechtsempfinden‘ und wie schwierig die Feststellung ist, ob ein Urteil dem entsprach oder nicht.“ (S. 80)
Lediglich eine familienrechtliche Auseinandersetzung um
Unterhalt einer Ehefrau nach der Aufhebung der Ehe wurde von der
unterhaltspflichtigen Partei, deren Schriftsätze in diesem Fall erhalten
blieben, stark auf nationalsozialistisch geprägte Rechtsausführungen gestützt.
(S. 84ff.) Das Gericht wies darauf zunächst das Armenrechtsgesuch der klagenden
schizophrenen Ehefrau ab, um dann in der Endentscheidung der Ehefrau jedoch
einen Unterhaltsanspruch zuzusprechen. (S. 87f.) In den Entscheidungsgründen
verwies das Gericht auf den Gesetzeswortlaut und lehnte jede durch
nationalsozialistische Ideologie überlagerte Auslegung ausdrücklich ab. (S. 89)
In den Verfahren, in denen die Prozeßparteien jüdischer
Religion oder Abstammung waren, konnte Hackländer keine eindeutige
gerichtliche Diskriminierung dieser Parteien erkennen. Fraglich erscheint ihm,
inwieweit sich aus der überwiegenden Anzahl von Rechtsstreiten, die durch einen
Vergleich beendet wurden, ein Indiz für eine regelmäßige Benachteiligung
ablesen läßt. Die Antwort ist jedoch aus den vorhandenen Quellen nicht zu
ermitteln. (S. 122)
In einem Fall, in dem einer jüdischen Mieterin wegen
angeblicher Belästigung der Nachbarn gekündigt werden sollte, hat das Gericht
zugunsten der Mieterin nicht nur das Mieterschutzgesetz angewendet, sondern
auch die offensichtlich vorgeschobenen ‚Belästigungen‘ für unerheblich erklärt.
(S. 118) Die Rechtsstreite, an denen jüdische Rechtsanwälte beteiligt waren,
wiesen wiederum keine Auffälligkeiten auf. (S. 120)
Hinsichtlich der Beteiligung von Nationalsozialisten ließ
sich kein Fall einer Bevorzugung feststellen. (S. 277)
An den 5650 mittels Stichproben untersuchten Verfahren des
Amtsgerichts Berlin aus dem Jahr 1942 waren insgesamt 35 Richter beteiligt. In
diesen Verfahren verwendeten die Richter im Vergleich zu den Spandauer
Verfahren des Jahres 1936 erheblich häufiger nationalsozialistische Begriffe
bzw. nahmen systemkonforme Veränderungen des Rechts vor. (S. 153ff.) Allerdings
waren die Veränderungen in der Rechtsentwicklung durch den Erlaß von
Sonderregelungen mit eindeutig nationalsozialistischer Konnotation zu diesem
Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. (S. 129ff.) Hackländer nennt
insoweit beispielsweise die Hitlerrede vom 26. 4. 1942, in der Hitler den
Richtern, die nicht im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung
entschieden, Amtsentziehungsverfahren androhte (S. 128). Die Sondergesetzgebung
für Juden, die Maßnahmeverordnung vom 1. 9. 1939, die
Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. 9. 1939, die im Jahr 1942 bereits
veröffentlichten Gerichtsentscheidungen mit eindeutig nationalsozialistischer
Ausrichtung und die Erweiterung der Vorschriften zur Mitwirkung des
Staatsanwaltes in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten blieben auch auf die
Entscheidungen des Amtsgerichts Berlin nicht ohne Wirkung. Nach einer
umfassenden statistischen Erfassung der ausgewerteten Akten (S. 134-153) kann Hackländer
daher eine Vielzahl im oben genannten Sinne nationalsozialistisch beeinflußter
Entscheidungen nachweisen. (S. 153-223).
Betroffen waren das Mietrecht (S. 153-163), das Recht der
Dienst- und Geschäftsbesorgungsverträge (S. 163-168), der Darlehensverträge (S.
168-178), der Kauf-, Werk- und Werklieferungsverträge (S. 178-191), Ansprüche
aus ungerechtfertigter Bereicherung (S. 191-194) und aus unerlaubter Handlung
(S. 195-200). Nachweisbar war ferner ein Einfluß der Kriegsverhältnisse und der
Kriegswirtschaft auf die gesichteten Entscheidungen. (S. 200-210)
Von besonderem Interesse sind im Jahr 1942 Verfahren mit
jüdischen Prozeßbeteiligten, denen aufgrund mehrerer Stellungnahmen des
Reichsjustizministeriums aus den Jahren 1938 und 1939 der Zugang zu den Zivilgerichten
nicht versperrt wurde. (S. 225-228) Hackländer kann daher für das Jahr
1942 14 Fälle mit jüdischen Klägern und 20 Fälle mit jüdischen Beklagten
nachweisen und im einzelnen analysieren. (S. 232-267) In den Entscheidungen
finden sich eine Vielzahl spezifisch nationalsozialistischer Veränderungen,
ohne daß diese jedoch häufig zu Diskriminierungen jüdischer Parteien geführt
hätten. Die Prozeßakten bestätigten vielmehr aus Hackländers Sicht, daß
der Zivilprozeß auch nach 1933 grundsätzlich weiter „funktioniert“ hat. (S.
282) Dennoch lassen sich das benutzte Vokabular und z. T überflüssige und für
die Entscheidung nicht relevante nationalsozialistische Wertungen als
effiziente Zeitgeistverstärker charakterisieren, die dem Bürger die
allumfassende Präsenz der NS-Ideologie objektiv vor Augen führten. (S. 296)
Hackländer tut gut daran, in erster Linie die
Entscheidungen selbst sprechen zu lassen. Die zurückhaltenden Wertungen des
Autors ermöglichen es dem Leser, sich selbst ein Urteil über den Einfluß nationalsozialistischen
Gedankenguts auf die präsentierten Entscheidungen zu bilden. Von großem Wert
sind Hackländers Anmerkungen zu zeitspezifischen Sonderregelungen, die
viele Besonderheiten der Entscheidungen erläutern und dadurch erst verständlich
werden lassen.
Hackländer hat mit dieser Arbeit sein Ziel,
eine Forschungslücke im Bereich untergerichtlicher nationalsozialistischer
Zivilrechtsprechung zu schließen, vollständig erreicht. Die vorhandenen
darstellerischen Mängel entwerten den Kern der Untersuchung nicht, dessen Wert
in einer vollständigen, sorgfältigen Auswertung des vorhandenen Aktenmaterials
besteht.
Berlin Fred
G. Bär