ZieglerKuschnick20000822
Nr. 10122 ZRG 118 (2001)
Kuschnick, Michael, Integration in
Staatenverbindungen. Vom 19. Jahrhundert bis zur EU nach dem Vertrag von
Amsterdam (= Schriften des Rechtszentrums für europäische und internationale
Zusammenarbeit 11). De Gruyter, Berlin 1999. XXXVIII, 258 S.
1. „Die
Europäische Union in ihrer Gestalt nach dem Vertrag von Amsterdam kann nur
angemessen begriffen werden, wenn man sich ihrer historischen und
staatstheoretischen Grundlagen bewußt ist. Die europäische Einigung der letzten
fünf Jahrzehnte stellt in diesem Sinne ein weiteres Kapitel in der langen
Geschichte europäischer Staatenverbindungen dar.“ Mit diesen beiden Sätzen im
„Vorwort“ (V) gibt der Verfasser, ein Schüler Klaus Sterns in Köln,
schon zu Beginn die Richtung seiner überwiegend dem geltenden Recht gewidmeten
Untersuchung (seiner Dissertation) an, die schon deshalb das Interesse auch des
Rechtshistorikers beanspruchen darf.
Der
Verfasser hat sein Buch in fünf Sachkapitel gegliedert, die ihn von der
Geschichte des 19. Jahrhunderts bis zur Aussicht in das 21. Jahrhundert führen.
Nach einer kurzen „Einleitung“ (1‑2) analysiert der Verfasser in Kapitel
A „Die theoretischen Grundlagen der Staatenverbindungen im 19. Jahrhundert“ (3‑66).
In Kapitel B, „Integrationskonzepte und Integrationsziele der Europäischen
Gemeinschaften“ (67‑119), ist ein längerer entwicklungsgeschichtlicher
Teil, der die Zeit von 1945 bis 1986 umgreift, enthalten. In Kapitel C
behandelt der Verfasser „Die besondere Verbundhaftigkeit der Europäischen Union
nach den Verträgen von Maastricht und Amsterdam“ (120‑175). Mit Kapitel
D, „Nationale Öffnung für eine transzendente Staatlichkeit“ (176‑220),
begibt sich der Verfasser vornehmlich auf das Gebiet des deutschen
Verfassungsrechts, um mit dem kürzeren Kapitel E die „Bedingungsfaktoren
zukünftiger Integrationsentwicklung“ (221 ‑246), also die denkbare oder
wahrscheinliche Zukunft der Europäischen Union zu diskutieren.
Im
Folgenden sollen nur das erste und ‑ zum großen Teil ‑ das zweite
dieser fünf Kapitel etwas näher betrachtet werden, während die folgenden drei
Kapitel die Fachvertreter des Völkerrechts und des Europarechts sowie des
deutschen öffentlichen Rechts angehen, nicht aber die Historiker des Rechts.
2. „Die
theoretischen Grundlagen der Staatenverbindungen im 19. Jahrhundert“ ist die
sehr weitgespannte Überschrift, die der Verfasser seinem ersten Kapitel (A, 3‑66)
gegeben hat. Natürlich kann und will er nicht alles, was sachlich unter diesem
Titel verstanden werden kann, behandeln; denn das wäre ein eigenes Buch[1]. So stehen im
Zentrum seiner historischen Betrachtungen ‑ nach flüchtigen Hinweisen auf
den Westfälischen Frieden von 1648 und knappen Ausführungen über das Heilige
Römische Reich nach 1648 (l0ff.)[2] und den von
Napoleon I. dominierten Rheinbund von 1806 (12ff.) ‑ als
Vergleichsmodelle zur Europäischen Union (EU) einmal der Deutsche Bund von 1815
(14ff.) und zum anderen der Norddeutsche Bund von 1867 und das Deutsche Reich
von 1871. (33ff., 41ff.). Der Verfasser geht auch dabei jeweils von den
grundlegenden theoretischen Arbeiten aus, die bis heute unsere juristischen
Vorstellungen von den Staatenverbindungen geprägt haben, der 1882 erschienenen
Abhandlung „Die Lehre von den Staatenverbindungen“ von Georg Jellinek
und der 1886 veröffentlichten „Theorie der Staatenverbindung“ seines heute
weniger bekannten Kritikers Siegfried Brie (vgl. Verfasser 3, 14ff.,
33ff. und passim). Als dritten für die Abgrenzung von Bundesstaat und
Staatenbund grundlegenden Autor zieht der Verfasser Hans Kelsen zu Rate
(3, 53ff.), namentlich, aber nicht nur mit dem inzwischen klassischen Werk
„Allgemeine Staatslehre“ von 1925. Da die staatliche Souveränität für jede
Theorie der Staatenverbindungen mit am Anfang der Betrachtungen stehen muß
(vgl. Verfasser 4ff.), sind die Antworten der drei vom Verfasser konsultierten
Autoritäten durchaus unterschiedlich. Sehr schön arbeitet der Verfasser heraus,
wie bei Jellinek die Abgrenzung zwischen Staatenbund und Bundesstaat
theoretisch durchaus präzise ist (20ff., 47f.), während bei Kelsen ‑
wirklichkeitsnäher (und übrigens in Übereinstimmung mit den geschichtlichen
Erscheinungsformen) ‑ die Übergänge fließend sind. Nach einem
instruktiven Vergleich der Lehren von Jellinek, Brie und Kelsen
(58ff.) zieht der Verfasser dann „Folgerungen für die Analyse der Europäischen
Union als Staatenverbindung“ (62ff.). Die vom Verfasser festgestellten
„Parallelen zwischen der deutschen Einigung des 19. Jahrhunderts und der
europäischen Integration“ (62f.) sind zwar nicht falsch, bedürfen aber doch der
Ergänzung. Wie Italien vor 1861 war auch Deutschland vor 1867 eine Sprach‑
und Kulturgemeinschaft, so daß trotz der Aufteilung in verschiedene souveräne
Staaten der Gedanke der Nation politisch wirksam sein konnte[3]. Darin aber
liegt der gravierende Unterschied zu Europa, in dem unterschiedliche Nationen
und Sprachgemeinschaften vereinigt sind. Wenn, dann wäre die Entwicklung der
Schweizerischen Eidgenossenschaft[4] zum heutigen
Bundesstaat m. E. eine noch treffendere Parallele gewesen, denn hier waren drei
‑ sind heute vier ‑ Sprachgemeinschaften in einem staatlichen
Gemeinwesen vereinigt. Nur bei einem solchen Exempel durfte der Verfasser auch
die altgriechischen Staatenbünde und Bundesstaaten[5] kategorisch
ausschließen (vgl. Verfasser 10). Noch ein Hinweis: Der Verfasser würdigt mit
Recht auch die Rolle des Deutschen Zollvereins von 1834[6] (29ff.), geht
aber leider nicht auf die Währungsprobleme ein, die man teilweise durch
Münzunionen (so 1838 durch den Dresdner Münzvertrag und vor allem 1857 durch
den Wiener Münzvertrag, der mit dem „Vereinsthaler“ eine gemeinsame
Währungseinheit für viele deutsche Staaten samt Preußen und Österreich brachte)
zu lösen versucht hat[7]. Kurz, präzise
und anschaulich formuliert der Verfasser seine „Ergebnisse zu Kapitel A“
(65f.).
3. Im
größeren Teil des Kapitels B („Integrationskonzepte und Integrationsziele der
Europäischen Gemeinschaften“, 67‑119) gibt der Verfasser einen
zuverlässigen entwicklungsgeschichtlichen Überblick über die
Einigungsbemühungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg („Integrationslinien
von 1945 bis zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986“, 67ff.). Nachdem der
Verfasser zutreffend an die berühmte Zürcher Rede Winston Churchills aus
dem Jahre 1946 erinnert hat (68), erläutert er im Anschluß an Günther
Jaenicke[8]
den auch von ihm verwendeten, aus dem Amerikanischen entlehnten Begriff der
„Integration“ (69ff.), eine notwendige Klärung, die man freilich schon in der
Einleitung erwartet hätte. Mit der 1951 vereinbarten Gründung der Europäischen
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS, „Montanunion“) war erstmals eine
europäische Organisation mit supranationalen Ansätzen entstanden (72ff.). Nach
dem Scheitern der schon 1952 vertraglich fixierten Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft im Jahre 1954 (75ff.) wurde eine neue Stufe
bekanntlich mit den 1957 geschlossenen Verträgen von Rom erreicht, mit denen
die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische
Atomgemeinschaft (EAG, „Euratom“) gegründet wurden (79ff.). Hier hätte
allerdings herausgestellt werden sollen, daß schon damals die Bildung
gemeinsamer Organe für die drei Gemeinschaften begann (vor allem auch die
Zuständigkeit eines gemeinsamen Gerichtshofs). Der Verfasser hebt mit Recht die
Erweiterung der Gemeinschaften durch neue Mitglieder hervor (90f.), ferner die
erstmals 1979 erfolgte Direktwahl zum Europäischen Parlament (92), dessen
Tätigkeit schließlich zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 führte
(93ff.). In den „Ergebnissen“ zu Kapitel B stellt der Verfasser fest: „Die
Europäischen Gemeinschaften sind das Ergebnis der symmetrischen Verteilung
wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Potentiale, die auf die
Auflösung der Kategorien Bundesstaat und Staatenbund und des Dogmas von der
nationalen Souveränität angelegt sind“ (119).
4. Auf die
drei sich anschließenden Kapitel soll aus den oben (zu 1.) erwähnten Gründen
hier nicht näher eingegangen werden. In Kapitel C wird dem Leser klar gesagt,
was im historischen Überblick in Kapitel B etwas zu kurz gekommen ist, daß
nämlich die Europäische Union (EU) drei europäische Gemeinschaften (ECKS, EWG
und EAG) umfaßt, die ‑ im Gegensatz zur EU selbst ‑ juristische
Personen des Völkerrechts sind, obwohl sie gemeinsame Organe haben und
praktisch weitgehend eine politische Einheit bilden.
Eine auch
für sich lesenswerte „Zusammenfassung der Ergebnisse“ (247‑252) bildet
den Abschluß der Abhandlung. Beherzigenswert ist die Skepsis des Verfassers
gegenüber einer Überbewertung des Europäischen Parlaments: „Es ist daher
grundlegend verfehlt, wenn man das historische Bild bundesstaatlicher
Strukturen auf die Europäische Union überträgt“ (251). „Das Europa der Zukunft
muß dementsprechend die Vorteile föderaler Strukturen nutzen, ohne der Gefahr
zu erliegen, sie mit einer bundesstaatlichen Finalität zu verknüpfen“ (252).
Die
Benutzung des Buches wird durch ein „Register“ (253‑258) erleichtert,
ebenso durch das der „Inhaltsübersicht“ (VII-VIII) nachfolgende ausführliche
„Inhaltsverzeichnis“ (IX‑XV), dem das „Literaturverzeichnis“ (XVII‑XXXVII)
folgt.
5. Dem
Rechtshistoriker stellt sich nach der Lektüre einer Arbeit, wie sie der
Verfasser vorgelegt hat, die Frage nach dem Erkenntniswert für sein Fach. Der
rein historische Ertrag kann bei einer solchen Anbindung an das geltende Recht
fast notwendig nur ein begrenzter sein. Daß umgekehrt die historische
Perspektive ein tieferes Verständnis der heutigen Rechtswirklichkeit
ermöglicht, erscheint mir nicht zweifelhaft. Vor allem aber können wir als
Historiker aus den Erfahrungen der Gegenwart ein besseres Verständnis für
ähnliche Entwicklungsprozesse in der Vergangenheit gewinnen. Von daher bietet
die Arbeit des Verfassers über „Integration in Staatenverbindungen“ auch dem
Rechtshistoriker eine durchaus lohnende Lektüre.
Hamburg Karl‑Heinz Ziegler
[1] Vgl. dazu nur die zahlreichen Hinweise bei J. L. Kunz, Die Staatenverbindungen, Stuttgart 1929.
[2] Bedauerlicherweise hat sich der Verf. die tief eindringende Monographie von A. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, Berlin 1967, entgehen lassen.
[3] Zu der 1851 publizierten These des Italieners P. S. Mancini, die Nationalität sei Grundlage des Völkerrechts, vgl. die Hinweise in meiner „Völkerrechtsgeschichte“, München 1994, 233/34.
[4] Vgl. dazu nur die Hinweise bei J. L. Kunz (s. o. Anm. 1), 436, 569ff.
[5] Vgl. dazu die Hinweise in meiner Rezension von H. Beck, Polis und Koinon. Untersuchungen zur Geschichte und Struktur der griechischen Bundesstaaten im 4. Jahrhundert v. Chr. (Stuttgart 1997), in: ZRG Rom.Abt. 116 (1999) 318ff.
[6] Vgl. dazu jetzt G. Lingelbach, Zollverein, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 5 Sp. 1769ff. (1996).
[7] Vgl. dazu den Art. Münzkonventionen, internationale Regelung des Münzwesens, von Predöhl, Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie (Hg. K. Strupp), Bd. 2 (Berlin ‑Leipzig 1925) 76f., sowie ‑ vor allem auch zu den Entwicklungen schon im Heiligen Römischen Reich ‑ E. Wadle, Münzwesen (rechtlich), HRG (Anm. 6) Bd. 3 Sp. 770ff., 780ff. (1981).
[8] G. Jaenicke, Art. Europäische Integration, Wörterbuch des Völkerrechts (Hg. H. J. Schlochauer), Bd. l (Berlin 1960) 466ff., 466. Leider fehlt der Hinweis auf Jaenickes entsprechenden Art. European Integration, Encyclopedia of Public International Law (ed. R. Bernhardt), vol. II (Amsterdam ‑ Lausanne etc. 1995) 240ff. (1983, Addendurn 1992).