WolfwilhelmJahrbuch20000914 Nr. 10147 ZRG 118 (2001)

 

 

Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte, hg. v. Heyen, Erk Volkmar, 10 (1998) (= Die öffentliche Verwaltung im totalitären System). Nomos, Baden-Baden 1998. IX, 361 S.

Der anzuzeigende Sammelband enthält neben dem Editorial, den Summaries und dem Verzeichnis der Anschriften der Verfasser fünfzehn Beiträge ausgewiesener Kenner der Materie zur Geschichte der jeweiligen Verwaltungen europäischer Länder unter totalitären Herrschaftsbedingungen. Die allen Arbeiten gemeinsame Zielsetzung scheint eine nur in groben Zügen umrissene zu sein. Es soll im Zentrum um die Alltagsverwaltung der Ministerial-, Regional- und Kommunalbehörden nach Theorie und Praxis unter dem Eindruck vielfältiger Diktaturerfahrung gehen[1]. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte des Totalitarismus hingegen ist nicht beabsichtigt und wird auch nicht geliefert.

Unter dieser beinahe unbegrenzten Themenstellung finden sich naturgemäß unterschiedlich interessierte und motivierte Arbeiten, die aber gerade durch die Vielfältigkeit der zusammengetragenen Perspektiven, Forschungsansätze und der behandelten Verwaltungssysteme ein reizvolles Panorama über ein höchstens in Ansätzen bearbeitetes Grenzgebiet zwischen Zeitgeschichte, Juristischer Zeitgeschichte und Politikwissenschaften bieten.

Der Sammelband beginnt mit einem Beitrag von Ruck zur deutschen Verwaltung im totalitären Führerstaat. Dem schließt sich die Untersuchung von Staff zu Staatstheorien und Verwaltung im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien an. Melis widmet sich Italian Bureaucracy and Fascism, während Tosatti die Entwicklung des italienischen Innenministeriums unter der Herrschaft des Faschismus in den Blick nimmt. Ferrara untersucht die Entstehungsbedingungen des faschistischen Ministeriums für Presse und Propaganda auch unter dem Blickwinkel einer in der Entdeckung der politischen Möglichkeiten der Massenkommunikationsmittel typischen Signatur totalitärer Systeme der späten 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Gianetto zeigt den Umgang faschistischer Ideologie und Politik mit den Bestrebungen lokaler Verwaltungsautonomie auf und beschreibt Instrumente staatlicher Zentralisierungsbemühungen. Brunner liefert einen Überblick über die Verwaltungsstrukturen in den kommunistischen Einparteiendiktaturen Osteuropas. Es folgen Einzeluntersuchungen von Lengyel zum politisch-administrativen System Rumäniens im nationalkommunistischen Totalitarismus und von Huskey und Porshakov zur Geschichte der russischen Zivilverwaltung in der Umbruchsphase zwischen 1985 und 1998. Heyen analysiert vergleichend zwei Lehrbücher des Verwaltungsrechts auf totalitäre Aspekte des Verwaltungsbegriffs im Dritten Reich und in der Deutschen Demokratischen Republik. Boyer nutzt die äußere Geschichte Deutschlands und beobachtet die Wirtschaftsverwaltung in der Diktatur von 1933 bis 1952. Baruch klärt über die Verwaltungsgeschichte Frankreichs unter dem Vichy-Regime auf, während del Alcázar über die spanische Verwaltung unter General Franco informiert. Dem schließen sich zwei Beiträge von Gronlie und Nagel zum einen und von Bjerkén zum anderen zu den Verwaltungsgeschichten Norwegens und Schwedens an.

Der europäische Bezug und Charakter des Sammelbandes scheint damit beinahe offensichtlich zu sein. Dennoch findet sich kein überzeugender methodischer Zugang zu dem eigentlich interessierenden und wissenschaftlichen Erkenntnisertrag versprechenden Potential der europäischen Perspektive. Der historische und der rechtswissenschaftliche Vergleich des jeweils in den nationalen Geschichten Gefundenen fehlt. Das ist allerdings kein besonderes Merkmal des hier zu behandelnden Sammelbandes, sondern eine wohl immer noch als generell gültig zu bezeichnende Beobachtung für die Arbeiten, in denen von einer internationalen Autorengruppe zeitlich parallel verlaufende historische Ereignisse und Entwicklungen national analysiert werden[2].

Der Umfang und die breite Spanne der in dem Sammelband zusammengefassten Arbeiten macht eine Auseinandersetzung mit allen Beiträgen unmöglich. Die Konzentration auf die eine oder andere Arbeit folgt daher einerseits der Notwendigkeit und andererseits den völlig subjektiven Interessen des Rezensenten.

Die Arbeit Staffs zur Verwaltung im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien verdient nicht nur deshalb besondere Beachtung, weil sie von einer intimen Kennerin beider Materien stammt. Vielmehr unternimmt die Verfasserin dezidiert nicht nur im Titel ihres Beitrags, sondern an dessen Ende den Versuch der Benennung von Grundlagen für einen „Vergleich von Nationalsozialismus und Faschismus“, für den die präsentierten Meinungen von Verwaltungsrechtswissenschaftlern aus der nationalsozialistischen bzw. faschistischen Zeit Bausteine liefern könnten[3]. Einem derartigen Vorhaben dürfte eher Erfolg beschieden sein, wenn seine Zielsetzung zunächst eine bescheidenere bliebe. Denn Rückschlüsse aus der Analyse verwaltungsrechtswissenschaftlicher Stimmen auf Struktur und Unterschiede zweier politischer Herrschaftsformen bleiben gewagt, solange ihnen die Grundlage empirischer Untersuchungen dazu fehlt, welche Bedeutung diese Stimmen für insbesondere die alltägliche Verwaltung, ihre Träger und ihre Unterworfenen hatten.

Zweifel an der These, daß das Schmittsche konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken die tägliche Praxis des Verwaltungshandelns bestimmt hat, sind angebracht. Hierzu bedarf es nicht unbedingt des Rückgriffs auf die Tatsache, daß Carl Schmitt spätestens 1937 jeden rechtspolitischen Einfluß verloren hat. Selbstverständlich erkannte Schmitt ebenso wie seine Kollegen, daß Verwaltung im modernen Massenstaat der Bindung an allgemeine Regeln bedarf, um eine gleichförmige und im wesentlichen rational-berechenbare Verwaltungspraxis herzustellen[4]. Wo liegt dann aber der Unterschied zum rechtsstaatlichen Verwaltungsstaat? Beruht er nicht auch auf allgemeinen Regeln, allgemeinen Gesetzen, Berechenbarkeit und Rationalität? Man muß kein Kenner der Rechtshistorie sein, um zu wissen, daß der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff ein formaler ist, dessen Zielsetzung darin liegt, individuelle Freiheitsräume zu sichern und hoheitliche Eingriffe zu begrenzen. Dann aber liegt die Erkenntnis auf der Hand, daß es sich bei einem Gesetz oder einer sonstigen Norm zunächst lediglich um ein wertneutrales Werkzeug handelt, mit dem totalitäre Ziele ebenso zweckmäßig verfolgt werden können wie rechtsstaatliche. Für die Praxis totalitären Verwaltungshandelns und die Eröffnung der Vergleichsmöglichkeiten verschiedener nationaler Verwaltungssysteme wird es daher der Analyse der Regelungsgehalte der einzelnen normativen Komplexe vor dem Hintergrund eines historisch ergiebigen Gesetzesbegriffs bedürfen, um die Besonderheiten nationalsozialistischer, sozialistischer, kommunistischer und faschistischer Gesetzlichkeit erkennen zu können. Aus der Perspektive des rechtsstaatlich-liberalen Gesetzesbegriffs mit dem Interesse an einem Vergleich der Gesetzgebungstechnik dürfte das Ergebnis trotz einiger Differenzierungen im einzelnen einheitlich ernüchternd ausfallen: Während es dem rechtsstaatlichen Gesetz um die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat und dessen semantischen, institutionellen, methodischen und personellen Sicherungen geht, fungiert das totalitäre Gesetz als Werkzeug zur Durchsetzung beliebiger überindividueller Ziel- und Zwecksetzungen. Diese mögen und werden in den einzelnen Zielsetzungen durchaus differieren. Die Ermittlung dieser Unterschiede und ihr Vergleich allerdings bedürfen noch ausstehender Detailuntersuchungen. Ansatzpunkte hierfür sind reichlich vorstellbar.

Heyen liefert mit seinem Beitrag über totalitäre Aspekte des Verwaltungsbegriffs im Dritten Reich und in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hierzu ein vorzügliches Beispiel für Methode und Fragestellung[5]. Der Vergleich zweier in den jeweiligen Herrschaftssystemen führender Lehrbücher zum Verwaltungsrecht bietet auch deswegen reichen Ertrag, weil er sich auf zentrale Merkmale und Begriffe des Verwaltungsrechts konzentriert, die gleichsam die Grundlagen des jeweiligen Verwaltungsverständnisses offenbaren: Das Verhältnis von Verwaltung und Staat, Verwaltung und Volk, Verwaltung und Partei, die Positionen zur Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, zu den subjektiven Rechten und dem Verwaltungsrechtsschutz und zur Rechtsstellung der Verwaltungsbediensteten dienen gleichsam als Kriterienkatalog zur Identifizierung und Darstellung der Verwaltungsverständnisse und ihrer Unterscheidungen. Dieser Katalog könnte Ansatz zumindest für einen Vergleich der Verwaltungsrechtswissenschaften in totalitären Systemen liefern, ohne recht willkürlich eines der Vergleichsobjekte zum Maßstab zu küren. Daß Heyen in seiner Schlußbemerkung resümiert, daß die vorstehende Parallelisierung von totalitären Aspekten des Verwaltungsbegriffs in den politischen Systemen des Dritten Reichs und der DDR ein beachtliches Maß an Gemeinsamkeiten ergeben habe[6], verwundert nicht und bestärkt die Vermutung, daß die normativen Techniken zur Umsetzung verwaltungsrechtlicher Zielsetzungen im Totalitarismus nahezu identische gewesen sein dürften.

Laubach                                                                                                         Wilhelm Wolf



[1] Heyen/Melis, Editorial, VII.

[2] Vgl. hierzu etwa den Sammelband Zwischen Kontinuität und Fremdbestimmung. Zum Einfluß der Besatzungsmächte auf die deutsche und japanische Rechtsordnung 1945 bis. 1950, hg. v. Bernhard Diestelkamp/Zentarô Kitagawa/Josef Kreiner/Junichi Murakami/Knut Wolfgang Nörr/Nobuyoshi Toshitani, Tübingen 1996 und meine Rezension hierzu in ZRG Germ. Abt. 116 (1999), 674-676.

[3] Staff, Staatstheorie und Verwaltung im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien, S. 71.

[4] Staff, Staatstheorie und Verwaltung im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien, S. 53.

[5] Heyen, Totalitäre Aspekte des Verwaltungsbegriffs im Dritten Reich und in der DDR. Ein Vergleich zweier Lehrbücher des Verwaltungsrechts, S. 221.

[6] Heyen, Totalitäre Aspekte des Verwaltungsbegriffs im Dritten Reich und in der DDR. Ein Vergleich zweier Lehrbücher des Verwaltungsrechts, S.237.