StürnerSubjektivierung20000915 Nr. 625 ZRG 118 (2001)
Subjektivierung
des justiziellen Beweisverfahrens. Beiträge zum Zeugenbeweis in Europa und in
den USA (18.-20. Jahrhundert), hg. v. Gouron, André/Mayali, Laurent/Schioppa
Padoa, Antonio/Simon,
1. Der Band widmet sich einem besonders interessanten Kapitel der Entwicklung des europäischen und damit auch U.S.-amerikanischen Beweisrechts: der Entwicklung vom gemeinprozessualen testis inhabilis zum modernen Weigerungsrecht des Zeugen. Zwei Umstände lassen den Band schon von seiner Anlage her als attraktiv erscheinen. Einmal präsentiert er diesen Teil der Geschichte des Beweisrechts für den Zivilprozeß und den Strafprozeß und wird dabei gemeinsamen geistesgeschichtlichen Wurzeln ebenso gerecht wie einer langen gemeinsamen beweisrechtlichen Tradition, die im angloamerikanischen Rechtskreis erst ganz allmählich abzusterben beginnt. Zum anderen verbindet der Band Rechtsvergleichung mit Rechtsgeschichte und leistet damit gerade für die europäische Prozessualistik einen wichtigen Beitrag, deren gegenwärtige Arbeit an Harmonisierungen sich nur allzu oft in etwas technokratisch anmutender, eher kompilatorischer Rechtsvergleichung erschöpft.
2. Den Abschnitt zum zivilprozessualen Zeugenbeweis leitet der Beitrag Storchi, Capacità e Credibilità del testimone nella giurisprudenza italiana tra Ottocento e Novecento ein (S. 1-62). Die italienische Aufarbeitung, die mit großer Sorgfalt und Sachkunde vor allem den untauglichen verwandten Zeugen, den verdächtigen interessierten Zeugen und das Berufsgeheimnis näher analysiert und schildert, steht nicht umsonst am Anfang. Im italienischen Recht ist zwar das „sistema della prova legale“ wie in fast ganz Europa im 19. Jahrhundert aufgegeben worden, zeigt jedoch noch beträchtliche Folgewirkung, wie man insbesondere aus Art. 246 c.p.c. (incapacità a testimoniare) und Art. 247 c.p.c. (divieto di testimoniare) und Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichts zu dieser Frage ersehen kann. Storchi zeichnet die historische Entwicklung und die zahlreichen Reformversuche in Entwürfen eindrucksvoll nach, auch die Versuche unterschiedlicher Rechtfertigung der Beweisschranken in den einzelnen geistesgeschichtlichen Epochen. Folgerichtig schließt sich an den Beitrag zur italienischen Entwicklung die Analyse der französischen Prozeßgeschichte an (Montazel, Les témoins reprochables dans le procès civil, XIXe-XXe siècle, S. 63-90). Frankreich hat zwar mit seinem mündlichen und öffentlichen Prozeß 1806 wesentliche Anstöße zur Entwicklung weg von der legalen Beweislehre gegeben, jedoch am „témoin reprochable“ lange festgehalten und erst im Nouveau Code 1976 endgültigen Abschied von Ausschlußregeln genommen; Montazel gelingt es vorzüglich, die Hintergründe dieser Entwicklung lebendig werden zu lassen. Die deutsche Rechtsentwicklung wird durch vier ausgezeichnete Darstellungen aufbereitet und in Gesamtzusammenhänge eingeordnet: Dölemeyer analysiert den Zeugenbeweis im deutschen Zivilprozeß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 91-111), Drosdeck behandelt – repräsentativ für ganz Deutschland – allgemein die Ablösung der gemeinrechtlichen Beweisdoktrin im 19. Jahrhundert am Beispiel des Königreichs Hannover (S. 113-143), Bergfeld widmet sich dann wieder speziell dem Zeugenbeweis im deutschen Zivilprozeßrecht von 1877-1933 (S. 145-163) und Bogisch packt mit dem Thema „Nemo testis in re sua“ (S. 165-190) in Gestalt der Entwicklung des Rechts der Parteivernehmung ein besonders heißes Eisen an, an dessen endgültiger Gestaltung die Prozessualistik auch in Deutschland noch heute schmiedet: hier finden sich auch in Deutschland noch letzte Reste einer legalen Beweislehre, die sich erst so ganz allmählich vollends abbauen dürften. Für Deutschland entsteht durch die vier gut aufeinander abgestimmten Beiträge ein besonders intensives Bild historischer Grundlagen des gegenwärtigen prozessualen Zeugenbeweisrechtes.
3. Der zweite Abschnitt des Bandes wiederholt in gewisser Weise für den Strafprozeß die zivilprozessuale Sequenz des ersten Abschnitts: er beginnt wiederum mit dem italienischen Beitrag (Sciume, La prova testimoniale nel processo penale italiano fra Otto e Novecento: la ricusazione fra libero convincimento de giudice et diritti della difesa, S. 191-212), stellt die analoge französische Entwicklung dar (Durand, Les témoins reprochables en droit pénal français de 1808 à nos jours, S. 213-244) und kommt dann zur breiten Präsentation der deutschen Prozessgeschichte (Koch, Der Zeugenbeweis in der deutschen Strafprozeßrechtsreform des 19. Jahrhunderts, S. 245-263; Stichweh, Zur Subjektivierung der Entscheidungsfindung im deutschen Strafprozeß des 19. Jahrhunderts, S. 265-300). Insgesamt erscheint der Strafprozess wegen seiner größeren politischen Bedeutung beim Aufbrechen der legalen Zeugenbeweislehren eher als Vorreiter des Zivilprozesses, zeigen doch hier die freie richterliche Überzeugung („conviction intime“) und auch die Bedeutung der anwaltlich geführten Verteidigung als Promotoren freier Beweislehre besonders starke Wucht und Sprengkraft. Dies läßt der zweite Abschnitt des Bandes sehr schön und quellenmäßig gut belegt besonders klar werden, wenngleich man die Verbindungslinien zwischen den Verfahrensarten noch klarer hätte aufzeigen können. Im Strafprozeß kommt dann noch der angloamerikanische Rechtskreis mit zwei informativen Beiträgen zu Wort: Klapisch, Duae animae in carne una? Spouses as Witnesses in the American Law of Evidence between 1839 and 1944, S. 301-336; Feeley/Lester, Legal Complexity and the Transformation of the Criminal Process, S. 337-375. Beide Arbeiten geben einen Eindruck von der Bedeutung insbesondere der jury für das angloamerikanische Beweisrecht, obwohl sie in der Masse der Strafverfahren kaum eine Rolle spielt. Vielleicht wäre die intensivere Frage nach römisch-kanonischen Wurzeln auch des angloamerikanischen Beweisrechts noch lohnend gewesen (hierzu insbesondere Macnair, The Law of Proof in Early Modern Equity, 1999), deren Beantwortung den Umbruch gerade im englischen Zeugenbeweisrecht des 19. Jahrhunderts noch besser verständlich werden und die oft aufgestellte These vom angloamerikanischen Sonderweg im Beweisrecht eher fragwürdig erscheinen läßt.
4. Insgesamt ein schöner, aufschlußreicher Band, der zur Belebung der Wissenschaft vom Prozeß entscheidend beiträgt. Prozessualisten sollten ihn lesen, wie allerdings auch zu wünschen wäre, daß Rechtshistoriker neuere Werke der Prozessualistik zur Kenntnis nehmen, wenn sie Prozeßgeschichte deuten.
Freiburg im Breisgau Rolf
Stürner