SchusterBurkhardt20000829 Nr. 1233 ZRG 118 (2001)
Burkhardt, Martin, Konstanz im 18. Jahrhundert.
Materielle Lebensbedingungen einer landständischen Bevölkerung am Ende der
vorindustriellen Gesellschaft (= Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 36). Thorbecke, Sigmaringen 1997. 397 S.
Die Studie Martin Burkhardts nimmt die Versuche zur exakteren Erfassung der Untertanen seitens des reformabsolutistischen Staates von 1765-1805 zum Ausgangspunkt, um mit Hilfe computergestützter Analysen und Statistiken die materiellen Lebensbedingungen in Konstanz zu rekonstruieren. Daß dabei schwer aufzuschlüsselnde serielle Quellen wie Kirchenbücher, Einwohnerstatistiken, Nachlaßinventare, Preislisten und Haushaltsrechnungen aufgearbeitet werden, stellt ein wesentliches und keineswegs gering zu schätzendes Verdienst der Arbeit dar.
Die Konfrontation mit einem schwierigen Material prägt die Gliederung des Buches. Zunächst wird die Einwohnerzahl der Stadt „bis auf die Zehnerstelle genau“ (S. 67) auf der Basis eines „Seelenbeschriebes“ von 1774 erstellt (S. 58ff) und ihre Entwicklung mittels weiterer, ungenauerer Listen skizziert (S. 67ff.). Eine Auswertung der Kirchenbücher und Sterbeprotokolle ermöglicht im folgenden eine demographische Untersuchung mit medizingeschichtlichen Ausblicken (S. 84ff.), bevor dann auf der Basis von Preis- und Lohntabellen die Entwicklungen der Preise und Löhne städtischer Angestellter untersucht werden (S. 119ff.). Dieses Kapitel enthält eine aus den städtischen Rechnungsbüchern schöpfende, für die Strategien bei der Bewältigung von Krisenjahren äußerst aufschlußreiche Untersuchung des Haushaltes einer Mühle (S. 142ff.) und lesenswerte Überlegungen zum Existenzminimum (S. 162ff.), die sich auf Aufzeichnungen über sozialfürsorgerische Initiativen stützen. Es folgt eine ausführliche Auswertung von Sterbeprotokollen und Nachlaßinventaren, die der Autor nicht nur in Bezug auf die soziale Schichtung der Stadt, sondern auch in Hinblick auf die materielle und kulturelle Ausstattung der Haushalte sowie in Bezug auf die Strategien der wirtschaftlichen Vorsorge zum Sprechen bringt (S. 172ff.). Der folgende Abschnitt über die Armenfürsorge, der auf einem Verzeichnis der Unterstützungszahlungen beruht (S. 262ff.), bleibt gemessen am bisherigen hohen Niveau der Durchdringung der Quellen skizzenhaft, bevor dann eine erneut auf dem Seelenbeschrieb basierende Untersuchung der Haushaltsstruktur (S. 277ff.), der Häusernutzung (S. 304ff.) und der Erwerbstätigkeit (S. 332ff.) das Buch abschließt.
Thematisch klingt eine solche Aneinanderreihung eklektizistisch, aber die inhaltlich lockere Struktur der Arbeit geht auf eine methodische Grundentscheidung des Autors zurück: Er arbeitet lieber ohne Anspruch auf Vollständigkeit verschiedene Aspekte der einzelnen Quellengattungen auf, als ein umfangreiches Gesamtbild zu entwerfen, dessen Grundlagen für den nicht-statistisch geschulten Leser nicht mehr nachzuvollziehen wären. Damit wird ein Bewußtsein für die Grenzen und Relativität der aus den Quellen gewonnenen Daten greifbar, das sich erfrischend von der Zahlengläubigkeit älterer historisch-statistischer Arbeiten absetzt. Inhaltlich gesehen macht die gewählte Darstellungsform die Lektüre freilich nicht immer einfach: Manche Kapitel präsentieren sich als bloße Abfolge von erläuterten Schaubildern, ohne daß eine innere Logik der sich im Erkenntnisinteresse teilweise überschneidenden Auswertungen ersichtlich würde. Die zeitweilige Desorientierung des Lesers wird durch die zurückhaltende Deutung der einzelnen Befunde und das Fehlen übergreifender Zusammenführungen am Ende der Kapitel verstärkt. (Für diese Zwischenzusammenfassungen bietet auch die knappe Endzusammenfassung kein Ersatz). Diese Mängel gehen auf eine sympathische, aber den Leser letztlich unbefriedigt lassende Selbstbescheidung eines Autors zurück, der umfassenderen Arbeiten die Deutung überlassen will. Aber trotz dieser Zurückhaltung vermittelt die aspektreiche Untersuchung der einzelnen Quellen am Ende doch ein relativ einheitliches und eindrückliches Bild von den Lebensverhältnissen in Konstanz am Ende des 18. Jahrhunderts.
Obwohl die einzelnen Ergebnisse die Hypothesen der neueren Forschung mehr modifizieren als revolutionieren, weist die nur am Einzelfall mögliche Konkretisierung verschiedener Perspektiven zu einem exemplarischen Gesamtbild landstädtischer Lebensbedingungen über den bisherigen Wissenstand hinaus. Die hohe berufliche Flexibilität und räumliche Mobilität der Mehrheit der städtischen Bevölkerung, von der im Falle Konstanz auch die Oberschicht nicht ausgenommen ist, schließt sich weit enger als erwartet an die Gegebenheiten moderner Städte an – ein Befund, den der Autor geschickt durch Ausflüge in die moderne Sozialstatistik zu untermauern versteht. Das besondere Augenmerk, das dabei dem Schicksal der in statistischen Untersuchungen häufig unberücksichtigt bleibenden Armen gewidmet wird, schreibt diese phänotypische Modernität gleichzeitig in den Hintergrund einer allmächtigen Gegenwart von Armut und Not sowie der sie begleitenden Krankheiten und des omnipräsenten Todes ein. Allerdings würde sich das entworfene Bild einer bloß relativen Ungleichheit vor dem Tod (S. 99, 109) wohl deutlicher relativieren, wenn man die Schichten miteinbezöge, die von der spätabsolutistischen Statistik nicht erfaßt werden: die Fahrenden. In der Untersuchung eines Fremdenrodels von 1802 (S. 114ff.) versucht der Autor den Horizont seiner Arbeit in Hinblick auf diese Gruppe zu öffnen, doch die schmale Quellengrundlage erlaubt nicht mehr als Ausblicke.
Eine weitere Eigenart der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die in der Arbeit in aller Nachdrücklichkeit vor Augen geführt wird, ist die Privilegierung der Verheirateten. Die rigiden Heiratsbeschränkungen und die Tendenz zum Leben in der Kleinfamilie führen zur Präsenz einer großen Gruppe Alleinstehender bzw. in wechselnden Kleingemeinschaften Wohnender in der Stadt. Sie können der Untersuchung zufolge keineswegs als in familiäre Solidarnetze eingebunden betrachtet werden. Diese Gruppe fällt dann im Alter oder bei Krankheit der städtischen Armenfürsorge anheim, die selbst im relativ großzügigen Konstanz nur für die Minderheit der Spitaleinsassen eine hinreichende Versorgung garantiert. Allerdings sterben auch die in größeren Haushalten lebenden Konstanzer so häufig im Spital, daß die Vorstellung von familiärer Krankenpflege insgesamt ins Wanken gerät.
So erkenntnisfördernd das Bestreben des Autors ist, die seßhaften Armen in das Gesamtbild des Zusammenlebens miteinzubeziehen, in den dieser Gruppe gewidmeten Abschnitten zeigen sich vielleicht am deutlichsten die Grenzen seiner auf moderne Kategorien bezogenen Auswertungen. Von „Fehlbezug“ von Armenunterstützung zu sprechen, verallgemeinert einen allein auf materielle Bedürftigkeit bezogenen Armutsbegriff, der mit der zeitgenössischen Vorstellung von standesmäßig bestimmter Bedürftigkeit kontrastiert. Dieser Anachronismus hat heuristische Folgen: Obwohl die Quellen deutlich machen, daß nur ein Bruchteil der Bedürftigen von der Stadt unterstützt wird, stellt der Autor die Frage nach den Kriterien der Auswahl nicht. So übersieht er die Möglichkeit informeller Mechanismen sozialer Selektion, die seine aus der Verwaltung stammenden Daten relativieren. Konkret heißt dies, daß hier und in anderen nicht von der obrigkeitlichen Aufzeichnung erfaßten Aspekten des Zusammenlebens die Standeszugehörigkeit, deren Bedeutung von Burkhardt bestritten wird, doch eine Rolle für die Lebensperspektive gespielt haben könnte. Daher ist trotz des eindrücklich nachgewiesenen Aufbrechens der sozialen Schranken am Ende des 18. Jahrhunderts ein Fragezeichen hinter die Vorstellung zu setzen, individuelle Flexibilität und Mobilität hätten die Zukunftsperspektiven des Einzelnen bestimmt. Denn wenn die soziale Kategorie des Standes in der staatlichen Statistik nicht auftaucht, könnte dies auch daran liegen, daß die reformabsolutistische Verwaltung am Abbau von Standesschranken interessiert war.
Ähnlich begrenzt erscheint die Aussagekraft statistisch-serieller Quellen in Bezug auf die Bestimmung der Qualität des bürgerlichen Lebens in Konstanz. Zwar stellen die in den Nachlaßinventaren greifbar werdende kärgliche Raumausstattung und die geringe Rolle von Büchern wichtige Indizien für das Fehlen eines Bildungsbürgertums in Landstädten wie Konstanz dar, doch ist dieser Befund im Hinblick auf die exemptierten Dom- und Chorherren (S. 233) und ihren Buchbesitz noch deutlicher zu relativieren, als der Autor dies tut. Wie er selbst darlegt, zirkulieren Bücher, daher stellt die Gleichsetzung von Buchbesitz und Bildung eine unzulässige Verkürzung dar. Auch die von einer äußerst schmalen Quellenbasis abgeleitete Korrelation von Besitz und sozialem Status in der Auszählung der Anrede Herr auf einer Gebäudebesitzerliste (S. 248) stellt kein hinreichendes Argument dafür dar, daß sozialer Status auch für Nicht-Verwaltungsbeamte allein auf materiellem Besitz beruhte (S. 249). Und selbst wenn sich die Konstanzer Oberschicht durch Zuwanderer ständig erneuerte, ist diese regionale Mobilität eben nicht gleichbedeutend mit sozialer Mobilität. Man könnte ebenso dahingehend argumentieren, daß höherer Status unabhängig vom Lebensort mit höheren Erwerbschancen und einer höheren sozialen Sicherheit einherging. Er verhinderte dann zwar keineswegs sozialen Abstieg, aber (beispielsweise über Kredit- und Stiftungswürdigkeit) ein Abrutschen in materielle Bedürftigkeit.
Eine zu geringe Distanz gegenüber der ökonomischen Perspektive statistischer Quellen zeigt sich auch in der Deutung des Kleiderbesitzes und des Wohnortwechsels. Obwohl die Nachlässe belegen, daß Kleider Pflegekosten und Begräbniskosten begleichen können und häufig in Umgehung der Erbschaftsteuern vor dem Tod an Nahestehende verschenkt wurden, fällt kein Wort über die symbolische Dimension dieses Festhaltens an ihnen und des Sterbens in Kleidern auf dem Leib (S. 224). Es mit völliger Mittellosigkeit gleichzusetzen, blendet zudem das Schicksal derjenigen aus, die anonym und in Lumpen auf der Straße sterben. Ähnlich läßt der aus einem aufklärerisch geprägten Selbstzeugnis abgeleitete Pragmatismus beim häufigen Wohnungswechsel die Funktion der sozialen Selbstverortung völlig außer Acht (S. 331). Solche und andere materialistische Verkürzungen (wie der Versuch, die Aufklärung von der Gewohnheit zweckrationalen wirtschaftlichen Handelns abzuleiten, S. 19f.) hätten bei einer fundierteren Quellenkritik vermieden werden können.
Im Kreuzfeld des Blickes eines Historikers, der der materialistisch-pragmatisch orientierten Kultur vom Ende des 20. Jahrhunderts entstammt, und einer vornehmlich an der ökonomischen Dimension des Zusammenlebens interessiert scheinenden obrigkeitlichen Statistik entstehen trotz allen Problembewußtseins und aller Relativierungen Burkhardts blinde Flecke, die nach einer tiefergehenden Quellenkritik und einer selbstkritischereren Definition des eigenen Erkenntnisinteresses verlangen. Trotz vielversprechender Ansätze (z. B. S. 29) fehlt eine Auseinandersetzung mit den Interessen und Wahrnehmungshorizonten der Verwaltung, der der Autor seine Daten verdankt. Das in der Darstellung immer wieder deutlich werdende, nachdrückliche Insistieren auf einer genauen bürokratischer Erfassung aller Stadtbewohner legt nahe, daß das Handeln der österreichischen Oberbehörden nicht mehr allein mit dem Interesse an höherer Steuerzahlung und höheren Rekrutenzahlen erklärt werden kann. Geht es hier nicht auch um die Vermittlung eines Idealbildes von einem einheitlichen Untertanenverband? Und werden die Untertanen durch die Zählungen nicht auch an das Offenlegen ihrer Lebensverhältnisse gewöhnt? Für eine Dissertation ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der spätabsolutistischen Statistik freilich viel verlangt.
Allerdings zeigen sich auch an anderen Stellen des Buches Tendenzen zu einer Verabsolutierung des modernen Tatsachenverständnisses. Zeitgenössische Perspektiven, wie der „Mythos“ vom Konstanzer Wohlfahrtsstaat (S. 275) oder die Vorstellung von der Provinzialisierung der Stadt (S. 34) als unrealistische Verzerrungen der Tatsachen abzutun, blockiert jede Verständnismöglichkeit. Dies ist um so bedauerlicher, als Burkhardts Untersuchung den wahren Kern dieser Wahrnehmungen offenlegt. Aus der freien Reichsstadt Konstanz, die im Zentrum eines bis nach Italien reichenden Fernhandelsnetzes gestanden hatte, war ein regionales Wirtschaftszentrum und eine von der Wiener Bürokratie gegängelte Landstadt geworden. Da zudem der Vergleich mit den Städten der Umgebung die relative Großzügigkeit der Konstanzer Armenunterstützung belegt, erübrigt es sich, auf die von der Forschung längst überholte Etikette der „protestantischen Wirtschaftsethik“ zurückzugreifen. Weit störender als diese im Hinblick auf den Gesamtertrag der Arbeit letztlich unerheblichen Parteinahmen erscheint die Entscheidung, die Zusammenfassung der Ergebnisse vor den Beginn der Untersuchung zu stellen. Nicht nur, daß so der Eindruck vermittelt wird, die Tatsachen seien von der Fragestellung unabhängig und sprächen für sich; ohne die Arbeit gelesen zu haben, ist die gebotene Verkürzung der vielfältigen Untersuchung nur schwer verständlich.
Insofern erscheint der numerisch-statistische Ansatz des Autors fruchtbar und problematisch zugleich. Furchtbar, da er neue Befunde hervorbringt und bereits bekannte am Einzelfall konkretisiert und differenziert; und problematisch, da die Tragweite der gewonnenen, im Hinblick auf festgefahrene Vorstellungen von der vorindustriellen Gesellschaft durchaus erfrischenden Perspektive einer genaueren Bestimmung bedarf. Allerdings erweisen sich die Einzelanalysen als wesentlich problembewußter und differenzierter, als dies die mißglückte einleitende Zusammenfassung befürchten läßt. Beispielsweise sind die Quellencharakteristiken, die auf einer bis ins Schriftbild reichenden Vertrautheit mit den Konstanzer Verwaltungsbeamten beruhen, so ausführlich, daß sie als Bausteine für eine Geschichte des Vordringen des Staates und des Widerstandes dagegen verwendbar werden. Diese in Burkhardts Darstellung eingeflochtene Geschichte bleibt leider (trotz umfassender Quellenkenntnis des Autors) fragmentarisch. Nichtsdestotrotz macht diese Dimension das Buch nicht nur für historische Demographen und Sozialhistoriker zu einer lohnenswerten Lektüre.
Basel Beate Schuster