SchildtSchmidt20000908
Nr. 682 ZRG 118 (2001)
Schmidt,
Heinrich Richard, Dorf
und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der frühen
Neuzeit (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 41). Fischer, Stuttgart
– Jena – New York, 1995. XV, 425 S., 87 Abb., 25 Tab., 1 Datendisk.
Schmidt
untersucht in seiner Berner Habilitationsschrift von 1993/94 die Tätigkeit der
Chorgerichte für die Kirchspiele Vechigen und Stettlen. Mit dem durch die
Einführung der Reformation bedingten Ende der bischöflichen Sitten- und Ehegerichtsbarkeit
wurden in Bern Chorgerichte – zunächst für die Stadt selbst (1528) und dann
auch für die Landschaft (1529) – geschaffen. Als Appellationsinstanz stand über
den lokalen Chorgerichten das städtische Oberchorgericht. Vorrangiges Erkenntnisinteresse
Schmidts ist die Beantwortung
der Frage, wie das Chorgericht als Sittengericht im Dorf wirksam gewesen ist.
Ausgehend von der Prämisse, daß sich geschichtliche Kategorien weniger aus
normativen (staatlichen – B. S.) Ansprüchen, sondern eher aus der
gesellschaftlichen Wirklichkeit ableiten lassen, wird anhand der einzelnen
Tätigkeitsbereiche der Sittengerichte und nach einem einheitlichen Schema das
Verhältnis normativer Ansprüche und deren Reflexion in eben dieser
gesellschaftlichen Wirklichkeit hinterfragt. Ins Juristische übersetzt
untersucht der Verfasser die Rechtsprechungspraxis der Chorgerichte als
Prüfstein für die Wirksamkeit der Berner Policeygesetzgebung für diesen
Bereich.
Nach
einem eher einleitenden Charakter tragenden Kapitel – A. Sittenzucht zwischen
Norm und Sozialstruktur (S. 1-67) – , in dem die weltanschaulichen
Voraussetzungen der Berner Sittenzucht sowie der Gegenstand der Untersuchung in
räumlicher und sachlicher Hinsicht und schließlich die methodische Vorgehensweise
umrissen werden, behandelt Schmidt
in vier fallstudienartig gearbeiteten Hauptkapiteln spezifische Bereiche der
Sittenzucht. Ausgehend von der durch die mosaischen Gesetzestafeln religiös
begründeten und in den normativen Quellen formulierten Berner Rechtsordnung
werden in den vier Hauptkapiteln behandelt: B. Religion und Kirche (S. 69-171);
C. Sexualität (S. 173-240); D. Ehe (S. 241-289); E. Nachbarschaft (S. 291-349).
Einem für alle Kapitel einheitlichem Schema folgend bietet der Autor in diesen
Hauptkapiteln zunächst einen jeweils wohlfundierten Überblick über den Stand
der Forschung und der für Berner Verhältnisse maßgebenden normativen Grundlage
der Sittenzucht. Das sich jeweils anschließende Teilkapitel „Szenarien“
beschreibt paradigmatisch und sehr quellennah, über welche Problemlagen das
Chorgericht in dem jeweils behandelten Tätigkeitsfeld zu befinden hatte. Auf
diesen eher narrativen Teil folgt eine quantifizierende Analyse, die aufgrund
der großen Zeitspanne der Untersuchung einen sehr viel dynamischeren Zugriff
auf die Einzelprobleme ermöglicht, als dies im Teilkapitel „Szenarien“ möglich
gewesen wäre und insoweit die Realität sittengerichtlicher Praxis eindrucksvoll
reflektiert. In einem sechsten Teilkapitel ordnet der Verfasser seine aus der
„mikrohistorischen“ Perspektive ermittelten Ergebnisse in den
„makrohistorischen“ Kontext der Forschung ein.[1]
Die dem
Buch beigegebene Diskette ermöglicht dem Leser den Zugriff auf die quantitativen
Erhebungen des Autors. Zur Verfügung gestellt werden drei unterschiedliche
Datensammlungen, von denen nur die Works-Datei mit den bescheidenen
computertechnischen Voraussetzungen des Rezensenten geöffnet werden konnte.
Nicht nachvollziehbar erfolgte die Anordnung der einzelnen Delikte in der
Works-Tabelle; hier hätte eine alphabetische Reihung viel zur Übersichtlichkeit
beitragen können. Anzumerken ist ferner, daß der Verfasser grundlegende
rechtshistorische Forschungsergebnisse – von wenigen Ausnahmen abgesehen –
praktisch kaum zur Kenntnis nimmt. Ferner hätten Handbücher, wie beispielsweise
das Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, aber auch so fundamentale
Quelleneditionen wie Sehlings evangelische Kirchenordnungen, ebenso für
das Thema fruchtbar gemacht werden können, wie so manche spezielle Arbeit
rechtshistorischer Provenienz. Die Schwierigkeiten Schmidts mit der Rechtsgeschichte werden auch im terminologischen
Bereich deutlich; so bezieht er sich, wenngleich aus einer sekundären
literarischen Quelle schöpfend, auf eine „Reichsordnung gegen die
Gotteslästerer vom 6. 8. 1495“ (S. 72). Gemeint ist damit offenbar der Reichsabschied
vom 7. 8. 1495, der sich unter anderem in § 36 auch mit dem Problem der
Gotteslästerung befaßt oder aber ein Mandat vom gleichen Tag – „Königliche
Satzung von den Gotteslästerern, zu Worms Anno 1495 aufgericht“.
Im ersten Hauptkapitel – B. Religion und Kirche – thematisiert der Verfasser das Verhältnis des Landvolkes zu Religion und Kirche, wobei in einem ersten Schritt das Delikt Fluchen als Gotteslästerung in seiner religiösen Fundierung behandelt und in einem zweiten Schritt unter dem Stichwort Verchristlichung nach dem Verhältnis des Volkes zur Kirche gefragt wird. Dabei geht es sowohl um aktives Handeln (z. B. Feiertagsheiligung, Akzeptanz der Sittenzucht) oder um unbotmäßiges, also unchristliches Verhalten (z. B. Kirchweihfeiern, Fastnachtsveranstaltungen, Gesundzaubern u. ä.).
Das
zweite Sachkapitel ist dem Thema Sexualität gewidmet. Hier geht es um Probleme
wie Eheanbahnung und Verlobung, Armenehen, Brautschwangerschaften und das
Schicksal illegitimer Kinder. Resümierend kann der Verfasser feststellen, daß
es der Berner Sittenzucht nicht gelungen ist, voreheliche Sexualität wirksam zu
unterbinden – im Gegenteil, die Verstöße gegen die christlich begründeten
Normen im Bereich der Sexualität nahmen tendenziell sogar zu.
Dem
Problem der Sexualität nahestehend wendet der Autor sich in Kapitel D. der Ehe
zu. Die Chorgerichte der beiden untersuchten Kirchgemeinden waren im Kontext
von Ehe und Ehezucht vornehmlich mit Ehestreitigkeiten bis hin zu Scheidungsbegehren
befaßt. Als typische Ursachen von Ehestreitigkeiten erscheinen übermäßiges
Trinken, schlechte Haushaltsführung und Ehebruch sowie Gewalt in der Ehe. Schmidt kommt zu dem immerhin
erstaunlichen Schluß, daß der Bereich der Ehezucht dadurch gekennzeichnet ist,
daß in ca. 80% der Ehekonflikte, die auf Anzeigen der Betroffenen
zurückzuführen waren, die Frauen klagend vor dem Chorgericht auftraten und
durch die ausschließlich männlich besetzten Chorgerichte die Hauptschuld am
Ehezerwürfnis überwiegend den Männern angelastet wurde (S. 284).
Das die
Nachbarschaftskonflikte behandelnde Kapitel E. Nachbarschaft analysiert geschlechtsspezifische
und soziale Hintergründe sowie Formen und Ursachen von Konflikten, die sich
regelmäßig als solche zwischen den jeweiligen Hausvätern und in nicht
unbeträchtlichem Umfang auch Hausmüttern darstellen. Als Hauptquelle derartiger
Auseinandersetzungen macht Schmidt
den ökonomischen Konkurrenzkampf aus, was insbesondere den Umstand erklärt, daß
ganz überwiegend Hausväter und Hausmütter beklagt werden. Derartige
Streitigkeiten traten regelmäßig im Verein mit sogenannten Begleitdelikten, wie
Trinken, Spielen, Dieberei, Fluchen, Injurien, Drohungen und Gotteslästerung
auf. Dabei scheinen Ehrverletzungen jeder Art von zentraler Bedeutung gewesen
zu sein.
Für alle
vier Hauptkapitel gilt, daß es dem Verfasser eindrucksvoll gelingt, die
„Szenarien“ der vor den Chorgerichten geführten Prozesse anhand beispielhafter
Schilderungen deutlich werden zu lassen. Ergänzt wird dieser notwendigerweise
nur paradigmatische Aspekt durch die sich jeweils anschließenden quantitativen
Analysen, die insbesondere durch die zahlreichen Abbildungen und Tabellen sehr
instruktiv sind.
Im
Schlußkapitel – F. Ergebnisse und Interpretationen – zieht der Autor die Summe
seiner Ergebnisse und kommt zu dem Schluß, daß die Tätigkeit der Chorgerichte
als Sittengerichte nicht im Sinne einer staatlichen Umerziehung, wohl aber
unter dem Gesichtspunkt horizontaler Sozialdisziplinierung mindestens partiell
erfolgreich gewesen ist. Obrigkeitlich gesetzte Normen werden nur selektiv
akzeptiert und zwar insoweit, als die mit ihnen verknüpften Disziplinierungsabsichten
in ihrer Intention letztlich aus der Gesellschaft selbst kommen. Danach stellt
sich Sittenzucht in Bern nicht als Sozialdisziplinierung durch den Staat,
sondern als christlich inspirierte Selbstregulierung der dörflichen Gemeinden
dar (S. 376).
Mit den
von Schmidt vorgelegten
Fallstudien zu den Berner Dörfern Vechingen und Stettlen wird das Dorf stärker
in den Blickpunkt der Disziplinierungsforschung gerückt als das bisher der Fall
gewesen ist. Allerdings ist die Untersuchung einer einseitigen Sicht aus der
Perspektive des Dorfes verpflichtet; die Perspektive von oben – also vom Staat
her gesehen – bleibt nahezu vollständig ausgeblendet. Dieser einseitig
mikrohistorische Forschungsansatz mag methodisch legitim sein. Er führt indes
bei isolierter Betrachtung ebenso zu begrenzten, weil einseitig gefärbten
Ergebnissen wie die häufig als etatistisch diffamierten makrohistorischen
Ansätze.
Bochum Bernd Schildt
[1]
Auf die seit einigen Jahren in der
Geschichtswissenschaft virulente Methoden- und Theoriedebatte um das für und
wider makro- und mikrohistorischer Forschungsansätze kann an dieser Stelle
nicht weiter eingegangen werden. Es bleibt indes darauf hinzuweisen, daß Schmidt
mit seiner Habilitationsschrift eine Kontroverse mit Heinz Schilling ausgelöst und auch sogleich geführt hat. Vgl.
Heinz Schilling,
Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die
Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen
Kirchenzucht, in: HZ Bd. 264, Heft 2, S. 675ff. und Heinrich Richard Schmidt,
Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der
Konfessionalisierungsforschung, in: HZ Bd. 265, Heft 3, S. 639ff.