SchildtLandgemeinden20000908 Nr. 10092
ZRG 118 (2001)
Landgemeinden im Übergang zum modernen
Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum, hg. v. Franz, Norbert/Grewe,
Bernd-Stefan/Knauff, Michael (= Trierer historische Forschungen 36). Zabern,
Mainz 1999. 310 S.
Der vorliegende
Sammelband dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung in Trier vom November 1998,
die im Rahmen eines Forschungsprojekts „Staat im Dorf: Der Wandel lokaler
Herrschaftsstrukturen im Rhein–Maas–Raum während des Aufstiegs des modernen bürokratischen
Staates (französische, luxemburgische und deutsche Erfahrungen im Vergleich)“
stattgefunden hat. In neun Einzelbeiträgen, denen sich jeweils ein kritischer
Kommentar anschließt, werden erste Erträge dieses Projekts im Verbund mit
thematisch ähnlich gelagerten Forschungsergebnissen anderer Provenienz
veröffentlicht. Vorangestellt wurde ein auf der Tagung nicht gehaltener,
einführender Beitrag von Lutz Raphael
(S. 9-20); abgerundet wird der instruktive Sammelband schließlich mit einer
Zusammenfassung der Diskussion von Norbert Franz (S. 287-299).
In seinem einleitenden Beitrag, Das
Projekt „Staat im Dorf“: vergleichende Mikrostudien zwischen Maas und Rhein im
19. Jahrhundert – eine Einführung, umreißt Lutz
Raphael zunächst in groben Zügen das Gesamtprojekt, um anschließend
Forschungsstand und Forschungsziele vorzustellen sowie das methodische Vorgehen
zu verdeutlichen. Im Rahmen des Projektes „Staat im Dorf“ wird am Beispiel von
acht ausgewählten Landgemeinden – je zwei aus dem französischen Departement
Meuse, der preußischen Rheinprovinz, der bayerischen Rheinpfalz und dem Großherzogtum
Luxemburg – der Wandel lokaler Herrschaft in der Zeit von 1815 bis 1880
untersucht. Gemeinsam ist allen vier Untersuchungsgebieten, daß in ihnen nach
dem Ende der napoleonischen Ära die alten Herrschaftsstrukturen
auseinanderbrachen. Die Auswahl der untersuchten Gemeinden erfolgte, ausgehend
von den Forschungszielen, maßgeblich nach dem Kriterium der
Quellenüberlieferung – unter Einbeziehung aller einschlägigen Archivalien,
seien es die relevanten Gemeindearchive, Kirchenarchive oder auch Staatsarchive
– und dem Vorliegen ergänzenden lokalhistorischen Schrifttums. Weitere
Kriterien für die Auswahl der zu untersuchenden Gemeinden waren deren Bevölkerungszahl,
der Grad ihrer Marktorientierung, ihre konfessionelle Struktur und wie bereits
erwähnt die politische Zugehörigkeit zu bestimmten Herrschaftsräumen.
Hinsichtlich der Forschungsziele standen im Mittelpunkt die Fragen nach der
lokalen Repräsentation von Staatlichkeit in den Gemeinden, deren Integration in
das politische Leben des Gesamtstaates, die Auswirkungen moderner
Verwaltungspraktiken auf die innere Struktur der Gemeinden, die Landgemeinde
als Kirchengemeinde und schließlich das Problem, inwieweit bäuerliche
Selbstverwaltungstraditionen lebendig geblieben waren.
Der folgende Beitrag von Norbert Franz und Michael Knauff,
Gemeindeverfassungen und gesellschaftliche Verhältnisse ausgewählter
Landgemeinden zwischen Maas und Rhein im 19. Jahrhundert – eine Skizze (S.
21-42), geht anhand des Gesamtprojektes – also unter Einbeziehung der
Forschungsergebnisse für alle acht untersuchten Dörfer – zunächst aus
nationalstaatlicher Sicht den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für das
gemeindliche Verfassungsleben unter den unterschiedlichen neuen
Herrschaftsverhältnissen nach. Im Ergebnis wird festgestellt, daß die stark
zentralistisch bürokratisch geprägte Gemeindeverfassung in allen vier
Nachfolgestaaten (Frankreich, Preußen, Bayern und Luxemburg) dahingehend
modifiziert worden ist, daß den Gemeinden aufs Ganze gesehen stärkere
Beteiligungsrechte gewährt worden sind. Insoweit wurden in allen vier Regionen
die Einflußmöglichkeiten der Bürger auf das gemeindliche Verfassungsleben
gestärkt, allerdings ergaben sich hier hinsichtlich der Tragweite dieser
„Demokratisierung“ der gemeindlichen Verfassungsverhältnisse zum Teil
erhebliche Unterschiede (S. 31). Im folgenden gehen die Verfasser den
gesellschaftlichen Verhältnissen unter besonderer Berücksichtigung konfessioneller,
bevölkerungsstatistischer und wirtschaftspolitischer Gesichtspunkte nach.
Dem eigentlichen Thema der Tagung – „Der
Staat im Dorf im 19. Jahrhundert“ – zeitlich vorgelagert ist der Beitrag von Sigrid Schmitt, Territorialstaat und Gemeinde
an Mittelrhein und Mosel im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (S.
47-61). Der Aufsatz behandelt die Vorgeschichte von Territorialstaat und Gemeinde
im wesentlichen für das kurpfälzische Oberamt Alzheim und geht dabei neben
Fragen der Abgrenzung und des Zusammenspiels von Herrschaft und Gemeinde auf
Grundfragen dörflichen Verfassungslebens ebenso ein, wie auf den Zusammenhang
von Herrschaft und wirtschaftlicher Abhängigkeit in Gestalt von Dienstverpflichtungen
und Abgaben.
Der Beitrag von Klaus Freckmann, Lieser an der Mosel.
Der Wandel vom kurtrierischen Dorf zur rheinpreußischen Bürgermeisterei (S.
69-87), entstammt nicht dem Trierer Forschungsprojekt „Staat im Dorf“. Er
befaßt sich im Schwerpunkt mit baugeschichtlichen Fragen und weist weithin
beschreibende Züge auf. Der Bezug zum Thema der Tagung erwächst aus der Frage
nach den Umständen des Erwerbs von Liegenschaften. Leider bleiben in diesem
Zusammenhang die für das Thema mindestens ebenso relevanten Probleme der Privatisierung
gemeindeeigener Liegenschaften (Allmende) unberücksichtigt.
Bernd-Stefan Grewe, Lokale Eliten im Vergleich. Auf der
Suche nach einem tragfähigen Konzept zur Analyse dörflicher
Herrschaftsstrukturen (S. 93-119), zeigt die Möglichkeiten auf, die Eliten- und
Notablenforschung für die Analyse dörflicher Herrschaftsstrukturen fruchtbar zu
machen. Dabei wendet er sich zunächst dem für historische Forschungen zentralen
Problem der Identifizierung von Eliten zu und zeigt anhand der acht zu untersuchenden
Dörfer Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Erhebungstechniken zur
Feststellung der Zugehörigkeit zur Elite innerhalb der sozialen Gruppierung
Landgemeinde auf. Insgesamt ist der Beitrag Grewes sehr stark methodischen Fragen der Eliten- und
Notablenforschung und deren Tauglichkeit für historische, zumal lokal geprägte
Forschungen verpflichtet. Im Ergebnis gesteht Grewe der Eliten- und
Notablenforschung nur in Kombination mit der Untersuchung von Streitfragen
konzeptionelle Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach Umfang und Art und
Weise des Eindringens des Staats in das Dorf (S. 117) zu.
Mit Recht weist Andreas Gestrich in seinem Kommentar
(S. 121-125) zum Beitrag Grewes
daraufhin, daß dessen – Grewes – Überlegungen den Prozeß der Elitebildung einseitig
als einen dorfinternen, von unten gesteuerten Vorgang beleuchtet und damit
Elemente einer lokalen Elitenbildung aufgrund herrschaftlicher
(obrigkeitlicher) Einflüsse de facto ausgeblendet bleiben. Wichtig scheint mir
auch der Hinweis Gestrichs,
daß die tradierte Gemeindeverfassung allenthalben fast ausschließlich auf den
Liegenschaftsbesitz abstellte und insoweit vermögende Gewerbetreibende schon
aus strukturellen Gründen kaum Zugang zu Gemeindeämtern hatten. Wichtig ist
ferner der Hinweis, daß Verwandtschaftsbeziehungen und insbesondere
Heiratsstrategien für die Frage nach der Elitenbildung im Dorf von entscheidender
Bedeutung gewesen sind.
Den alltäglichen Beziehungen zwischen
Kirche und Staat auf lokaler Ebene im Dorf untersucht Tobias Dietrich in seinem Beitrag:
Regierte Religion? Zur Landgemeinde als Kirchengemeinde im 19. Jahrhundert (S.
128-146). Der Verfasser macht deutlich, daß für die Alltagsbeziehungen zwischen
Kirche und Staat auf lokaler Ebene das Verhältnis von Pfarrer und Bürgermeister
von überragender Bedeutung gewesen ist. Es waren insbesondere soziale Fragen
und Statusfragen, die den Pfarrer als Vertreter der Kirchengemeinde von der
politischen Landgemeinde weitgehend isoliert haben. Dietrich kommt zu
dem Schluß, daß das Verhältnis von Kirche und Staat im Dorf aus vier
verschiedenen Blickwinkeln gesehen werden kann: erstens aus der Sicht der
Verwaltungsebene, zweitens aus der personalen Perspektive von Pfarrer und
Bürgermeister, drittens im Kontext bzw. der Reflexion des Kulturkampfes im Dorf
und viertens schließlich unter dem Aspekt konfessioneller Auseinandersetzungen.
Alle vier Betrachtungsebenen werden abschließend in auf die acht untersuchten
Dörfer bezogenen, anschaulichen Anhängen paradigmatisch dokumentiert. Aufs Ganze gesehen vermitteln die Überlegungen Dietrichs – trotz aller Auseinandersetzungen
und Gegensätze zwischen politisch-ziviler und kirchlicher Gemeinde – ein eher harmonisches Gesamtbild, das so gar
nicht zu den scharfen und zum Teil fundamentalen Auseinandersetzungen zwischen
Staat und Kirche in der Kulturkampfzeit passen mag. Lesenswert auch der
Kommentar zum Beitrag Dietrichs von Olaf Blaschke (S.
147-154).
Auch der Beitrag von Gunter Mahlerwein, Handlungsspielräume
dörflicher Amtsträger unter Kurfürst, Napoleon und Großherzog: Rheinhessen 1700-1850
(S. 155-170), ist nicht in das eingangs skizzierte Trierer Forschungsprojekt
eingebunden. Der Verfasser geht anhand von Fallbeispielen aus rheinhessischen
Dörfern der Frage nach, welche Handlungsspielräume dörflichen Amtsträgern zur
Verfügung standen um einerseits staatlichen Ansprüchen und andererseits
gemeindlichen und damit dorfgesellschaftlichen Interessen gerecht zu werden.
Letztere konnten innerhalb der Einwohnerschaft eines Dorfes durchaus
unterschiedlicher Natur sein, ein Umstand der seinen signifikanten Ausdruck
insbesondere in den offenbar recht häufigen Auseinandersetzungen um die
kollektive oder individuelle Nutzung von gemeindeeigenen Gütern gefunden hat.
In diesen Interessengegensätzen innerhalb der Dorfgemeinde sieht Mahlerwein
zu Recht die Einbruchstellen staatlichen Einflusses in Gestalt der Verwirklichung
staatlicher Regulierungsangebote.
In seinem Kommentar zum Beitrag Mahlerweins geht Werner Troßbach, „Ortsvorsteher“ als Nahtstelle zwischen
Staat und Dorf im 18. Jahrhundert (S. 171-181), dem Problem möglicher
Handlungsspielräume dörflicher Amtsträger anhand der Grebenordnung der
Landgrafschaft Hessen-Kassel von 1739 nach. Ausgehend von dem Befund, daß
besagte Ordnung den Handlungsrahmen der von der Herrschaft eingesetzten Greben
exakt absteckte, vermag Troßbach
dennoch unterhalb dieser, wenn man so will, normativen Ebene, Spielräume für
die in der Regel im Dorf sozialisierten Greben beispielhaft aufzuzeigen.
Lutz Raphael, „Die Sprache der Verwaltung“ Politische
Kommunikation zwischen Verwaltern und
Landgemeinden zwischen Maas und Rhein (1814-1880) (S. 183-205), fragt nach den
Verbindungslinien (Brücken) zwischen den lokalen Interessen ländlicher
Gemeinden und zentralstaatlich intendiertem Verwaltungshandeln. Der Verfasser
hat dazu die archivalische Überlieferung staatlicher Verwaltungstätigkeit mit
Blick auf die acht untersuchten Dörfer auf lokale Ebenen ausgewertet; er ist
sich der Begrenztheit seiner Sichtweise bei dieser quellenmäßigen Fundierung
von unten durchaus bewußt. Ausgehend von der Prämisse, daß sich Verwalten auf
der lokalen, also gemeindlichen Ebene regelmäßig als ein Prozeß des Aushandelns
von Lösungen darstellt, fragt Raphael nach den strukturellen und personellen
Rahmenbedingungen sowie nach den charakteristischen Merkmalen und der Genesis
unterschiedlicher Traditionen bei der politischen Kommunikation zwischen
zentralstaatlich bestimmten Verwaltern und Gemeinden. Raphael findet die
Arbeitshypothese vom „Aushandlungsmodell“ durch die beigezogenen Quellen
bestätigt, macht aber durchaus auch noch Präzisierungsbedarf auf breiterer
Quellengrundlage aus.
Ines Zissel behandelt in ihrem
Beitrag „... daß der Begriff der Armuth in jeder Gemeinde ein anderer ist“.
Dörfliche Armenversorgung im 19. Jahrhundert (S. 217-247), schwerpunktmäßig
zwei Fragestellungen: zum einen zeichnet sie die Einrichtung staatlicher
Institutionen zur Armenversorgung vor Ort als Schnittstellen zwischen
staatlicher und kommunaler Versorgung nach und zum anderen präsentiert sie
anhand zahlreicher Einzelbeispiele Breite und Umfang staatlicher und kommunaler
Versorgungsnetze. Im Ergebnis erweist sich die dörfliche Armenversorgung in
allen vier Regionen als sehr ähnlich. Institutionell basierte sie ein halbes
Jahrhundert lang auf dem in napoleonischer Zeit eingeführtem Recht des
Unterstützungswohnsitzes und war in ihrer praktischen Wirksamkeit in hohem Maße
von den finanziellen Möglichkeiten der Gemeinden abhängig. Da die
institutionellen Voraussetzungen staatlicher Armenfürsorge zwar gesetzlich
vorgesehen, aber bei weitem nicht flächendeckend umgesetzt wurden, verblieb es
in beträchtlichem Umfang bei privater und kirchlicher Fürsorge.
Einen eher
mittelbaren Bezug zum Tagungsthema hat der abschließende Beitrag von Ulrike Laufer, Bäuerliche
Bildungs- und Innovationsbereitschaft im Urteil von Beamten und Notablen am
Beispiel der bayerischen Pfalz (S. 255-277). Die Verfasserin schildert die von
geradezu missionarischem Eifer getriebenen Bemühungen dienstbeflissener
Reformer, mittels Erziehung, im Sinne von Anpassung, die dörfliche Bevölkerung
in die bürgerlich-gewerbliche Arbeitswelt der Städte zu integrieren. Das
Problem staatlicher Einflußnahme in gemeindliche Angelegenheiten wird insoweit
nur am Rande und vermittelt reflektiert.
Die abschließend
abgedruckte Zusammenfassung der Diskussionen zu den einzelnen Referaten wie die
Schlußdiskussion, die hier im einzelnen nicht besprochen werden kann,
vermittelt den Eindruck einer erfrischend kritischen Atmosphäre der Tagung, die
bezogen auf zahlreiche Einzelthesen offenbar überaus kontrovers verlaufen ist,
was aufgrund der gegebenen Forschungslage auch nicht verwunderlich ist. Sehr zu
begrüßen ist die für die Zukunft ins Auge gefaßte Verlängerung der historischen
Perspektive ins 18. Jahrhundert. Dies hätte den unschätzbaren Vorteil das
Problem „Staat im Dorf“ in seiner Genese besser erfassen zu können.
Bochum Bernd Schildt