SailerOer20000914
Nr. 1015 ZRG 118 (2001)
Oer,
Rudolfine Freiin von, Der münsterische „Erbmännerstreit”. Zur Problematik
von Revisionen reichskammergerichtlicher Urteile (= Quellen und Forschungen zur
Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 32). Böhlau, Köln – Weimar – Wien 1998.
X, 163 S.
Die
Monographie beschäftigt sich mit einem Rechtsstreit, dessen rechtshistorische
Bedeutung allein schon in dem Umstand begründet liegt, daß er eines von nur
acht tatsächlich durchgeführten Revisionsverfahren in der dreihundertjährigen
Geschichte des Reichskammergerichts auslöste. Die normativen Regelungen über
das Revisionsverfahren gingen von Voraussetzungen aus, die nicht umgesetzt
worden waren: Nach der Reichskammergerichtsordnung von 1555 sollten Revisionen
im Rahmen der jährlichen Visitationen des Gerichts erledigt werden. Die
Visitationen kamen jedoch nur selten und meist aufgrund besonderer Umstände
zustande und hatten dringlichere Aufgaben zu erledigen. Durch den Jüngsten
Reichsabschied von 1654 wurde geregelt, daß die Revision keinen Suspensiveffekt
auslösen sollte. Zudem sollte noch im gleichen Jahr eine außerordentliche
Deputation eingesetzt werden, die die zahlreichen unerledigten
Revisionsverfahren abschließen sollte. Auch diese Kommission kam jedoch nie zustande;
erst durch den münsterischen Erbmännerstreit ließ sich der Reichstag 1706 dazu
bewegen, eigens für diesen Fall eine Kommission zu bestellen, die das letzte
Revisionsverfahren in der Geschichte des Reichskammergerichts durchführte.
Daher verspricht die Untersuchung dieses Verfahrens nicht nur Erkenntnisse zur
Geschichte der Rechtsmittel, sondern auch Aufschlüsse über das Verhältnis
zwischen Recht und Politik im Alten Reich.
Hinter der
Bezeichnung „münsterische Erbmänner“ verbirgt sich eine soziale Gruppierung,
die ursprünglich die städtische Führungsschicht, das Patriziat der Stadt
Münster gebildet hatte. Nach dem Aufstieg der Gilden seit der Mitte des 15.
Jahrhunderts übten sie nur noch selten städtische Ämter aus. Die
Erbmännerfamilen zogen sich auf ihre stattlichen Landgüter zurück und pflegten
einen adeligen Lebensstil. In der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigte sich
jedoch, daß insbesondere das Domkapitel des Hochstifts Münster nicht bereit
war, die Erbmänner als sozial ebenbürtig anzuerkennen: Als der Erbmann Johannes
Schenking 1557 vom Papst eine Provision auf eine Dompräbende erhielt,
verweigerte ihm das Domkapitel die Aufnahme mit der Begründung, er erfülle das
im Kapitelstatut von 1392 geforderte Kriterium der ritterbürtigen Abkunft
nicht. Daraufhin klagte der Erbmann vor der römischen Rota und gewann, doch das
Domkapitel verweigerte ihm auch weiterhin die Aufnahme und ging zum
Gegenangriff über: 1597 erhoben Statthalter und Räte des Stifts Münster eine
Diffamationsklage vor dem Reichskammergericht gegen die erbmännischen Familien.
Der Prozeß wurde erst 88 Jahre später zugunsten der Erbmänner entschieden,
wobei sich auch in diesem Verfahren zeigt, daß die lange Prozeßdauer nicht auf
Versäumnissen des Gerichts beruhte, sondern auf der fehlenden Prozeßaktivität
der Parteien.
Leider wird
der Prozeß vor dem Reichskammergericht nur in Grundzügen dargestellt, die
prozeßrechtlichen Hintergründe werden so gut wie gar nicht erörtert. Dabei wird
es nicht für jeden Leser ohne weiteres verständlich sein, weshalb die Kläger
dieses Verfahrens und nicht die beklagten Erbmänner vom Reichskammergericht
verurteilt wurden. Des Rätsels Lösung liegt in der Besonderheit der
eingeschlagenen Verfahrensart: Bei der Klage ex lege diffamari handelt es um einen Provokationsprozeß. Die Klage
hatte das Ziel, den Beklagten zu einer Klage aufzufordern, durch die er den
Anspruch, dessen er sich berühmte, zu beweisen hatte. Aus dem ursprünglichen
Beklagten wurde der Kläger und diese Umkehrung der Parteirollen hatte Folgen
für die Frage der Beweislast.[1] Es ist hier
nicht der Ort, um die prozessualen Fragen zu klären, die der münsterische
Erbmännerstreit aufwirft. Festzuhalten ist jedoch, daß die Darstellung keinen
Rückschluß auf die Entscheidungsmotive erlaubt: Die innerhalb der
Revisionskommission umstrittene Frage, ob das Reichskammergericht in puncto petitorio zugunsten der Erbmänner
entscheiden durfte, ist ohne Kenntnis der Prozeßanträge rechtlich überhaupt
nicht einzuordnen, so daß sich auch nicht erkennen läßt, ob für die Entscheidung
ein fester rechtlicher Rahmen vorgegeben war oder ein Entscheidungsspielraum
bestand. Die Klärung dieser Frage wäre jedoch notwendig, um einschätzen zu
können, wie sich juristischer Begründungszwang, politische Interessen der
Reichsstände oder persönliche Beziehungen der Revisoren zu den Prozeßparteien
auf die Entscheidung auswirkten. Offen bleibt damit auch, welche Maßstäbe die
Subdelegierten, die in der Mehrzahl selbst richterliche Funktionen ausübten,
für die Überprüfung des Reichskammergerichtsurteils anlegten und welche
Rechtsverstöße sie für gravierend genug hielten, um das Urteil aufzuheben und
damit auch die Autorität des Reichskammergerichts in Frage zu stellen.
Wertvoll
und anregend für weitere Forschungen sind allerdings die Erkenntnisse über den
Einfluß von Kaiserhof und Reichstag auf die Reichsjustiz und die Wahrnehmung
und Nutzung der Justiz durch die Parteien, die sich der vorliegenden
Monographie entnehmen lassen.
Auf der
Grundlage der ungewöhnlich reichen archivalischen Überlieferung gelingt es der
Autorin die Aktivitäten zu rekonstruieren, die die Parteien entfalteten, um
Beziehungsnetze zu nutzen und neu zu knüpfen. Schon die Einsetzung einer
außerordentlichen Revisionskommission setzte aufgrund der unzureichenden
normativen Regelung des Revisionsverfahrens politischen Gestaltungswillen
voraus; dasselbe gilt für den kaiserlichen Befehl, mit der Urteilsvollstreckung
bis zum Abschluß des Revisionsverfahrens einzuhalten, der den Vorschriften des
Jüngsten Reichsabschiedes zuwiderlief. Das Domkapitel konnte die Durchsetzung
des Kameralurteils nur deshalb verhindern, weil es ihm gelang, am Kaiserhof und
unter den Reichsständen Verbündete für sich zu gewinnen. Auch für die
erbmännische Seite war der Weg zum Reichskammergericht nur eine von mehreren
Handlungsmöglichkeiten, um ein konkretes Ziel zu erreichen: Der Umstand, daß
der Prozeß nach langem Stillstand wieder aktiviert wurde, ist wohl nicht
zuletzt darauf zurückzuführen, daß ein Erbmann sich Hoffnungen machte, vom
Papst eine Provision für eine Dompräbende zu erhalten. Kurze Zeit nach dem
Urteil des Reichskammergerichts erhielt Johann Jakob von der Tinnen, der über
gute Beziehung nach Rom verfügte, tatsächlich die ersehnte Provision. Gerade er
hatte die aktivste Rolle bei der Prozeßführung auf Seiten der Erbmänner
gespielt. Auch die Prozesse, die die Erbmänner parallel zum reichsgerichtlichen
Verfahren an der römischen Rota führten, zeigen, daß der Weg zu den Gerichten
Teil einer politischen Strategie war, um den ersehnten Sitz im Domkapitel zu erringen.
Ebenso wie die unzureichenden normativen Regelungen über das Revisionsverfahren
bot auch die unklare Kompetenzabgrenzung zwischen geistlicher und weltlicher
Gerichtsbarkeit den Parteien verschiedene Handlungsalternativen in die Hand und
sie wählten jeweils das Forum, bei dem sie sich aufgrund der politischen
Kräfteverhältnisse oder persönlicher Beziehungen die größten Erfolgschancen für
die Durchsetzung ihrer Ziele ausrechneten.
Das weitere
Schicksal des münsterischen Erbmännerstreits zeigt jedoch, daß die Strategie
der Parteien nicht immer aufging: Das Ergebnis der Kommission war ein Patt.
Kurmainz, Kursachsen und Hessen‑Kassel hatten für eine Abänderung des
Urteils gestimmt, Speyer und die beiden Reichsstädte für seine Bestätigung. Da
weder eine normative Regelung für diesen Fall existierte noch ein
vergleichbarer Fall ersichtlich war, dem sich entnehmen ließ, wie nun zu
verfahren war, gab die Revisionskommission ihren Auftrag an Kaiser und Reich
zurück. Auch der Reichstag konnte sich nicht zu einem einheitlichen Votum
durchringen. Im Mittelpunkt stand nun jedoch die reichspolitisch bedeutsame
Frage, welche Rolle dem Kaiser im weiteren Verfahren zugebilligt werden sollte,
wobei sich die Beteiligten darüber im Klaren waren, daß die Entscheidung einen
Präzedenzfall für künftige Revisionsverfahren bilden würde. Während die
Kurfürsten dafür votierten, die Revisionskommission wieder nach Wetzlar zu
schicken und für den Fall, daß sich diese wieder nicht zu einer Mehrheit finden
konnte, einen siebten, kaiserlichen Kommissar zu entsenden, votierten die
Fürstenbank und die Städtebank für die Vollstreckung des Urteils, das nun in
Kraft sei, da die Revisionskommission es nicht innerhalb der vorgesehenen Frist
abgeändert habe.
Da sich
auch der Reichstag nicht einigen konnte, wurde der Streit schließlich durch ein
„Machtwort“ des Kaisers beendet: Er bestätigte das Reichskammergerichtsurteil
von 1685 und sorgte durch ein weiteres Mandat an das Domkapitel endlich dafür,
daß das Urteil durchgesetzt wurde.
Der Fall
ist auch in der zeitgenössischen juristischen Literatur häufig behandelt
worden, er wurde jedoch meist im Zusammenhang mit dem Rekurs an den Reichstag
erörtert, worauf die Autorin allerdings nicht eingeht. Der Rekurs spielte als
Rechtsmittel gegen reichsgerichtliche Urteile in der Rechtspraxis eine weitaus
größere Rolle als das Revisionsverfahren.[2] Die
Zulässigkeit dieses Rechtsmittels war in der Reichspublizistik ebenso
umstritten wie die Frage, ob dadurch der Suspensiveffekt ausgelöst wird.
Insoweit bietet die Zusammenstellung der juristischen Literatur zum
Erbmännerstreit eine Einstiegshilfe für rechtshistorische Untersuchungen zur
Geschichte der Rechtsmittel und zur Frage nach der Anerkennung von Präjudizien
als Rechtsquelle in der Rechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts.
Freiburg Rita
Sailer
[1] RKGO von 1555, II, 25 vgl. Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich Band 3). Köln, Wien 1973, S. 202; siehe auch das Stichwort „Diffamation“ im Sachregister ebd. S. 221. Die Provokationen sind dargestellt bei Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses. 3. Aufl., Leipzig 1878, S. 103‑114.
[2] Vgl. Häberlin, Handbuch des teutschen Staatsrechts. Erster Band, Berlin 1794, S. 524.