RösenerEhrhardt20000914 Nr. 10096 ZRG 118 (2001)
Ehrhardt, Michael, Die
Börde Selsingen. Herrschaft und Leben in einem Landbezirk auf der Stader Geest
im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (= Schriftenreihe des
Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 11).
Landschaftsverband der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden e. V., Stade
1999. 562 S.
Das Gebiet der Börde Selsingen befindet sich in der Stader
Geest im Zentrum des früheren Erzstifts Bremen. Der Elbe‑Weser‑Raum
wurde von der bisherigen Forschung stark vernachlässigt, so daß vorliegende
Dissertation, die 1998 vom Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg
angenommen und von Rainer Postel betreut wurde, eine Lücke füllt. Was
ist in diesem Zusammenhang eine „Börde“? Das Erzstift Bremen und das 1648
daraus hervorgegangene Herzogtum Bremen war wie viele Territorien im Alten
Reich in kleinere Einheiten untergliedert. Solche lokal begrenzten Bezirke
führten oft Bezeichnungen wie Amt, Vogtei oder Kirchspiel. Im Erzstift Bremen
gab es für derartige Distrikte den Terminus „Börde“. Eine Börde war im
ursprünglichen Sinn ein Bezirk, in dem Steuern erhoben wurden; solche Bezirke
tauchen im Erzstift Bremen seit dem 14. Jahrhundert auf. Die Bewohner einer
bremischen Börde bildeten in bestimmten Bereichen eine abgeschlossene
Kulturgemeinschaft mit besonderen Merkmalen. Untersuchungsgegenstand der
Dissertation ist also eine der 18 Börden auf der bremischen Geest. Die Börde
Selsingen im heutigen Landkreis Rotenburg (Wümme) umfaste nach einer 1815
durchgeführten Volkszählung 38 Dörfer und Wohnplätze mit 460 Feuerstellen, in
denen 2483 Menschen lebten.
Das umfangreiche Quellenmaterial der Börde Selsingen wird
unter den Leitbegriffen Herrschaft und Leben untersucht. Unter Herrschaft wird
im Sinne Otto Brunners ein „Komplex der in der Hand eines Herrn
vereinigten Rechte“ verstanden. Herrschaft umfaßte dabei verschiedene
Komponenten wie Macht und Gewalt sowie Schutz und Schirm über diejenigen, über
die diese Rechte ausgeübt wurden. Der Begriff Herrschaft ist eng verbunden mit
dem der Genossenschaft und dem Phänomen das Widerstandes als Reaktion der
Beherrschten. Aus dem komplexen System verschiedener sozialer Beziehungen in
der Börde Selsingen sollen die bestehenden Formen von Herrschaft und Genossenschaft
möglichst umfassend vermittelt und beschrieben werden. Was ist aber mit der
zweiten Leitkategorie, mit dem Begriff „Leben“, gemeint? Es soll dabei
untersucht werden, in welchem Grad die verschiedenen Formen von Herrschaft und
Genossenschaft auf das Leben der Landbevölkerung in der Börde Selsingen
einwirkten. Trotz dieser Erklärung bleibt der Begriff „Leben“ reichlich diffus,
und es fragt sich, ob er als Leitbegriff für eine fundierte Analyse tauglich
ist. Die Dissertation verfolgt also das Ziel, die verschiedenen Formen von
Herrschaft und Genossenschaft in der Börde Selsingen zu beschreiben und die
Lebensverhältnisse der ländlichen Gesellschaft unter den sich wandelnden
Herrschaftsbedingungen zu ermitteln. Der zeitliche Rahmen reicht vom Mittelalter
bis zur Zeit um 1800, wobei der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Epoche der
Frühen Neuzeit liegt. Die Börde Selsingen dient dabei als Exempel für die
allgemeine Geschichte im ländlichen Raum Norddeutschlands.
In den Hauptkapiteln werden Herrschaft und Genossenschaft in
der Börde Selsingen zuerst während des Mittelalters, dann besonders ausführlich
in der frühneuzeitlichen Epoche behandelt (Landesherrschaft, Grundherrschaft,
Leibherrschaft, Gemeinde). Es folgt ein Abschnitt über die sozialen Beziehungen
in der Börde Selsingen während der Frühen Neuzeit im Bereich der
obrigkeitlichen Herrschaft und der kommunalen Strukturen, dann ein Hauptkapitel
über die Lebenswelt der Bördebewohner im Kontext von Herrschaft und
Genossenschaft: die wirtschaftliche Lage der verschiedenen Bevölkerungsgruppen,
sozialer Status und Mentalitäten sowie die Intensität des herrschaftlichen
Drucks. Im Schlußteil der Arbeit werden dann die Ergebnisse unter dem Aspekt
von Kontinuität und Wandel dargestellt und Vergleiche zu anderen
Herrschaftsgebieten gezogen. Hinsichtlich der Agrarverfassung resümiert der
Verfasser, daß die Grundherrschaft in der Börde Selsingen nur im Mittelalter
einschneidende Veränderungen erfuhr. Zu Beginn der Frühen Neuzeit hatte sich
die Meierverfassung als maßgebliche Form des Rechts an Grund und Boden
durchgesetzt und blieb lange Zeit erhalten. Der Bauer besaß eine weitgehende
wirtschaftliche Autonomie und war faktisch auch bei schlechter
Wirtschaftsführung nicht von der Abmeierung bedroht. Der nominelle Wert des
Meierzinses blieb über Jahrhunderte auf gleichem Niveau. Das Meierwesen
unterschied zwischen Vollhöfnern und Halbhöfnern einerseits sowie zwischen
Pflugkötnern und Brinkkötnern andererseits. Grundstücksrechtslose Angehörige
unterbäuerlicher Schichten wurden vermehrt erst seit dem 18. Jahrhundert als
Anbauer angesetzt.
In der Zusammenfassung wird zu Recht darauf hingewiesen, daß
sich hinter der scheinbaren Natürlichkeit und Einfachheit der bäuerlichen
Lebenswelt in der Börde Selsingen ein komplexes wirtschaftliches und
rechtliches Herrschaftssystem verbarg; Herrschaft war fester Bestandteil der
bäuerlichen und unterbäuerlichen Lebenswelt.
Ein durchgreifender Wandel der gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen vollzog sich dabei nur langfristig; der
Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit stellte keine einschneidende
Zäsur dar. Das Herrschaftsgefüge in der Börde Selsingen war ein System von
Leistung und Gegenleistung mit deutlichem Schwerpunkt auf der Seite der
Herrschaftsträger. Der Wert dieser Dissertation liegt vor allem in der
gründlichen Analyse der historischen Entwicklung in einer kleinräumigen Region,
die in herrschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht beleuchtet und
durch umfangreiche Tabellen, Diagramme und Karten erläutert wird. Inwieweit die
Börde Selsingen hinsichtlich ihrer Herrschafts- und Sozialstrukturen als
repräsentativ gelten kann, müssen ähnliche Untersuchungen in anderen Räumen
ergeben. Die Herrschaftsverhältnisse in der Börde Selsingen hatten offenbar
keinen exzeptionellen Charakter, wie Vergleiche mit Forschungsergebnissen aus
anderen Gebieten zeigen. Ein Desiderat bleibt die Untersuchung der Haushalts‑
und Familienstrukturen in der Börde Selsingen, die der Verfasser nur kurz
anschneiden konnte. Insgesamt ist die Dissertation, die an einigen Stellen
dicht mit Faktenmaterial angefüllt ist, überzeugend gelungen und sollte die
Forschung zu weiteren Untersuchungen anregen.
Gießen Werner
Rösener