RanieriNorm20000419
Nr. 1111 ZRG 118 (2001)
Norm und
Tradition. Welche Geschichtlichkeit für die Rechtsgeschichte? / Fra norma e
tradizione. Quale storicità per la storia
giuridica?, hg. v. Caroni, Pio/Dilcher, Gerhard. Böhlau,
Köln – Weimar – Wien 1998. 324 S.
Ende April
1996 fand in der Tagungsstätte des Kantons Tessin auf dem Monte Verità bei
Ascona eine deutsch-italienische Tagung statt, bei welcher Rechtshistoriker aus
der Schweiz, aus Italien und aus Deutschland zusammenkamen. Thema der Tagung
war damals die gegenwärtige Aufgabenbeschreibung der Rechtsgeschichte. So
betrafen die dortigen Referate Aufgaben und Grundlagen dieses Faches, vor allem
angesichts des Zusammenwachsens nationaler Rechtsordnungen im heutigen Europa.
Absicht der Tagung war jedoch darüber hinaus, auch das Problem aufzugreifen,
inwieweit ein Gegensatz zwischen normativer Orientierung der modernen
Privatrechtswissenschaft einerseits und dem geschichtlichen Erkenntnisinteresse
eines Rechtshistorikers andererseits besteht. Die damaligen Referate werden
nunmehr im vorliegenden Band publiziert. Manche Beiträge sind in der jetzt
vorliegenden Aufsatzform erheblich erweitert worden. Andere haben die damalige
Vortragsweise beibehalten. Bei der Veröffentlichung sind allen Beiträgen
jeweils eine deutsche und eine italienische Zusammenfassung beigefügt worden.
Das Grundsatzpapier der beiden Herausgeber „Norm und Tradition. Zur Situation
und Aufgabe der Rechtsgeschichte als Teil einer europäischen
Rechtswissenschaft“ (S. 9-14) wird auch in einer von Aldo Mazzacane
besorgten italienischen Übersetzung publiziert. Die Zweisprachigkeit des Bandes
soll die Ursprünglichkeit der jeweiligen Ansichten in ihrer originären Fassung
beizubehalten helfen und zugleich den vielsprachigen Dialog zwischen deutsch- und
italienischsprachigen Rechtshistorikern fördern. Manche Beiträge sind
inzwischen auch an anderer Stelle erschienen, etwa die italienische Fassung des
Grundsatzpapiers der beiden Herausgeber, welche von Aldo Mazzacane in
der romanistischen Zeitschrift „Labeo“, Bd. 43 (1997), S. 312-315,
veröffentlicht wurde. Ebendort auf S. 187-201 ist auch der Beitrag des
italienischen Romanisten Mario Bretone „La ‚coscienza ironica‘ della
romanistica“ publiziert worden. Über die Tagung berichtete bereits in der
„Zeitschrift für Europäisches Privatrecht“ 1997, S. 185-190, Joachim Rückert.
Dieser Bericht wird auch, allerdings in einer völlig veränderten Fassung, im
vorliegenden Band publiziert (S. 21-33). Es sei schließlich noch darauf
hingewiesen, daß zum vorliegenden Band bereits Rainer Maria Kiesow im
„Rechtshistorischen Journal“ 1999, S. 303-307, insgesamt recht kritisch
Stellung genommen hat.
Stellung
und Aufgabe der Rechtsgeschichte im gegenwärtigen Forschungs- und Lehrbetrieb
stehen im Vordergrund des Interesses und auch der Sorge beider Herausgeber. Das
wird bereits in der Einleitung deutlich, wo als unmittelbarer Anlaß und Motiv
der Tagung der Umstand genannt wird (S. 3), daß „die europäische Einigung und
die damit einhergehende Vorausschau auf ein zu erarbeitendes künftiges
gemeinsames Privatrecht von einer Reihe von Rechtshistorikern als
hochwillkommener, wenn auch unerwarteter, Umstand aufgenommen worden [ist], der
die Aussicht auf eine erhebliche Aufwertung der Rechtsgeschichte in der
akademischen Lehre eröffnet“. Damit spielen die Herausgeber auf die Bezugnahme
auf die übernationale und im wesentlichen einheitliche Tradition des
europäischen Ius Commune an. Gegen eine solche rechtspolitische Inanspruchnahme
der europäischen Rechtsgeschichte melden die Herausgeber erhebliche Bedenken
an. Die Rechtseinheit vor dem Kodifikationszeitalter, „die sich so deutlich aus
der europäischen Verbreitung des wissenschaftlichen Modells des Ius Commune zu
ergeben scheint“ (S.3), sei kritisch in einer den historisch Abstand wahrenden
Perspektive zu hinterfragen. „Wenn es eine Wirklichkeit bedeutet hat“ - wird
gefragt - (ebda.), - „und nicht nur Vision oder Traumbild -, auf welcher
Ebene?“ Eine intensive Erforschung des wirklich praktizierten Rechts in
spezifischen geographischen Landschaften würde das Bild möglicherweise
erheblich verändern. Die Sympathie der Herausgeber gilt deutlich denjenigen
Rechtshistorikern, die sich gegen alle vermeintliche instrumentelle Verwendung
von Rechtshistorie wenden und sich für die Beanspruchung einer Autonomie der
Geschichte gegenüber der Gegenwart, auch der juristischen Gegenwart,
entscheiden. Der Mißbrauch der Geschichte in der jüngsten deutschen
Vergangenheit dieses Jahrhunderts wird dabei beschworen. Vielleicht wird hier
die Diskussionslage allerdings etwas verzeichnet: Die Berufung auf die
europäische Tradition des Ius Commune für die Aufgabenbeschreibung der
gegenwärtigen Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung hat - wenigstens in den
Augen des Rezensenten - gar nichts mit der politischen Manipulation von
Geschichte, welche die deutsche Germanistik der 30er Jahre charakterisierte, zu
tun. Hier von einem „überheblichen Gebrauch der Geschichte“ zu sprechen,
welcher „jene menschlichen Katastrophen legitimieren (und damit auch
ermöglichen) könnte, die auf diesem Jahrhundert lasten und für deren
Beschreibung uns immer noch die Worte fehlen“ (so S.5), scheint in diesem
Zusammenhang ganz unangemessen, wenn nicht gar unangebracht zu sein. Die
Grundthesen der Herausgeber werden ausführlicher formuliert und präzisiert im
Grundsatzpapier, welches der Tagung zugrunde lag und als „Norm und Tradition.
Zur Situation und Aufgabe der Rechtsgeschichte als Teil einer europäischen
Rechtswissenschaft“ in deutscher und italienischer Sprache an den Anfang des
Sammelbandes gesetzt ist (S. 9-19). Mit den Kodifikationen, spätestens am Ende
des 19. Jahrhunderts, habe sich die Funktion von Rechtsgeschichte grundlegend
verändert. Die rechtsgeschichtliche Wissenschaft sei zwar noch als
selbstverständlicher Teil der juristischen Fakultäten und der Rechtslehre in
ganz Europa angesehen, „ohne daß genau reflektiert wurde, ob es sich mehr um
einen ‚Bildungsornat‘ der Juristen, um einen von Juristen gepflegten Teil der
Geschichtswissenschaft oder einen notwendigen, integrierenden Teil einer
modernen Rechtswissenschaft handelt“ (S.10). Die Kodifikationen haben den
Abstand zur historischen Tradition der vorkodifikatorischen Zeit geschaffen.
Damit sei zugleich die Beziehung der rechtshistorischen Forschung und des
rechtshistorischen Unterrichts zu dogmatischen Problemen, vor allem des
Privatrechts fraglich geworden. Die pandektistische Tradition habe noch „auf
eine immanente Richtigkeit, entweder des Normenmaterials oder der
Geschichtlichkeit des Normenmaterials“ (S. 12) vertraut. Ein solches Vertrauen
sei heute aber abhanden gekommen. Das gelte auch, wenn man „die alte Frage nach
dem Verhältnis der ‚dogmatischen‘ Rechtswissenschaft zur Rechtsgeschichte durch
die in den letzten Jahren ‚entdeckte‘ Beziehung zur anstehenden Europäisierung
der nationalen Rechtsordnungen“ (S. 13) in einen neuen Rahmen zu rücken
versuche. Um die hier kurz geschilderte Diskussionslage gruppieren sich aus
unterschiedlichen, z. T. völlig gegensätzlichen Standpunkten die einzelnen
Beiträge.
Ganz
entschieden für eine Einordnung der Rechtsgeschichte, vor allem der Romanistik,
als historische Wissenschaft ist Mario Bretone in seinem Beitrag „La
coscienza ironica della romanistica“ (S. 35-57). Er wirft die Frage auf, welche
Bedeutung heute das antike römische Recht und dessen Studium für uns haben.
Sein Ausgangspunkt wird von einer Stelle von Donellus in dessen „Commentarii de
iuri civili“ gewonnen. Donellus nimmt sich dort vor, mit den alten Materialien
ein neues System aufzubauen. Damit verläßt man aber gleichzeitig die historische
Einmaligkeit der antiken Rechtstradition. Für Bretone ist das Studium
des römischen Rechts „una disciplina storico-antichistica“ (S. 48). Die
Wiederbelebungsversuche der gemeinrechtlichen und pandektistischen
Lehrtradition haben mit dem römischen Recht, historisch verstanden, nichts zu
tun. „Il fine che il neopandettismo persegue
non è, se si guarda bene, la comprensione storica, ma la custodia o la ripresa
di una tradizione, il riconoscimento della sua continuità millenaria, reale o
fittizia che sia. Quel che conta è il ‚nucleo dogmatico-scolastico‘ della
romanistica“ (S. 49). „C’è un’illusione ottica o uditiva“ - schreibt Bretone
weiter - „anche alla base del neopandettismo. Si può coltivarla, ma non si può
pretendere di fare storia coltivandola“ (so ebda.). Ähnlich, aus einer eher
germanistischen Richtung, äußert sich Caroni „Quale storia per il
diritto ingabbiato dal codice?“ (S. 77-108, publiziert übrigens inzwischen auch
in Caroni, Pio, Saggi sulla storia della codificazione, in: Per la storia
del pensiero giuridico moderno, Bd. 51, Mailand 1998, S. 265-199). Caronis
Beitrag befaßt sich mit zwei Hauptfragen: mit dem Schicksal des
rechtshistorischen Unterrichts, vor allem des romanistischen Unterrichts,
bei der Einführung der modernen Zivilrechtskodifikationen sowie mit der heute
wünschenswerten Gestaltung des rechtshistorischen Unterrichts. Die Einführung
der modernen Zivilgesetzbücher habe nicht nur die Rechtsquellenlehre völlig
umgestellt, sondern auch in technischer und methodischer Hinsicht einen Bruch
mit der gemeinrechtlichen Tradition herbeigeführt. Mit den Kodifikationen sei
unsere juristische Verbindung zur historischen Vergangenheit abgebrochen.
Gerade die Kodifikationen hätten auch Rolle und Funktion des Juristenstandes
tiefgreifend verändert und neu definiert, z. T. zurückgedrängt. Gerade darin
liege auch der Grund für die Versuchung vieler Romanisten, in den
Kodifikationen noch ein Moment der Kontinuität zum Römischen Gemeinen Recht zu
sehen. Eine solche Perspektive sei allerdings unhistorisch und verfälsche den
revolutionären Charakter der Gesetzbücher. Nur eine Historisierung dieses
Problems schaffe den notwendigen Abstand zum gegenwärtigen Recht und zur
gegenwärtigen Dogmatik. Erst in diesem Sinne und in dieser Perspektive, als Geschichte
dieses historischen Bruchs, würde der rechtshistorische Unterricht eine
aufklärerische Funktion in der gegenwärtigen Juristenausbildung gewinnen und
behalten. Ebenso deutlich für die Einordnung der Rechtsgeschichte als Kultur-
und Sozialgeschichte sprechen sich die Beiträge von Gerhard Dilcher „Von
der geschichtlichen Rechtswissenschaft zur Geschichte des Rechts. Leitende
Fragestellungen und Paradigmenwechsel zwischen 19. und 20. Jahrhundert“ (S. 109-143) sowie von Paolo Grossi
„Modelli storici e progetti attuali nella formazione di un futuro diritto
europeo“ (S. 145-151) aus. Dilcher rekonstruiert zunächst die
Lehrbuch- und Unterrichtstradition der Germanisten und der Romanisten aus der
Konzeption der deutschen historischen Rechtsschule heraus. Er zeigt sodann, wie
aus dem Werk Max Webers neue leitende Fragestellungen für große
rechtshistorische Darstellungen ausgegangen sind. Webers Rechtssoziologie, auch
seine Rationalisierungstheorie, habe grundlegende rechtshistorische
Darstellungen dieses Jahrhunderts stärker geprägt als bisher angenommen. Durch
eine Veränderung des Standorts der rechtshistorischen Fragestellungen vom
Normativrechtlichen ins Rechtssoziologische würde sich auch eine neue
Einordnung und ein neues Selbstverständnis für den rechtshistorischen
Unterricht und die rechtshistorische Forschung ergeben. Auch Grossi
sieht mit Skepsis die Versuche, eine einheitliche Kontinuität zwischen der
gemeinrechtlichen Tradition und den heutigen Rechtsproblemen anzunehmen. Das
mittelalterliche Recht sei in seiner Einmaligkeit, auch in seinen
Diskontinuitäten zur antiken Tradition zu sehen. Nur eine historisierende,
kulturwissenschaftliche Sicht der Probleme werde diesen gerecht. Marcel Senn
„Rechtsgeschichte als historische Normentheorie“ (S. 269-279), setzt sich
kritisch mit dem Text Caronis und Dilchers auseinander. Er nimmt
aber auch kritisch Stellung zu manchen „neopandektistischen“
Einordnungsversuchen der Rechtsgeschichte. Die Rechtsgeschichte sei zwar eine
Geschichtswissenschaft, sie nehme jedoch auch eine Ausbildungsfunktion im
juristischen Studium wahr. Ihre Funktion in der akademischen Ausbildung
verlange deshalb eine neue Positionsbestimmung. Senn formuliert im
Anschluß an
Ganz
kritisch, geradezu polemisch, nimmt Regina Ogorek „Die Erbschaft
ausschlagen?“ (S. 183-191) Stellung zu den Versuchen, an die gemeinrechtliche
Tradition des europäischen Ius Commune anzuknüpfen, um eine künftige moderne
europäische Zivilrechtswissenschaft zu entwickeln. Hauptgegner von Frau Ogorek
ist hier offenkundig Reinhard Zimmermann. Solche Anknüpfungspunkte seien
völlig unhistorisch. Das Römische Recht sei kein autonomes und kohärentes
System ableitbarer Regeln, welche die Jahrhunderte überlebt hätten. Anders als Zimmermann
vertritt deshalb Frau Ogorek die Ansicht, das der Prozeß der
Historisierung der Rechtsgeschichte ohne wesentliche Verluste im
wissenschaftlichen Standard nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Differenzierter zum selben Problem äußert sich Klaus Luig „Geschichte
und Dogmatik bei Knütel, Kötz und Zimmermann“ (S. 169-182). In einer präzisen
Inhaltsanalyse mancher Stellungnahmen der drei genannten Autoren zeigt Luig,
daß eine solche propagierte Anknüpfung an das Römische Gemeinrecht
offensichtlich jeweils ganz unterschiedlich verstanden wird. Kötz setze
in seiner Darstellung historische Informationen zwar ein; diese hätten jedoch
nur dekorative Funktion. Sie seien jedoch zugleich für das Verständnis der
Probleme außerordentlich nützlich. Darin zeige sich die große Nähe zum
Standpunkt Reinhard Zimmermanns. Zugleich wird darin auch der Abstand zu
den Thesen Rolf Knütels sichtbar, der offenbar noch von einer besonderen
Würde und einem besonderen Geltungsgrund der römischen Rechtsregeln ausgehe.
Differenzierter, aus der Sicht des englischen Rechts und der englischen
Rechtsgeschichte, ist auch der Beitrag Mathias Reimanns
„Rechtsgeschichte und geschichtliches Recht im Common Law“ (S. 209-229). Die
englische Rechtswelt kenne beide Formen der rechtshistorischen Forschung,
nämlich die Heranziehung der Rechtsgeschichte im Sinne einer Heranziehung des
geschichtlichen Stoffes des Common Law, und zugleich die Pflege der
Rechtsgeschichte im Sinne einer rein historischen Disziplin. Beide Richtungen
würden im anglo-amerikanischen Bereich vertreten. Die gegenwärtige Diskussion
bei den kontinentalen, vor allem deutschen, Rechtshistorikern trage nach
Ansicht Reimanns vielleicht den Charakter eines „fragwürdigen
Ideologiestreits“. Sinnvoll sei es eher, darüber zu sprechen, welchen Beitrag
die jeweiligen Richtungen im einzelnen für ihre fachspezifischen Interessen
leisten können. Nicht eindeutig in diesen Richtungsstreit einzuordnen bleiben
die Beiträge Antonio Padoa-Schioppas „Il diritto comune in Europa.
Riflessioni sul declino e sulla rinascita di un modello“ (S. 193-207) sowie Gunter
Scholtzs „Legitimation und Kritik durch Geschichte mit Blick auf
Philosophie- und Rechtshistorie“ (S. 231-255). Padoa-Schioppa, dessen
Beitrag bereits in der „Zeitschrift für Europäisches Privatrecht“ 1997, S.
706-717, publiziert worden war, verweist auf die Notwendigkeit, die Geschichte
des Gegensatzes zwischen zentralem und lokalem Recht in der europäischen
Rechtsgeschichte ins Auge zu fassen, um die gegenwärtigen Probleme der
europäischen Rechtsvereinheitlichung zu verstehen. Für Scholtz bewahren
und verwalten Rechts- und Philosophiehistoriker „Traditionsbestände, auf die
sich in Europa sehr verschiedene Kulturen als ihr gemeinsames Erbe
zurückbeziehen können“. „Solche Gemeinsamkeit historisch in Erinnerung zu
behalten“, habe deshalb „unabhängig von allen Geltungsfragen Bedeutung“ (S.
251).
Im
deutlichen Gegensatz zu den bisher zitierten Beiträgen stehen diejenigen
Teilnehmer der Tagung, welche der Überzeugung sind, daß für die gegenwärtigen
Probleme des Zivilrechts und der Rechtsvergleichung eine Rückbesinnung auf die
gemeinsame europäische Tradition des Ius Commune von zentraler Bedeutung ist.
An erster Stelle ist hier verständlicherweise der Beitrag Reinhard
Zimmermanns zu nennen („Savignys Vermächtnis. Rechtsgeschichte,
Rechtsvergleichung und die Begründung einer europäischen Rechtswissenschaft“,
S. 281-321). Ausgehend von den programmatischen Schriften Friedrich Carl von
Savignys skizziert hier Zimmermann das Programm einer erneuerten
„historischen Rechtsschule“. Hier obliege die Aufgabe einer Europäisierung der
Zivilrechtswissenschaft. Nur durch die historische Rückbesinnung auf die
gemeinsame europäische Rechtskultur sei ein angemessenes Verständnis für das
geltende Recht erreichbar. Die Rechtsgeschichte führe damit im Rahmen einer
europäischen Perspektive nahtlos in die Rechtsvergleichung. Ähnlich klingen aus
zwar unterschiedlichen Standpunkten die Stellungnahmen Gerardo Brogginis
(„Significato della conoscenza storica del diritto per il giurista vivente“, S.
59-75) sowie Reiner Schulzes („Strukturwandel des Privatrechts und
Rechtsgeschichte“, S. 257-268). In eine ganz ähnliche Richtung äußert sich auch
ein Vertreter der Rechtsvergleichung: Hein Kötz („Vom Beitrag der
Rechtsgeschichte zu den modernen Aufgaben der Rechtsvergleichung“, S. 153-168).
Kötz möchte sich nicht auf die unterschiedlichen, z.T. kritischen
Äußerungen der Rechtshistoriker zur historischen Realität des europäischen Ius
Commune einlassen. Es sei insoweit nicht entscheidend, ob das Römische Gemeine
Recht Wirklichkeit oder nur Fiktion gewesen sei. Auch nicht entscheidend sei
die Frage, ob das Gemeine Recht in der juristischen Praxis überall in Europa
gleichförmig angewandt worden sei oder ob seine Grundsätze nur eine subsidiäre
Geltung gehabt hätten. Entscheidend sei vor allem „daß man zur Zeit des Ius
Commune von einer europäischen Rechtsliteratur habe sprechen können, daß die
europäischen Juristen sich der gleichen juristischen „lingua franca“, der
gleichen juristischen Grammatik bedient hätten, und daß ein juristisches
Argument oder ein Rechtsgutachten den gleichen stilistischen und methodischen
Konventionen habe genügen müssen, ganz gleich, ob es in Pisa oder in Heidelberg
überzeugend habe wirken sollen“ (S.159).
Eine
Stellungnahme zum Sammelband insgesamt fällt dem Rezensenten schwer. Man
gewinnt gelegentlich den Eindruck, daß manche Beiträge in einer vielleicht
übersteigerten Polemik aneinander vorbeireden. Manchmal scheint es, daß eine
differenziertere Sicht der aufgeworfenen Fragen manche Frontstellungen
bereinigen und manche aufgeworfenen Fragen eher klären würde. Das Verhältnis
zwischen Rechtsgeschichte und geltendem Recht im Rechtsunterricht und im
Forschungsbetrieb läßt sich nicht allgemein und abstrakt erörtern, ohne auch
die national verschiedenen, jeweils historisch bedingten Bedingungen in Hochschulunterricht
und Hochschulwissenschaft zu berücksichtigen. Die traditionell historisch
gewachsene Verbindung zwischen Unterricht im geltenden Recht und in den
rechtshistorischen Fächern, seit jeher typisch für die deutsche Universität,
hat das Problem für die deutschen Rechtshistoriker besonders verschärft. Es ist
kein Zufall, daß ein Großteil der Diskussion gerade zu der vermeintlich
„applikativen“ Funktion der Rechtsgeschichte für die heutige Rechtsdogmatik,
vor allem eine deutsche Diskussion war und bis heute geblieben ist. In der
italienischen Universität, aber nicht nur hier, sondern etwa in nahezu
sämtlichen romanischen Ländern, bleiben die Aufgaben und der Zuschnitt der
einzelnen Hochschullehrer enger begrenzt. Eine Verbindung zwischen
rechtshistorischen Fächern und Fächern des geltenden Rechts ist nahezu
unbekannt, war vielleicht nur bei einigen italienischen Romanisten in den 20er
oder 30er Jahren noch z.T. vorhanden. Dies prägt den Stand der Diskussion bei
den italienischen Rechtshistorikern, bedingt zudem wesentliche Konsequenzen für
die Realität des rechtshistorischen Unterrichts und vor allem für den
rechtshistorischen Forschungsbetrieb in Italien. Die Historisierung der
italienischen Rechtsgeschichte und vor allem der italienischen Romanistik ist inzwischen
so weit fortgeschritten, daß eine realistische Durchsicht von Themen in
Unterricht und Forschung gelegentlich den Eindruck erweckt, daß die
italienischen Rechtshistoriker und Romanisten inzwischen, wenigstens ideell,
von den juristischen Fakultäten in die historischen umgesiedelt sind. Mario
Bretone ist hierfür exemplarisch. Eine solche uneingeschränkte Orientierung
und Einordnung der Rechtsgeschichte in die allgemeine Geschichte, legitim zwar
aus der Perspektive der Forschung, bleibt jedenfalls fraglich, solange
Rechtshistoriker Unterricht in einer juristischen Fakultät anbieten. Ohne
Studenten und Kollegen Funktion und Bedeutung von rechtshistorischer Reflexion
für das Rechtssystem angemessen zu verdeutlichen und glaubhaft zu machen, ist
die weitere Existenz eines rechtshistorischen Unterrichts im Rahmen der
Juristenausbildung mehr als fraglich. Eine noch weitere Technokratisierung der
Juristenausbildung, ein verhängnisvoller Verlust von historischer
Reflexionsbereitschaft beim juristischen Nachwuchs und nicht zuletzt die
endgültige Verlagerung der rechtshistorischen Disziplinen in die
Philosophischen Fakultäten, wäre die Folge. Eine Folge übrigens, die manche
radikalen Befürworter der Historisierung der Rechtsgeschichte ausdrücklich
erwarten und wünschen.
Auch die
Formulierung des Problems als Frage des Verhältnisses zwischen Rechtsgeschichte
und modernem Recht bzw. als Frage der applikativen oder historisierenden,
kontemplativen Funktion der Rechtsgeschichte trägt wahrscheinlich in dieser
Allgemeinheit nicht zu einer angemessenen Differenzierung bei. Das Problem
stellt sich nämlich je nach Rechtsgebiet und Thema unter völlig verschiedenen
Voraussetzungen. Ob für den heutigen Strafrechtsdogmatiker oder
Verfassungsrechtler das historische Argument ein besonders Erkenntnisinteresse
im Rahmen der Rechtsgewinnung haben kann, ist nämlich mehr als fraglich. Das
gilt wahrscheinlich auch für große Teile des heutigen modernen
Wirtschaftsprivatrechts, welche aus einem anderen historischen Zusammenhang
erwachsen sind. Die Frage reduziert sich also auf bestimmte klassische
Provinzen des Privatrechts, hier insbesondere auf das Obligationenrecht und auf
das Allgemeine Vertragsrecht. Betroffen ist auch nicht die rechtshistorische
Forschung insgesamt, sondern hauptsächlich nur die Romanistik und hier vor
allem die Beschäftigung mit der Geschichte des europäischen Ius Commune. Zu
diskutieren wäre auch, ob es sinnvoll ist, ohne Differenzierungen von einem
Einheitsproblem „Privatrecht“ zu sprechen. Wenn die Frage so präzisiert wird,
läßt sich allerdings nicht leugnen, daß die kontinentale Privatrechtskultur
noch in einem historischen Gesamtzusammenhang gesehen und verstanden werden
kann und muß. Die naturrechtlichen Zivilrechtsgesetzbücher am Ende des 18.
Jahrhunderts brechen zwar mit der gemeinrechtlichen Rechtsquellenlehre ab. Sie
bedeuten jedoch nicht zugleich eine radikale Trennung in der kontinentalen
Rechts- und Argumentationskultur. Gerade dies wird nach Ansicht des Rezensenten
etwa von Pio Caroni übersehen. Es sei hier daran erinnert, daß die
gemeinsame Geschichte des kontinentalen Ius Commune primär nicht in der
Anwendung identischer Rechtsregeln bestand; mit andern Worten, das europäische
Ius Commune stellte keine uniforme Rechtspraxis dar, sondern bestand vor allem
in einer gemeinsamen wissenschaftlichen, besonders universitären Tradition. Die
Einmaligkeit der europäischen gemeinrechtlichen Tradition lag gerade darin, daß
es der universitäre wissenschaftliche Zugang zum Recht war, der einen
Traditionszusammenhang schuf, worauf die lokale Vielfalt von Rechtspraxis und
Rechtsprofession sich entwickeln und stützen konnte. Mißverständlich ist bei
manchen Romanisten, aber nicht zuletzt auch bei vielen Kritikern derselben,
daran zu glauben, daß der historische Zusammenhang mit der kontinentalen
Tradition des Römischen Gemeinen Rechts in der Ermittlung und dem Aufspüren
identischer oder ähnlicher Lösungen oder Rechtsfiguren besteht. Im Vordergrund
steht hier vielmehr die Denkweise, die unbewußten Argumentationsstrukturen, welche
den kontinentalen Juristen auszeichnen und charakterisieren. Solche
Denkstrukturen wurden häufig unbewußt über Unterricht und Praxis vermittelt und
dauern bis heute über Generationen hinweg als Charaktermerkmal der
kontinentalen Zivilrechtsordnungen fort. Insoweit ist die Frage nach dem
Verhältnis zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik wahrscheinlich
umzuformulieren, wie übrigens auch Rückert zutreffend gesehen hat
(Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1997, S. 189): „inwieweit man sich
Wertungs- und Entscheidungsarbeit ganz allgemein oder auch nur im Rahmen eines
geltenden Rechts als wissenschaftlich vorstellen kann und will“. Es handelt
sich hier also letztendlich um eine Frage der Rechtsquellenlehre, inwieweit
nämlich im heutigen kontinentalen Recht, unter den Bedingungen des modernen
Verfassungs- und Justizstaates, dem Juristen, vor allem den Zivilisten, noch
eine schöpferische Wertung und Entwicklungsfunktion bei der Rechtsfindung
zukommt. Dies ist sicher für manche klassischen Provinzen des Zivilrechts,
insbesondere des Vertrags- und Schuldrechts, heute noch der Fall. Die
historischen Kodifikationen stellen hier keinesfalls einen endgültigen Bruch in
der kontinentalen Rechtskultur dar. Eine realistische Betrachtung etwa der
Rolle der Rechtsprechung bei der Fortbildung und Entwicklung des französischen
Zivilrechts des 19. und 20.Jahrhunderts würde geradezu das Gegenteil lehren.
Die gesetzlichen Normen mancher historisch gewordenen naturrechtlichen
Gesetzbücher stellen heute ein juristisches Argument besonderer Dignität
dar, aber auch nicht mehr. Insoweit verweisen Kötz und Zimmermann zu Recht
darauf, daß eine historische Besinnung auf die gemeinsame gemeinrechtliche
Tradition, welche - hier sei es nochmals nachdrücklich betont - vor allem eine
wissenschaftliche und universitäre war, einen Weg eröffnen kann, die
Verständigung zwischen den kontinentalen Juristen zu erleichtern.
Selbstverständlich ist es vollkommen legitim, das Rechtsleben des europäischen
Ancien Régime auch als Thema für die Sozial- und Kulturgeschichte zu sehen und
zu erforschen. Entscheidend ist hier nämlich immer wieder das jeweilige
Erkenntnisinteresse des Forschers und des Lehrers. Aus der Sicht des Zivilisten
und des Rechtsvergleichers bleibt es demnach aber genauso legitim, daran zu
erinnern, wie gegenwärtig, wenn auch unbewußt, längst verschüttet geglaubte
gemeinrechtliche Denkstrukturen und Denkformen im Denken des kontinentalen
Juristen heute noch sind. Es geht nicht, wie manche Beiträge polemisch glauben
lassen wollen, um eine historische Aktualisierung der Römischen Rechtsquellen,
der Lehre der Pandektisten oder gar des Usus modernus pandectarum. Der
Rezensent erlaubt es sich, hier auf seinen Beitrag „Das Reichskammergericht und
der gemeinrechtliche Ursprung der deutschen zivilrechtlichen
Argumentationstechnik“ hinzuweisen (Zeitschrift für Europäisches Privatrecht,
1997, S. 718-734) Solche historischen Studien zu juristischen Methoden,
Arbeitsweise und Rechtsdenken des kontinentalen Juristen auch und vor allem
unter Einbeziehung der gemeinrechtlichen Tradition jenseits der
Kodifikationsgrenze, würden uns den Weg zum besseren Verständnis des Civil Law
eröffnen und zugleich übrigens zeigen, wie Rechtsgeschichte auch heute moderne
Juristen ansprechen und die Einsicht in die Funktion historischer Erkenntnisse
für das heutige Zivilrecht vermitteln kann.
Saarbrücken
Filippo Ranieri