RanieriJhering20000406
Nr. 1202 ZRG 118 (2001)
Jhering,
Rudolf von, „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?“. Jherings Wiener
Antrittsvorlesung vom 16. Oktober 1868. Aus dem Nachlaß hg. und mit einer
Einführung, Erläuterungen sowie einer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung
versehen von Behrends, Okko. Wallstein, Göttingen 1998. 203 S.
Die
von Okko Behrends besorgte editorische Betreuung,
wissenschaftshistorische Kommentierung und Herausgabe der hier erstmals
veröffentlichten Wiener Antrittsvorlesung von 1868 von Rudolf von Jhering
stellt für die Rechtswissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts ein
regelrechtes Geschenk dar. Die Edition, die es hier anzuzeigen gilt, hat in der
Tat inzwischen eine beachtliche Aufnahme gefunden, obgleich einige Stellungnahmen
z. T. kritisch bis polemisch ausgefallen sind. Zur Information des Lesers sei
hier auf die lange, sehr kritische und unnötigerweise polemische Rezension von Thomas
Giaro, in: Rechtshistorisches Journal, Bd. 18 (1999), 649-658, verwiesen;
aus der Tagespresse liegen wichtige Stellungnahmen vor von Michael Stolleis
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. März 1999, S. L 29, von Marie-Theres
Fögen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Mai 1999, S. 66 sowie schließlich
von Ilse Stein, in: Göttinger Tageblatt vom 14. Januar 2000, S. 22. Die
Edition und eine erste Fassung der Kommentierung waren bereits bei einer
romanistischen Tagung in Neapel 1993 vorgestellt worden (dazu Franz Wieacker,
in: Index. Quaderni
camerti di studi romanistici. International Survey of Roman Law 23 (1995), 181ff.
sowie Okko Behrends, ebda. 183-191).
Einiges
sei zunächst zum Inhalt des Bandes gesagt. Dieser besteht aus zwei Hauptteilen.
Nach einem Vorwort des Herausgebers folgt die Edition der Wiener
Antrittsvorlesung vom 16. Oktober 1868. Diese enthält eine Wiedergabe der
Vorrede Jherings mit drei von Jhering selbst entwickelten Vorentwürfen zu
seiner Rede (S. 21-46). Danach folgt der edierte Text des Vortrags „Ist
Jurisprudenz eine Wissenschaft?“ (S. 47-92). Sowohl die edierten Vorentwürfe
als auch der Text der Jhering’schen Rede werden durch zahlreiche, z. T.
umfangreiche Fußnoten kommentiert, welche sich nicht nur auf die Textgeschichte
beschränken, sondern sich auch inhaltlich mit den Aussagen Jherings
auseinandersetzen. Ein zweiter Teil (S. 93-202) ist „Jherings Evolutionstheorie
des Rechts zwischen historischer Rechtsschule und Moderne“ gewidmet. Es handelt
sich um eine sehr ausführliche und außerordentlich breit dokumentierte
wissenschaftsgeschichtliche Skizze, in welcher der Herausgeber das Rechtsdenken
Jherings in die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts einordnet, aber
darüber hinaus den Leser mit den dem Herausgeber selbst eigenen Vorstellungen
über die Rolle von der geschichtlichen Erkenntnis in der heutigen Rechtswissenschaft
konfrontiert. Nach einer ausführlichen Wiederholung und Synthese der
Hauptthesen des Jhering'schen Vortrags folgt dann eine engagierte Stellungnahme
des Herausgebers selbst zum Wert einer Evolutionstheorie des Rechts im heutigen
Rechtsdenken (S.171ff.).
Die Wiener
Antrittsvorlesung von 1868 nimmt eine denkwürdige Mittelstellung im
wissenschaftlichen Leben und im Werk Rudolf von Jherings ein. Dieser hatte sich
bereits zwischen 1858 und 1859 endgültig von der begrifflichen Dogmatik der
damaligen Pandektistik - etwa seiner Lehrer Puchta und Rudorff - gelöst.
Seitdem bewegte sich das Jhering’sche Rechtsdenken zwischen den historischen
und philosophischen Grundüberzeugungen, welche seine wissenschaftliche Jugend
geprägt hatten, und der zunehmenden Einsicht in die Veränderungen der damaligen
sozialen Welt und in der Notwendigkeit einer Anpassung der römischrechtlichen
Überlieferung an die zeitgenössischen Erfordernisse. Zeugnis dieses
wissenschaftlichen Wandels war das erste große Jhering’sche Werk „Der Geist des
römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“ gewesen: Ein
Werk, das bezeichnenderweise unvollendet blieb. Nach seinem Wiener Auftritt
1868 verließ Jhering bereits vier Jahre später die österreichische Fakultät,
übrigens mit der berühmten Abschiedsvorlesung von 1872 „Der Kampf ums Recht“.
An seiner späteren Göttinger Wirkungsstätte schrieb er dann sein zweites,
ebenfalls unvollendet gebliebenes Hauptwerk „Der Zweck im Recht“. Die hier
edierte Wiener Antrittsvorlesung gibt uns also einen Einblick in das
Jhering’sche Denken in der Mittelphase zwischen „Geist“ und „Zweck“. Der Wiener
Vortrag hat einen unsichtbaren Gegner: den Berliner Staatsanwalt Julius von
Kirchmann, der 1848 seine berühmt-berüchtigte Rede „Die Werthlosigkeit der
Jurisprudenz als Wissenschaft“ (1.-6. Auflage, Berlin 1848) verfaßt und
veröffentlicht hatte. Die Schrift Kirchmanns hatte seinerzeit die
akademisch-juristische Elite Deutschlands tief erregt. Sowohl Puchta als auch
Rudorff, beide damalige Lehrer Jherings, nahmen den Vortrag Kirchmanns äußerst
negativ auf. Damit wird auch sichtbar, wo der Hauptgegner Jherings sitzt. Es
sind diejenigen, welche die Rechtswissenschaft an den Gesetzgeber, an das
jeweils geltende positive Recht ausliefern wollen.
Der Verweis
des Positivismus auf die hier und heute geltenden Gesetze ist in den Augen
Jherings der Todfeind einer „Wissenschaftlichkeit“ der Jurisprudenz. Das
positive, zeitlich bedingte und willkürliche Recht der jeweiligen Gesetzgebung
ist gerade das Gegenteil einer wissenschaftlichen Sicht der Rechtsordnung. Hier
liegt der Kern der Jhering’schen Aussage. „Lassen wir einmal zunächst die
Rechtsphilosophie und die Rechtsgeschichte außer Betracht“ - schreibt Jhering
(S. 47-48) - „und wenden uns demjenigen Theil der Jurisprudenz zu, der das
eigentliche Gebiet des Wissens und Könnens der bei weitem größten Mehrzahl der
Juristen bezeichnet: der positiven Jurisprudenz oder der Dogmatik: der Lehre
des in einem Lande geltenden positiven Rechts. Hat sie auf jenen Namen Anspruch?
Welche Wissenschaft, kann man sagen, die abhängig ist von der Laune des
Gesetzgebers, wo heute gilt, was morgen verworfen ist, hier falsch, was dort
wahr? Welche Wissenschaft, die an die Gränzpfähle gebunden, welche uns im Stich
läßt, wenn wir über die Gränze gegangen sind oder wenn ein neues Gesetzbuch
eingeführt wird. Was ist aus der Wissenschaft des deutschen Bundesrechts
geworden? Mit dem deutschen Bunde ist sie zu Grabe getragen; was ist das Wissen
des französischen Juristen, wenn er nach Deutschland, was des deutschen
Juristen, wenn er nach Frankreich verpflanzt wird?“ Die wissenschaftliche
Behandlung des Rechts stellt also in der damaligen Perspektive Jherings einen
überpositiven Zugang zum Recht über das positive, zufällige Moment der jeweiligen
Gesetzgebung hinaus dar. In dieser Hinsicht bleibt demnach Jhering ein Kind der
historischen Rechtsschule. Das Prinzip der historischen Bedingtheit und vor
allem der historischen Evolution von Rechtsinstituten stellt für Jhering eine
Garantie für das dogmatische Herausfinden von „richtigen“ Lösungen dar. Der
Glaube, die Grundsätze des Rechts und der Rechtsevolution in dogmatischen
Begriffen erfassen zu können, steht noch 1868 offenbar im Vordergrund der
Jhering’schen Überzeugungen.
Es handelt
sich dabei nicht nur um die Überzeugungen des Verfassers des Wiener Vortrags
von 1868, sondern auch um die Probleme und Überzeugungen des Herausgebers
selbst. In den zahlreichen kommentierenden Fußnoten, aber vor allem in dem sehr
ausführlichen Beitrag zu „Jherings Evolutionstheorie des Rechts“, legt Okko
Behrends ausführlich Rechenschaft hierüber ab. „Die gelungene Verbindung
von Dogmatik und positivem Recht“ - schreibt er (S. 48, Fn. 34) - „ist
gleichbedeutend mit rechtswissenschaftlichem Recht. Sie erzeugt die gute Form
des positiven Rechts. Hier liegt der aus der Historischen Rechtsschule
stammende Angelpunkt des Jheringschen Rechtsdenkens, sowohl in theoretischer
wie in praktischer Hinsicht.“ Der Positivismus ist auch der Hauptfeind des
Herausgebers. Seine rechtspolitischen Stellungnahmen sind in dieser Hinsicht
eindeutig und mit großer Schärfe formuliert. „Die gegenwärtige europäische Lage
verschafft Jherings Leitgedanken“ - schreibt Behrends bereits im Vorwort
(S. 15) - „daß die Jurisprudenz Wissenschaft sein kann, wenn sie das positive
geltende Recht von seinen historischen und philosophischen Voraussetzungen her
erfaßt und geistig belebt, jederzeit aber einem ihre Aufgabe gefährdenden
geistlosen Positivismus verfallen kann, eine bedeutende Aktualität. Eingedenk
des Savigny-Wortes“ - fährt Behrends fort - „daß eine Wissenschaft immer
auch ‚etwas oder viel tiefer steht‘ als das, was unmittelbarer Gegenstand ihres
Studiums ist, wird entscheidend sein, was in den z. Zt. 15 Staaten der
Europäischen Union Gegenstand der Rechtswissenschaft sein wird. Wenn sich alle
geistige Energie auf die Auslegung der Richtlinien und Verordnungen der
Europäischen Kommission und die Versuche vereinheitlichender
Privatrechtskodifikationen richten wird, droht eine neue Epoche geistig unfruchtbaren
Positivismus.“ Die Alternative liegt in einer Besinnung auf die Tradition der
Historischen Rechtsschule. „Das könnte“ - meint Behrends (ebda.) -
„vermieden werden, wenn die Juristen Europas in der Tradition der Historischen
Rechtsschule als ihre erste Aufgabe ansehen, den Zusammenhang der europäischen
Rechtskultur in vergleichender und klärender Arbeit an ihren jeweiligen eigenen
Rechtsordnungen darzustellen und zu stärken.“ Vielleicht sind manche
Kommentierungen zu den Jhering’schen Bekenntnissen allerdings allzu scharf und
polemisch ausgefallen. „Dieser Positivismus“ - schreibt Jhering (S. 52) - „ist
der Todfeind der Jurisprudenz; denn er würdigt sie zum Handwerk herab und ihn
hat sie daher zu bekämpfen auf Tod und Leben.“ Für Behrends ist dies bereits
eine Bestätigung dafür, daß die positivistische Richtung der damaligen
deutschen Rechtswissenschaft für die Mißbräuche und Verbrechen der totalitären
Herrschaft der 30er Jahre hauptverantwortlich gemacht werden kann. „Wir wissen
heute aus Erfahrungen“ - führt Behrends
aus (ebda., Fn. 43) - „die Jhering noch nicht machen mußte, daß die
Auffassung, welche die Rechtsanwendung zu einer Art maschinenmäßiger
Normumsetzung herabdrücken will, auch die Alpträume des Totalitarismus
ermöglichte, die Exzesse des modernen Staates, die eben nicht nur mit
Fanatisierten, die ohne Recht oder mit einem freirechtlichen Pseudo-Recht ihr
‚Ideal‘ durchsetzten, sondern zu einem großen und vermutlich dem größeren Teil
mit farblosen, auf Normanwendung dressierten Juristen möglich geworden sind.“
Ist das wirklich richtig? Ist es vielleicht nicht vielmehr so, daß die
„unbegrenzte Auslegung“, welche das deutsche Reichsgericht und die damalige
deutsche Zivilistik in den 30er Jahren vorlegte, sich gerade aus einer tief
sitzenden Mißachtung der gesetzgeberischen Entscheidungen und Rechtsfiguren
speiste? Eine historische, strukturelle Verbindung zwischen der
Freirechtsschule und der Interessenjurisprudenz einerseits, welche übrigens z.
T. gerade aus dem Gedankengut des späten Jhering lebte, und den Mißbräuchen und
Fehlentwicklungen der 30er Jahre andererseits wäre viel vorsichtiger und
genauer zu begründen. Auch mit dem Umgang Jherings mit den Römischen
Rechtsquellen hat der Herausgeber Probleme. „An dieser Stelle“ - schreibt er (S.
167) - „wird deutlich, wo die Historische Rechtsschule ungeschichtlich war. Die
Historische Rechtsschule war unhistorisch nicht dort, wo sie die antike Theorie
aufarbeitete, sondern, wenn man von den Um- und Mißdeutungen absieht, die bei
der Aufbereitung der Begrifflichkeit der Quellen unterliefen, dort, wo sie dem
geistigen Gehalt ihrer Quellen deswegen, weil in ihnen Theorie verwirklicht
war, eine unhistorische, geschichtsmetaphysische Erklärung gab.“ Darin bleibt
nach Ansicht von Behrends Jhering auch nach seinem Abschwören der
Rechtsdogmatik verhaftet.
Das
Verhältnis des Herausgebers zum Werk und zum Denken Jherings ist ein inniges,
aber gerade deshalb fehlt ihm ein ausreichend historischer Abstand. Das wird in
den zahlreichen Fußnoten und im ausführlichen Kommentar im zweiten Teil des
Buches überdeutlich. Die Welt Jherings, die rechtspolitischen Probleme seiner
Zeit, auch die wissenschaftliche Welt, in die sich seine Werke einordnen, sind
nicht die unseren. Sie sind übrigens um das Zivilrecht allein zentriert, was
eine zusätzliche Einseitigkeit bedeutet. Der Rezensent hat Zweifel, ob die
Erstellung eines derartig engen Kontinuitätszusammenhangs zwischen den heutigen
Problemen des Zivilrechts einerseits und den Diskussionen der Mitte des
19.Jahrhunderts andererseits zu einem wirklichen Verständnis der historischen
Leistungen Jherings hilfreich sein kann. Was bedeutet es eigentlich, die Frage
nach der „Wissenschaftlichkeit“ der Jurisprudenz aufzuwerfen? Es ist
keinesfalls nur eine Frage, welche damals Jhering bewegt hat. Der Titel der
Berliner Rede Julius von Kirchmanns bestätigt, in welchem Umfang die Frage nach
der Wissenschaftlichkeit der „Rechtswissenschaft“ die damalige deutsche
juristische Elite bewegte. Es handelt sich aber um eine Fragestellung, die damals,
wie übrigens z. T. heute noch, gerade die deutsche Rechtskultur allein
vornehmlich beschäftigte und beschäftigt. Die Krise des vormodernen
Wissenschaftsbegriffs, das Aufkommen der modernen Wissenschaften im 18. und zu
Beginn des 19. Jahrhunderts konfrontierte die Juristen, und hier gerade die
deutschen Romanisten, mit einer „Grundlagenkrise“. Die Historisierung des
Rechts ist ein Versuch, eine Antwort auf diese Selbstzweifel zu geben. Das
ältere europäische Gemeine Recht und die damit verbundene Praktikergeneration
hat sich bezeichnenderweise eine solche Frage nie gestellt. Die
„jurisprudentia“ wurde vornehmlich als eine praktisch ausgerichtete
„Argumentationskunst“ angesehen. Es ist deshalb kein Zufall, daß an den
deutschen Universitäten am Anfang des 19. Jahrhunderts die „praktische
Jurisprudenz“ der Jahrzehnte zuvor langsam verschwindet. Die Historische
Rechtsschule und später vor allem die Dogmatik der deutschen Pandektistik haben
der Frage der „Wissenschaftlichkeit“ der Jurisprudenz eine besondere Prägung
und Richtung gegeben. Gerade aus diesem historischen Zusammenhang wird die
Frage und nicht zuletzt das wissenschaftliche Bemühen Jherings in seinem Wiener
Vortrag verständlich und vor allem geistesgeschichtlich einordenbar. Die
französische oder die englische Rechtswelt haben bis heute eine solche Wende
zur „Verwissenschaftlichung“ der Jurisprudenz noch nicht gemacht. Ob sich die
deutsche „Rechtswissenschaft“ aus der Zeit Rudolf von Jherings mit einer
solchen Fragestellung in die kontinentaleuropäische Rechtstradition einordnet
oder ob vielleicht darin gerade ein deutscher „Sonderweg“ sichtbar wird, wäre
eine erörterungsbedürftige und spannende Fragestellung. Dasselbe gilt übrigens
auch für die Frage nach der historischen und rechtstheoretischen Bedeutung der
„Positivierung“ des Rechts für die europäische Gesellschaft des 19.
Jahrhunderts, welche der Herausgeber bezeichnenderweise auch nicht stellt.
Gerade solche Fragen aufzuwerfen, würde übrigens den historischen Abstand zur
Ideenwelt Jherings herstellen und damit zugleich den Zugang zu seinen
historischen Leistungen erleichtern.
Saarbrücken
Filippo Ranieri