PaulyHintze20000124 Nr. 1219 ZRG 118 (2001)

 

 

Hintze, Otto, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten, Fragmente 1, hg. v. Di Costanzo, Giuseppe/Erbe, Michael/Neugebauer, Wolfgang (= Palomar Athenaeum 17). Palomar, Calvizzano (NA) 1998. 306 S.

Während die nationale Verfassungsgeschichtsschreibung einschließlich der zugehörigen Wissenschaftsgeschichte blüht, sind größer angelegte Werke zur europäischen Verfassungsgeschichte eine Seltenheit. Erst in jüngster Zeit scheint mit Wolfgang Reinhards Geschichte der Staatsgewalt wieder ein Anfang gemacht. In seiner Antrittsrede bei Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin deklarierte Otto Hintze (1861‑1940) im Juli 1914 „eine vergleichende Verfassungs‑ und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt, namentlich der romanischen und germanischen Völker“ als das „eigentliche Ziel“, das ihm bei seinen wissenschaftlichen Bemühungen vorschwebte (Gesammelte Abhandlungen I, 3. Aufl. 1970, S. 564). Erschienen ist dieses Werk nie. Das Manuskript einer allgemeinen neueren Verfassungsgeschichte hat Hintze zwar 1930 dem Verlag Teubner angeboten, der Druck ist aber an einschneidenden Kürzungsverlangen des Verlages gescheitert. Dieses Manuskript ist wohl im oder nach dem Zweiten Weltkrieg verschollen, mutmaßt Wolfgang Neugebauer in seinem einführenden Aufsatz „Otto Hintze und seine Konzeption der ‚Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten’“, der nach einer Neubearbeitung aus der Zeitschrift für Historische Forschung 1993 in den vorliegenden Band übernommen wurde. Im Staatsarchiv zu Berlin‑Dahlem sind Bruchstücke des großen Projekts vorhanden, jedoch bei weitem nicht alle. Die Vorarbeiten zu Frankreich, England, USA und Russland sind verloren. Erhalten haben sich diejenigen zu Skandinavien, Dänemark, Schweden, Polen im Mittelalter, Ungarn und den Niederlanden. Sie liegen nun mit Band 1 der Fragmente gedruckt vor. Die gleichfalls erhaltenen Teile zu Polen vom 16. bis 18. Jahrhundert hatte Gerhard Oestreich ebenso wie den zuvor unveröffentlichten Essay „Der Durchbruch des bürgerlich‑demokratischen Nationalstaats in der amerikanischen und der französischen Revolution“ in den ersten Band der Gesammelten Werke Hintzes aufgenommen. Die Nachlasspartikel zur Schweiz, zu Österreich, Italien und Spanien soll der zweite Fragmentband liefern; von ihm ist auch ein Gesamtregister zu erwarten. Die bestehenden Lücken in Hintzes eigentlichem Hauptwerk schließen sich Neugebauer zufolge allerdings durch Vorlesungsnachschriften. Von einer 121‑seitigen Fassung von 1913/14 (und einer erhaltenen noch kürzeren Version), die Hintzes Ausführungen nur sehr vermittelt wiedergibt, steht hierbei allerdings weniger zu erwarten als von einem vor kurzem im Handel aufgetauchten 400‑seitigen Exemplar. Dabei handelt es sich nach inneren wie äußeren Bewertungskriterien laut Neugebauer wohl um eine äußerst zuverlässige Nachschrift aus dem Wintersemester 1910/11. Mithin hält die Hintze‑Forschung nun doch das ersehnte Hauptwerk in den Händen, wenn auch nur in Einzelteilen. Schließlich existiert noch eine Vorlesungsnachschrift zu Hintzes Vorlesung über Politik, die sich mit den wesentlichen Grundbegriffen und Problemkreisen der Staatslehre beschäftigt. Es wäre daher zu wünschen, dass die begonnene Edition nicht mit den beiden Fragment­Bänden endet.

Der vorliegende Nachlass zeigt, wie wenig Hintze sich auf den Preußen‑Historiker reduzieren lässt, als der er vielen immer noch gilt ‑ nicht unveranlasst, denkt man an eine Vielzahl seiner Aufsätze, das Hohenzollern‑Buch und schließlich die Mitarbeit am Projekt der Acta Borussica. Preußen diente ihm lediglich paradigmatisch dazu, Staatsbildungsprozesse zu durchleuchten. In den Fragmenten geht es nun um die ganz entsprechende Analyse am Material anderer nationaler Entwicklungsgeschichten. Induktiv verfahrend nimmt Hintze seinen Ausgang am konkret‑individuellen Stoff. Wer dem Titel folgend an erster Stelle das Allgemeine und den Vergleich erwartet, wird enttäuscht. Hintze zielt auf die Bildung historischer Realtypen, die individuelle Bildungsvorgänge beschreiben Durchaus befruchtet durch soziologische Kategorisierungen, vor allem aber durch den von Friedrich Ratzel übernommenen Raumgedanken, syn­thetisiert Hintze hier Politik‑, Struktur‑ und Sozialgeschichte zu einem durchaus mo­dern anmutenden Forschungsansatz. Von einem vereinseitigenden Primat der Außen­politik kann keine Rede sein. Diesen ertragreichen Perspektivenwandel Hintzes, der ihn vom Erbe der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts trennt, datiert Neuge­bauer schon auf die Zeit um das Jahr 1906 und nicht erst auf den Zusammenbruch 1918, wie es häufig geschieht.

Hintzes Geschichte der neueren Staaten ist schließlich keine Geschichte der Staaten in der Neuzeit. Seine Rückgriffe reichen zurück bis tief ins Hochmittelalter. In der Ge­sellschaftsordnung des Hoch‑ und Spätmittelalters liegt durchweg der Ausgangspunkt seiner äußerst dichten Beschreibung, die aus der detailgesättigten Informationsfülle immer wieder zu Vergleichen vorstößt. So arbeitet Hintze etwa heraus, dass die man­gelnde Rezeption des römischen Rechts in den skandinavischen Reichen die Erstarkung des dortigen Königtums zu römisch‑imperialistischer Machtfülle verhindert habe. Infolgedessen seien auch die Machtkämpfe zwischen Herrschern und Aristokra­tie weniger heftig verlaufen als in der romanisch beeinflussten Staatenwelt (S. 118). Folglich hätte der Rat des Königs hier auch als Vertretung der Aristokratie gelten können; die Herrscher hätten denn auch bis zum Ende des Mittelalters keineswegs gegen die Aristokratie auf die mittleren und unteren Klassen eingewirkt. Wenn sich bei der Vielzahl der Beobachtungen ein wiederkehrendes Element benennen lässt, dann die staatsbildende und zugleich modernisierende Funktion, die Hintze dem Königtum zu­misst. So stellt Hintze etwa für die drei skandinavischen Reiche fest, in diesen hätten sich gerade die „weiterblickenden Elemente aus allen Reichsteilen um den König“ ge­sammelt (S. 93). Auch betont Hintze am Beispiel Dänemarks die charakteristischen Leistungen des neueren Absolutismus, wenn er etwa auf dem Gebiet des Rechtslebens die „grosse Codification des Danske lov“ 1683 hervorhebt (S. 161) ‑ eine Leistung administrativer Eliten, der Preußen erst hundert Jahre später hatte nachkommen können. In Polen und Ungarn dagegen hat eine starke Adelsrepublik die Ausbildung einer machtvollen monarchischen Spitze verhindert. Eine Staatsmacht, die Wider­standsfähigkeit und Entwicklungskraft hätte verleihen können, habe sich deswegen insbesondere in Ungarn nicht ausbilden können (S. 267). Als eine der „merkwürdigsten Staatenbildungen des alten Europa“ schildert Hintze schließlich die Ende des 16. Jahrhunderts entstandene „Republik der Vereinigten Niederlande“, die ein theoretisch hochinteressantes Lehrstück föderaler Verfassung gegeben hätte (S. 270). Letztlich habe die republikanisch‑föderative Staatsform die Entwicklung zum Einheitsstaat aber nur für das 17. und 18. Jahrhundert aufhalten können (S. 272). Die „Jämmerlichkeit des patricischen Staatenregiments“ sei 1747, als die Republik in den österreichischen Erbfolgekrieg gezogen wurde, „so krass zu Tage“ getreten, dass durch Volksaufstand erneut die Einsetzung eines Oraniers als Statthalter erzwungen worden sei. Auch unabhängig eigener politischer Optionen, die sich in den zwanziger Jahren gewandelt haben mögen, blieb die Monarchie in Hintzes Staatsgeschichte der eigentliche Entwicklungsträger.

Jena                                                                                                                             Walter Pauly