MuschelerDasbürgerliche20000824 Nr. 10086 ZRG 118 (2001)
Das
Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf
die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896-1914), hg. v. Falk,
Ulrich/Mohnhaupt, Heinz (=Rechtsprechung, Materialien und Studien,
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte
14). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. XV, 676 S.
Am 1. Januar 2000 wurde das Bürgerliche Gesetzbuch 100
Jahre alt. Aus diesem Anlass veranstaltete das Max‑Planck‑Institut
für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main ein Symposion, das vom
16. bis 18. März 1999 dauerte und dem Thema „Das Bürgerliche Gesetzbuch. Zur
Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts
(1896 ‑ 1914)“ gewidmet war. Der hier vorzustellende Band gibt die auf
dem Symposion gehaltenen Vorträge wieder.
Ein längeres Vorwort der Herausgeber berichtet über die dem
Symposion vorgegebenen Forschungsziele: Während die Entstehungsgeschichte des
Bürgerlichen Gesetzbuchs, samt der politischen, normativen und
wissenschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen, mittlerweile gut erforscht sei,
fehle es noch weitgehend an Untersuchungen der Frage, wie die unmittelbaren
Adressaten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, nämlich die Richter, auf die
reichseinheitliche Kodifikation des Privatrechts reagiert haben. Ziel des
Symposions war es zum einen, die Richtigkeit der häufig vertretenen Auffassung
zu überprüfen, die damalige Judikatur sei durch eine
extrem buchstabengetreue Anwendung des Gesetzes, also durch so genannten
„Gesetzespositivismus“, geprägt gewesen. Zum anderen verdiene die Frage nach
der Reaktion der Richterschaft aus rechtstheoretischer und rechtspolitischer
Sicht auch ein grundsätzliches Interesse: Das konkrete Beispiel des
Bürgerlichen Gesetzbuchs biete ein reichhaltiges und interessantes
Studienmaterial für die allgemeine Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten und
Wirkungsgrenzen einer Kodifikation, also für die Problematik des
„Kodifikationsanspruchs“ schlechthin. Aus diesen zwei übergeordneten
Forschungszielen leiteten sich speziellere Problemkreise ab: (1) Mögliche
Vorwirkungen der früheren, gemein- und territorialrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts auf die Kodifikationsarbeiten,
(2) Mögliche Vorwirkungen der Kodifikationsarbeiten auf die Judikatur,
spätestens ab 1. Juli 1896, zu dem das Bürgerliche Gesetzbuch in endgültiger,
wenn auch noch nicht in Kraft gesetzter Fassung vorlag, (3) Gab es
rechtsfortbildende Rechtsprechung in den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten
des Bürgerlichen Gesetzbuchs? (4) Lassen sich Kontinuitäten in Terminologie,
Methode und Inhalten zwischen der Rechtsprechung vor und jener nach 1900
feststellen?
Da zu vermuten steht, das Interesse zahlreicher Leser werde
sich weniger am Gesamttitel des Bandes entzünden als an dem Thema einzelner
Vorträge, ist es sinnvoll, die einzelnen Beiträge vollständig aufzuführen. Hans‑Peter
Haferkamp berichtet über „Die excepti doli generalis in der
Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914“, Maximiliane Kriechbaum über
„Teilnichtigkeit und Gesamtnichtigkeit: Die Rechtsprechung des Reichsgerichts
vor und nach Erlaß des BGB“, Mathias Schmoeckel über „Von der Vertragsfreiheit zu
typisierten Verkehrspflichten. Zur Entwicklung des Vertretungsrechts“, Tomasz Giaro über
„Culpa in contrahendo: eine Geschichte der
Wiederentdeckungen“, Hans Peter Glöckner über „Die positive
Vertragsverletzung“, Jörg Neuner über „Die Entwicklung der Haftung für
Drittschäden“, Filippo Ranieri über
„Kaufrechtliche Gewährleistung und Irrtumsproblematik: Kontinuität und
Diskontinuität in der Judikatur des Reichsgerichts
nach 1900“, Tilman Repgen über „Das
Vermieterpfandrecht im Kaiserreich“, Werner Schubert über „Die
Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Werkvertrag (1900‑1914)“, Thomas
Finkenauer über „Das entstehungsgeschichtliche
Argument als Etikettenschwindel. Zwei Beispiele aus der Rechtsprechung des
Reichsgerichts zum Bereicherungsrecht“, Reinhard Zimmermann und Dirk
A. Verse über „Die Reaktion des Reichsgerichts auf die Kodifikation des
Deliktsrechts (1900-1914)“, Diethelm Klippel und
Gudrun Lies‑Benachib über „Der Schutz
von Persönlichkeitsrechten um 1900“, Klaus Luig über
„Richter secundum, praeter
oder contra BGB? Das Beispiel der Sicherungsübereignung“, Andreas Thier über „Zwischen actio negatoria und Aufopferungsanspruch: Nachbarliche
Nutzungskonflikte in der Rechtsprechung des 19. und 20. Jahrhunderts“, Ulrich
Falk über „Zur Sittenwidrigkeit von Testamenten. Grundlinien der
Rechtsprechung im 19. und 20. Jahrhundert“, Heinz Mohnhaupt über „Die
Kommentare zum BGB als Reflex der Rechtsprechung (1897‑1914)“, Rainer
Schröder über „Der gewerbliche Kampf`“, Gerd Bender über
„Richtungskämpfe? Das Reichsgericht und die Tarifverträge“, Hans Kiefner über „Zur Divergenzjudikatur
des Reichsgerichts auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts (§§ 28 FGG, 79 GBO)“, Christoph
Bergfeld über „Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts zur Auslegung
von Rechtsgeschäften“, Hidetake Akamatsu über „Bezugnahmen auf das deutsche BGB in der
japanischen Rechtsprechung? ‑ Eine Fallstudie“.
Obwohl die Herausgeber im Vorwort betonen, als maßgeblich
für den wissenschaftlichen Ertrag des Symposions erscheine ihnen nicht so sehr
das isolierte Ergebnis der einzelnen Beiträge als vielmehr die Summe aller
Analysen, vermisst der Leser den Versuch einer Gesamtschau aller
Einzelbeiträge, eine „Gesamtzusammenfassung“. In einer Rezension kann das
naturgemäß nicht nachgeholt werden. Aber vielleicht lässt sich vorläufig doch
so viel sagen: Von „Materialienkult“, also einer massenhaften und unselbständig‑schülerhaften
Verwendung der zum Bürgerlichen Gesetzbuch publizierten Materialien, kann
selbst für die ersten Jahre der BGB‑Rechtsprechung keine Rede sein. Mag
es auch zutreffen, dass im fraglichen Zeitraum das entstehungsgeschichtliche
Argument ‑ wie übrigens immer und heute noch bei jüngeren Gesetzen und
durchaus nicht nur bei jüngeren Kodifikationen ‑ eine zahlenmäßig größere
Rolle als davor und danach spielte, erstaunlich bleibt doch der unbekümmerte
und wahrlich nicht von zu geringem Selbstbewusstsein geprägte Umgang des
Reichsgerichts mit diesem Argument. Etwas zu weit geht freilich für meinen
Eindruck Finkenauer in seinem Beitrag
(S. 305ff.), wenn er dem Reichsgericht an zwei
Beispielen für den Umgang mit den Gesetzesmaterialien bewussten
Etikettenschwindel, regelrechte „Tricks“ vorwirft. Bei dem einen Beispiel Finkenauers, dem „Menzelfall“ (RGZ 130, 69), kann man zunächst zweifeln, ob die Verwendung
der Entstehungsgeschichte durch das Reichsgericht wirklich inhaltlich falsch
ist. Im Menzelfall ging es um die Frage, ob ersessenes Eigentum kondizierbar ist. Das Reichsgericht bejahte die Frage,
unter anderem mit dem Argument, die zweite BGB‑Kommission habe § 748 II
des ersten BGB‑Entwurfs gestrichen. § 748 II, wonach ein Rechtsverlust im
Falle seiner gesetzlichen Anordnung nicht als ohne Rechtsgrund eingetreten
gelten sollte, wurde von der ersten Kommission damit motiviert, dass es nicht
gerechtfertigt sei, den „mit der Ersitzung verbundenen Vortheil
mittelbar und materiell wieder zu entziehen“. Die Streichung der Vorschrift
begründete die zweite Kommission damit, dass die Norm in ihrer Allgemeinheit
nicht richtig sei; ausdrücklich hielt man sie aber für das Verhältnis von
Verlierendem und Ersitzendem für richtig. Nun war aber die Streichung von § 748
II ein objektiv isolierbarer Vorgang der Entstehungsgeschichte, der einer
eigenständigen Beurteilung des Rechtsanwenders offen stand und keineswegs einem
Interpretationsmonopol der zweiten Kommission unterlag. Die Streichung so wie das
Reichsgericht zu verstehen, dafür sprach vor allem die gerade auf das
Verhältnis von Bereicherungsrecht und Ersitzung bezogene Begründung des § 748
II in der ersten Kommission. Auch das zweite Beispiel Finkenauers,
die ältere Saldotheorie, ist durchaus nicht ganz eindeutig im Hinblick auf eine
inhaltlich falsche Verwendung der Entstehungsgeschichte. Selbst wenn man aber
einmal unterstellt, das entstehungsgeschichtliche Argument sei in beiden Fällen
inhaltlich falsch gewesen, so bleibt immer noch zu fragen, ob dies dem
Reichsgericht „bewusst“ war. Was sollte sich das Gericht von der Verwendung des
Arguments versprechen, wenn jeder seine Unrichtigkeit anhand veröffentlichter
und weitverbreiteter Materialien erkennen konnte. Liegt nicht die Annahme einer
(unbewusst) selektiven Lektüre näher? Selbst wenn man aber bewusste Falschheit
unterstellt, muss doch nach der Funktion, die das entstehungsgeschichtliche
Argument für das Reichsgericht hatte, gefragt werden. Das Gericht hätte ohne
weiteres so vorgehen können, wie der Bundesgerichtshof es meist macht, wenn ihm
die Materialien nicht „passen“: Es hätte die Materialien mit Stillschweigen
übergehen können; es hätte sagen können, die Entstehungsgeschichte sei nicht
eindeutig“, oder: sie finde jedenfalls „keinen hinreichenden Anhalt“ im
Wortlaut des Gesetzes. Das Reichsgericht legt aber gerade Wert darauf, dass die
Entstehungsgeschichte „für“ sein Ergebnis spricht. Darin liegt zunächst, wie
auch Finkenauer nicht verkennt, das
verdeckte Eingeständnis, dass man die Entstehungsgeschichte für ein wichtiges
Auslegungskriterium hält. Wenn man mit Finkenauer
von einer „bewusst falschen“ Verwendung der Materialien ausgeht, dann kann
man nur zu dem Schluss kommen, dass das Reichsgericht durch seine apodiktische
Indienstnahme des entstehungsgeschichtlichen Arguments Zweifel daran säen
wollte, ob das Argument wirklich für die gegenteilige Lösung spricht.
Man kann dem zu rezensierenden Band weitere allgemeine
Tendenzen entnehmen. Nicht nur lässt sich nicht, wie gezeigt, von einem Materialienkult
reden, auch andere Symptome von Gesetzespositivismus, wie etwa übertrieben
wortlautverhaftete Auslegung, sind nicht festzustellen. Schon in den ersten
Jahren setzt das Reichsgericht in zahlreichen Fällen und Fallgruppen die
methodische Figur der Analogie ein. Auffallend häufig ist die Berufung auf den
„Rechtsgedanken“ oder den „Grundgedanken“, der (angeblich) hinter einer
bestimmten Norm sich versteckt. Nichts erschiene nach alledem als verfehlter,
als die kurz nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs einsetzende
Freirechtsbewegung im Sinne eines „post hoc ergo propter
hoc“ als die spezifische Antwort auf eine durch die Kodifikation ausgelöste
positivistische Phase der Rechtsprechung zu verstehen. Freilich wäre das Thema
„BGB‑Rechtsprechung‑Freirecht“ einen
eigenen Beitrag wert gewesen. So wird es nur hin und wieder gestreift, etwa in
der wichtigen Beobachtung von Glöckner, dass der Berichterstatter im „Kies“‑Fall (RGZ 54, 98), in
dem das Reichsgericht zum ersten Mal die Lehre Staubs von der positiven
Vertragsverletzung übernahm, der Freirechtsbewegung nahe gestanden hat (S.
189).
Eine weitere, vorsichtig verallgemeinerbare Beobachtung
besteht darin, dass die Rechtsprechung gewisse Kontinuitätslinien auch in die
erste Zeit der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs hinein fortgeführt hat.
Dabei musste es sich nicht unbedingt um eine frühere gemeinrechtliche Judikatur handeln; auch Rechtsprechung zu praktisch
bedeutsamem Territorialrecht konnte eine gewisse Beharrungstendenz zu Lasten
der neuen Kodifikation begünstigen. Bemerkenswert ist namentlich, dass sich
jene Beharrungstendenz mehrfach auch in solcher Judikatur
zeigte, die wir heute als „Rechtsfortbildung“ verstehen. So berichten Zimmermann
und Verse (S. 319ff.), dass schon die
Richter der Kaiserzeit die Grundlagen für das legten, was v. Caemmerer später die „Wandlungen des Deliktsrechts“
genannt hat. Der deliktische Schutz des
eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs war in der reichsgerichtlichen
Rechtsprechung bereits vor 1900 anerkannt, ebenso wie die Rechtsprechung zu den
Verkehrssicherungspflichten an eine gewachsene Tradition gemeinrechtlicher
Rechtsprechung anknüpfen konnte. Glöckner macht für die positive
Vertragsverletzung auf einen wichtigen, lange übersehenen Umstand aufmerksam
(S. 188): Die „Kies“‑Entscheidung des
Reichsgerichts (RGZ 54, 98), in der zum ersten Mal
die Lehre der positiven Vertragsverletzung anerkannt und für ein von § 326 BGB
losgelöstes Rücktrittsrecht fruchtbar gemacht wurde, stammte vom zweiten Senat,
demselben Senat, der bis 1900 (und für Altfälle noch danach) zuständig war für
Revisionen aus den Gebieten des rheinisch‑französischen Rechts. Den
Richtern des zweiten Senats war natürlich die lex
commissoria tacita des
Art. 1184 Code civil gut bekannt und auch das typische Fallmaterial, in dem die
Vorschrift bisher zur Anwendung gekommen war. Repgen
schildert (S. 231ff.), wie der Gesetzgeber des
Bürgerlichen Gesetzbuchs auf das Versagen des Marktes bei der Wohnungsfrage
unter anderem mit Korrekturen beim Vermieterpfandrecht reagierte, indem er
gegenüber der gemeinrechtlichen Rechtslage Gegenstand und Sicherungszweck des
Vermieterpfandrechts einschränkte und das Erlöschen des Pfandrechts
vereinfachte, und wie die Rechtsprechung nicht selten die neuen gesetzlichen
Einschränkungen in altem Geiste restriktiv, d.h. vermieterfreundlich
interpretierte. Schubert (S. 293ff.) zeigt,
wie die Judikatur „auf die Rechtsprechung
insbesondere zum preußischen Recht zurückgegriffen und dabei in der
Einschränkung der §§ 635 und 638 BGB sogar eine Korrektur des Gesetzgebers
vorgenommen“ hat (S. 304). Klippel/Lies‑Benachib legen schlüssig dar, dass die
ältere Rechtsprechung insbesondere der Oberlandesgerichte im Bereich des
Persönlichkeitsschutzes die ihr vom Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs
durchaus eröffneten Chancen nicht wahrgenommen hat, sondern entgegen den
gesetzgeberischen Intentionen zu einer restriktiven Auslegung von § 823 I BGB
und damit zu einer Ablehnung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eines
„sonstigen Rechts“ gelangte, und dies in Anknüpfung an die ältere, unter dem
Einfluss der Pandektistik stehende Rechtsprechung (S.
343ff., 381). Insgesamt begünstigt wurde die
Anknüpfung an ältere Rechtsprechung (und Literatur) dadurch, dass die meisten
Kommentare zum Bürgerlichen Gesetzbuch sie in ihren Apparat aufnahmen (vgl. Mohnhaupt,
S. 495ff.).
Interessante Hinweise für einen künftigen Kodifikations‑Gesetzgeber,
der sich vornimmt, die eben geschilderten Beharrungstendenzen abzumildern,
lassen sich der Feststellung Mohnhaupts (S. 517ff.)
entnehmen, das Reichsgericht habe in der Zeit von 1896 bis zum Inkrafttreten
des Bürgerlichen Gesetzbuchs sehr häufig auf das noch gar nicht geltende
Bürgerliche Gesetzbuch Bezug genommen. Allein bei der Überprüfung der Amtlichen
Sammlung hätten sich für den fraglichen Zeitraum mindestens 59 Bezugnahmen auf
Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs gefunden ‑ und soweit erkennbar
handelte es sich dabei stets um bestätigende Bezugnahmen im Sinne eines
zusätzlichen Arguments, dass die gefundene Lösung sich künftig auch aus dem
Bürgerlichen Gesetzbuch ergeben werde. Zu konstatieren ist also eine
offenkundige und in ihren Gründen leicht nachvollziehbare Tendenz, möglichst in
Übereinstimmung mit der künftigen Kodifikation zu entscheiden. Ein künftiger
Kodifikations‑Gesetzgeber bräuchte mithin nur die Übergangsphase zwischen
Verabschiedung und Inkraftsetzung zu verlängern, um die beschriebene Tendenz zu
verstärken und zu verhindern, dass die Rechtsprechung sich auch nach
Inkrafttreten des Gesetzes an eine noch junge und deshalb besonders
„plausible“, aber dem Gesetz widersprechende Rechtsprechung klammert. Eine
Frage, die Mohnhaupt leider nicht stellt, ist die, ob das Reichsgericht in
irgendeinem Falle unter dem Eindruck des noch nicht geltenden Bürgerlichen
Gesetzbuchs seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben, modifiziert,
eingeschränkt hat.
Natürlich gibt es auch zahlreiche Beispiele, in denen die
Rechtsprechung unberührt durch die neue Kodifikation in ihren vertrauten Bahnen
weitergeführt wird, wo dies aber weder dem Buchstaben noch dem Geist des neuen
Gesetzes widerspricht, sei es, dass es sich um Anwendungsfälle einer
Generalklausel oder um Fragen, die der Gesetzgeber bewusst nicht geregelt hat,
handelt. Für ersteres steht in dem Band Falks Bericht über die
Rechtsprechung zu den Mätressentestamenten (S. 451ff.),
bei denen eine schon im 19. Jahrhundert einsetzende relativ tolerante Judikatur bis etwa 1930 fortgeführt wird, um erst dann in
jene absolut grotesken Übertreibungen zu münden, die den Bundesgerichtshof noch
bis in die 60‑er Jahre hinein beherrschten.
Nahegelegen hätte es übrigens, rein themaimmanent
gesprochen, zu fragen, ob der Erbrechtsredakteur v. Schmitt bei seiner
Ablehnung einer gesetzlichen Bestimmung über die Erbeinsetzungsfähigkeit der
Geliebten (S. 482 Anm. 137) durch die Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts
beeinflusst war und ob seine Entscheidung in den nachfolgenden Entscheidungen
eine Rolle spielte. Auch etwaige „Vorwirkungen“ der Kodifikationsarbeiten
speziell in diesem Bereich sind nicht untersucht, obwohl doch die Annahme nicht
so fern liegt, die Entscheidung beider BGB‑Kommissionen für den bloßen
Geldpflichtteil könnte in den vor 1900 ergangenen Entscheidungen zu den
Mätressentestamenten relevant gewesen sein. Ein weiteres Beispiel
„kodifikationsneutraler“ Rechtsprechungskontinuität liefert Bergfelds Überblick
über die Rechtsprechung zur Auslegung von Rechtsgeschäften (S. 625ff., 648).
Insgesamt lässt sich sagen, dass das vorgestellte Werk ein
wichtiges Forschungsthema aufgreift, zahlreiche erhellende Einzelbeobachtungen
zusammenträgt (auch in den hier nicht eigens zur Sprache gekommenen Beiträgen!)
und uns manches scheinbar wohlbekannte Rechtsinstitut des Bürgerlichen
Gesetzbuchs in überraschend neuem Lichte zeigt.
Bochum Karlheinz
Muscheler