MöhlerSchwerpunktthema20000324 Nr. 1218 ZRG 118 (2001)
Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus, hg. v. Düwell, Franz-Josef/Vormbaum, Thomas, (= Themen juristischer Zeitgeschichte 1, Juristische Zeitgeschichte Abteilung 2, Forum juristische Zeitgeschichte 1). Nomos, Baden-Baden 1998. 299 S.
Die „Juristische Zeitgeschichte“ als moderne, interdisziplinär angelegte Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor einem Jahrzehnt noch ein Thema für wenige Insider bzw. Insiderinnen, bildet momentan den Gegenstand vielfältiger Forschungsaktivitäten. Unterstützt und beschleunigt wird dieser Prozess durch den neu gegründeten Informationsverbund „Arbeitskreis Juristische Zeitgeschichte“, dessen Koordinationsstelle sich an der Fernuniversität-Gesamthochschule Hagen, Institut für Juristische Zeitgeschichte, Lehrstuhl Prof. Dr. Thomas Vormbaum, befindet (bzw. im Internet: http://www.juristische-zeitgeschichte.de). Die vom Arbeitskreis herausgegebene Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte“ umfasst sechs Abteilungen (Allgemeines, Forum, Materialien, Biographien und Werkanalysen, Rechtspolitik, Recht in der Kunst), deren jeweils aktueller Publikationsstand u.a.m. dem Internet zu entnehmen ist.
Der erste Band der zweiten Abteilung „Form Juristischer Zeitgeschichte“ widmet sich dem Schwerpunktthema „Recht und Nationalsozialismus“. Im Selbstverständniss eines „Marktplatzes“, so Thomas Vormbaum in seinem Vorwort, reflektiert dieser Band die beabsichtigte Vielfalt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem gewählten Thema: Neben organisatorischen Mitteilungen (Vorstellung des Arbeitskreises und Teilnehmerliste) und wissenschaftlichen Beiträgen bietet der Band auch Raum für die Vorstellung der „Arnold-Freymuth-Gesellschaft“ mit Sitz in Hamm, die sich dem Andenken und dem rechtspolitischem Vermächtnis eines der wenigen republiktreuen und demokratischen Juristen der Weimarer Republik, der durch den Nationalsozialismus ins Exil und den Freitod getrieben wurde, widmet. Die wissenschaftlichen Beiträge sind zum Teil Originalabdrucke, zum Teil Zweitabdrucke neueren Datums. Sie gruppieren sich um drei Themenbereiche: (Straf-)Justiz im „Dritten Reich“, Verhältnis von Recht und „Rassenhygiene“ sowie einzelne Aspekte des justiziellen Umgangs mit dem Erbe des Nationalsozialismus nach 1945. Sammelwerke zum Thema NS-Recht sind inzwischen in einer großen Zahl und in wissenschaftlicher Qualität vorhanden; insoweit bieten die einzelnen Beiträge wenig aufregend Neues. Es wird verschiedenen Aspekten der Justizgeschichte nachgegangen: Widerstand (Michael Kißener und Wolfgang Graf Vitzthum), regionale Praxis von Sondergerichten (Wolfgang Hans Stein zum Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, Friedrich-Christian Schroeder zum Land Sachsen), Berichtstätigkeit der Oberlandesgerichte (Heinz Boberach) und die Verwicklung der Justiz in die „Euthanasie“-Morde (Gernot D. Hasiba). In seinem zweiten Beitrag untersucht Heinz Boberach die Verfolgung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ durch deutsche Gerichte in Nordrhein-Westfalen 1946 bis 1949; Fazit seiner Rechtsprechungsanalyse ist, dass die bereits zeitgenössisch geäußerten Vorwürfe einer zu großen Milde und Nachsicht der Nachkriegsjustiz gegenüber den NS-Verbrechern „nicht unberechtigt“ sind. Interessant wird das Sammelwerk, wenn sich die Autoren neuen, innovativen Fragestellungen zuwenden: Dies ist der Fall beim Aufsatz von Jürgen Simon über die justizielle Rezeption des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in den 1950er Jahren im Bereich der Britischen Besatzungszone sowie bei der epochenübergreifenden Betrachtung von Andreas Roth und Birgitta Schlatmann zur „Eugenik im Recht. Die Geschichte der sogenannten Zwangssterilisation in den letzten 100 Jahren“. Nur auf diese, die politischen Zäsurdaten der neuen deutschen Geschichte relativierenden Betrachtungsweise gelingt es, Fragen der Kontinuität (und der Brüche) in der juristischen Zeitgeschichte nachzuspüren. Würde dann noch zusätzlich die rechtsvergleichende Perspektive stärker einbezogen werden, wäre die Wissenschaft einen Schritt weiter bei der differenzierten Einschätzung eines „deutschen Sonderweges“ im Bereich der Rechtsgeschichte.
Das Sammelwerk will ein Forum zum Thema „Nationalsozialismus und Recht“ bieten - dies wird in einer ansprechenden Art und Weise auch geleistet. Was die angestrebte Interdisziplinarität der Juristischen Zeitgeschichte angeht, so ist es damit aber anscheinend noch nicht weit gekommen. Zwar kann die Wissenschaft von der „Rechtsgeschichte“ nicht mehr synomym mit dem Begriff „Rechtsdogmen“-Geschichte beschrieben werden; es ist jedoch frappierend, dass sich unter den Autoren des Sammelwerkes zwar elf Rechtswissenschaftler und Richter bzw. Richterinnen, aber nur fünf Historiker bzw. Historikerinnen befinden, von denen wiederum drei als Archivar bzw. Archivarinnen tätig sind. Trotzdem ist aber festzuhalten, dass die einzelnen Beiträge das stark gewandelte Bild einer modernen Rechtsgeschichte widerspiegeln.
Saarbrücken Rainer Möhler