LacourLind20000616
Nr.10091 ZRG 118 (2001)
Lind,
Vera, Selbstmord in der
frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der
Herzogtümer Schleswig und Holstein (= Veröffentlichungen des
Max-Planck-Instituts für Geschichte 146). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
1999. 518 S.
Der
Schwerpunkt dieser Göttinger Dissertation liegt im Wandel der Einstellungen zur
Selbsttötung „in Theorie und Praxis“ (S. 14). Selbstmord wurde in der frühen
Neuzeit in der Landesgesetzgebung - nicht in der Carolina - zu einer strafbaren
Handlung; im 16. und 17. Jahrhundert verfestigte sich seine Kriminalisierung.
Auch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren aufklärerische Gedanken zu
seiner Straflosigkeit als Akt menschlicher Willensfreiheit noch nicht breit akzeptiert.
In Philosophie und Theologie hielten sich orthodoxe Auffassungen des Suizids
als unmoralische Tat, als dreifache Todsünde gegen Gott, Gesellschaft und die
eigene Person, ausgenommen im Falle nachweislicher melancholischer Verwirrung.
In strafrechtlichen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts wurden Selbstmörder bzw.
Selbstmörderinnen dagegen allgemein als unzurechnungsfähig angesehen. In der
Praxis der Gesetzgebung vollzog sich am Ende des Jahrhunderts die Trennung von
Recht und Moral. Lediglich das Preußische Allgemeine Landrecht kehrte 1794 zu
Strafen für Delinquenten zurück, die sich durch die eigene Tötung einer
Bestrafung zu entziehen suchten, Strafen also, die nach dem Edikt Friedrichs
II. von 1751 bereits abgeschafft waren. Verschiedene ältere Stadt- und
Landrechte der Herzogtümer Schleswig und Holstein hatten grundsätzlich allen
Suizidenten ein ehrenhaftes Begräbnis verwehrt, auch den von der Kirche als
unzurechnungsfähig Angesehenen. Am Ende des 18. Jahrhunderts schrieben die
Gesetze vor, solche Leichname in bestimmten Fällen den Anatomen der Kieler
Universität zur Verfügung zu stellen, 1796 schließlich ausnahmslos. Erst der
Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1808 erwähnte den Selbstmord nur noch mit
der Randbemerkung, dass sich keine „zweckmäßige Strafe ersinnen“ lasse, die
nicht die Familie treffe (S. 73).
Die
medizinische Debatte setzte spät ein; im letzten Drittel des 18. Jhahrhunderts
wurde der Suizid zu einem „neudefinierten“ Krankheitsbild (S. 85). Vera Lind
bezeichnet die Entwicklung als einen durch Entkriminalisierung und
Pathologisierung gekennzeichneten Transformationsprozess, „in dessen Folge
sich die moderne medizinisch-psychologische (...) Interpretation des
Selbstmords durchsetzte“ (S. 151).
Vielen
Melancholikern wurde auf Bitten der Angehörigen im 17. und beginnenden 18.
Jahrhundert ein stilles Begräbnis auf dem Kirchhof gewährt, Personen höheren
Standes sogar ein „normales“. Die theoretisch geforderte strenge Bestrafung
wurde nicht konsequent durchgesetzt. Treibende Kraft waren die Hinterbliebenen.
Theologische Dogmen machten „in der Praxis einer verständnisvollen und (...)
undogmatischen Haltung Platz“ (S. 412): Die zu Rate gezogenen Pastoren
bescheinigten großzügig Unzurechnungsfähigkeit aufgrund von Melancholie infolge
teuflischen Einflusses. Um die Jahrhundertmitte - die theoretische Debatte in
Deutschland hatte sich noch nicht voll entfaltet - wurde dann das stille,
ehrliche Begräbnis entgegen der Anordnung der immer noch geltenden alten
Gesetze fast zur Regel. Anstelle der Beurteilung der Pastoren wurden nun
Gutachten von Ärzten entscheidend. Die Reaktionen der Nachbarn und Verwandten
erweisen, dass etwa seit derselben Zeit religiöse Bedenken und Vorhaltungen
hinter der Sorge um das körperliche und seelische Wohlergehen der Betroffenen
zurücktraten. Im Gegensatz zum gelehrten Diskurs blieben „die Einstellungen der
ländlichen Bevölkerung nicht starr“ (S. 300). Am Ende des Jahrhunderts machten
sich die Vertreter der lokalen Untergerichte gar zu „ambitionierten, »menschenfreundlichen«
Fürsprechern der vor dem Gesetz noch immer kriminellen Selbstmörder und
Selbstmörderinnen und deren Familien“ (S. 363). Selbstmordversuche wurden nach
1780 nicht mehr - wie vorher - streng bestraft; die medizinische Behandlung
stand im Vordergrund: insgesamt „eine erhebliche Kluft zwischen Theorie und
Praxis“ (S. 465).
Etwa
ein Drittel der Suizide im frühneuzeitlichen Schleswig und Holstein wurden von
Frauen verübt - ein Anteil, der weiblichen Selbsttötungen auch heute über
verschiedene Kulturen hinweg zukommt. Während sich die Hälfte der Frauen
ertränkte, wählte nur rund ein Viertel der Männer diese Todesart, 37,5%
erhängten sich. Adlige bedienten sich ihrem Stand gemäß ihrer Pistolen und
Degen. In demographischer Hinsicht waren alte Männer, unter den Berufsgruppen
Handwerker offenbar überproportional vertreten.
Lind unterscheidet anhand der subjektiven
Erklärungen der Betroffenen verschiedene Typen: Krankheit, Eingebung des
Teufels, religiöse Melancholie und im späteren 18. Jahrhundert auch persönliche
Konflikte. Eine typisch frühneuzeitliche und von der Religion hervorgerufene
Variante ist der „verdeckte“ Selbstmord, bei dem ein Suizidaler einen Mord
beging, den er dann noch auf Erden büßen konnte, um als reuiger „armer Sünder“
hingerichtet zu werden. Der Lebensmüde konnte so der sicheren Verdammnis seiner
Seele entgehen, welche der Selbstmord seit dem Mittelalter nach christlicher
Lehre unausweichlich nach sich zog, und eines „guten“ Todes sterben.[1]
Die holsteinische Obrigkeit reagierte im Jahr 1767 auf diese Art zu morden, um
selbst getötet zu werden, durch eine Verordnung, nach der Täter „zur Staupe
geschlagen und an der Stirne gebrandmarkt und nachhero in Eisen geschmiedet,
auf Lebenszeit eingesperret, und (...) zu der schimpflichsten und
verächtlichsten Arbeit angehalten“ und „alle Jahr einmal an einem Markttage
(...) in scheuslichem Aufzuge, mit entblößtem Haupte, fliegenden Haaren und mit
einem Stricke um den Hals, mit (...) einem Brette vor der Brust mit der
Aufschrift: Mörder oder Mörderin an einem unschuldigen Kinde oder Menschen, auf
der Schinderkarre durch die Stadt“ gefahren werden sollten (S. 62).
Die
Betroffenen deuteten ihre Empfindungen als von außen eingegeben. Sie fühlten
sich selbst nicht als Urheber ihrer Stimmungen und verfügten über keine
Erklärung für das, was in ihnen vorging. Diese „allgemeine Wahrnehmungs- und
Sprachlosigkeit hinsichtlich (...) des Selbstmordwunsches“ bewertet Vera
Lind als Verdrängung: Die Ursache sei „ein kulturell vorgegebenes
Wahrnehmungstabu“ (S. 187). Die Tat sei von kirchlicher, obrigkeitlicher und
gesellschaftlicher Seite als so verwerflich betrachtet worden, dass zum
Selbstschutz eine „innere Blockade“ ausgelöst worden sei. Dieser Sachverhalt
wird freilich nirgends schlüssig nachgewiesen, sondern einfach unterstellt. In
ihren Einzelfallanalysen ist Vera Lind zu spekulativ, zu wenig klar und
präzise, als dass sie ernst zu nehmende Schlüsse hinsichtlich der psychischen
Verfassung ihrer Subjekte ziehen könnte. Anstatt herauszuholen, was in ihnen steckt,
wird in die Fälle „hineininterpretiert“. Vor allem hantiert sie unreflektiert
und nicht überzeugend mit psychoanalytischen Aussagen, ohne sich der Diskussion
zu stellen, ob sich dieses Verfahren zur Interpretation frühneuzeitlicher Texte
überhaupt eignet. Die Psychohistorie ist schließlich alles andere als
unumstritten.[2] Die
diagnostizierte Schweigsamkeit und Passivität dem eigenen Innenleben gegenüber
ist nämlich keineswegs nur für Selbstmörder bzw. Selbstmörderinnen typisch,
vielmehr auch in anderen Fällen zu beobachten. Allgemein wurde Böses bis zur
„Culpabilisation“ von den bäuerlichen Schichten als von außen eingegeben
betrachtet;[3]
nicht nur die Täter, sondern alle Beteiligten schwiegen sich in
frühneuzeitlichen Kriminalfällen über ihre Motive aus.[4]
Anschau Eva
Lacour
[1] Dass die Religion spezifische „Heilsängste“ - also zusätzliche Ängste - erzeugen konnte, hat jüngst auch Irmgard Wilhelm-Schaffer nachgewiesen in: Gottes Beamter und Spielmann des Teufels. Der Tod in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 1999.
[2] Siehe Aaron J. Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen Mittelalter. München 1994, S. 189.
[3] Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt 1991, S. 97ff., 311f.
[4] Rainer Beck, Frauen in Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien Régime, in: Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung, hg. v. Richard van Dülmen. Frankfurt 1992, S. 145; Eva Lacour, Schlägereyen und Unglücksfälle. Zur Historischen Psychologie und Typologie von Gewalt in der frühneuzeitlichen Eifel. Egelsbach 2000, S. 85ff.