KüperBriefwechsel20000825 Nr. 10106 ZRG 118 (2001)

 

 

Briefwechsel Karl Josef Anton Mittermaier – Rudolf von Gneist, hg. v. Hahn, Erich J. (= Ius Commune Sonderheft 132). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. X, 176 S.

Die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Karl Josef Anton Mittermaier (1787 ‑ 1867) und Rudolf von Gneist (1816 ‑ 1895) ist der Auftakt eines Großen Editionsvorhabens, das den gewaltigen Bestand an erhalten gebliebener Mittermaier‑Korrespondenz jedenfalls in „signifikanten Teilen“ im Druck zugänglich machen soll[1]. Bekanntlich korrespondierte Mittermaier unermüdlich und äußerst vielseitig, sozusagen in alle Richtungen der zivilisierten Welt. In einem 1921 gehaltenen Vortrag zu seinem Gedächtnis beklagte der Enkel Wolfgang Mittermaier (1867 ‑ 1956), Strafrechtslehrer in Gie­ßen, daß die Briefe des Großvaters „leider nur in geringer Zahl gesammelt“ worden seien, und er gab den Hörern zugleich einen Eindruck davon, wie man sich K. J. A. Mittermaier als Briefschreiber vorzustellen habe[2].

„Besonders tätig war Mittermaier als Sammler von wissenschaftlichem Stoff. Und bis in die letzten Tage blieb er lernbegierig und suchte Erfahrungen zu sammeln. Er hat natürlich, wie wir alle es tun, Bücher ausgeschöpft... Aber er wollte aus dem Leben selbst schöpfen, und so suchte er das Urrnate­rial, durchforschte die Praxis, sammelte Zahlen und Erfahrungen, so daß man seine Art die eines Naturforschers nannte. Das forderte, daß er zu Vielen Beziehungen hatte, und Hunderte, ja Tausende sandten ihm Stoff zu. Aus der ganzen Welt kamen Berichte, die er in seinen Vorlesungen wie in seinen Schriften verwertete. Ging ein Bekannter ins Ausland, mußte er ihm Material, Parlamentsbe­richte, Statistiken, Gerichtsberichte mitbringen. Immer wieder werden Sammlungen dieser Art aus Neapel, Rom, Paris, London erwähnt. Daher der geradezu überwältigende Briefwechsel, an dem die höchsten Gelehrten aller Kulturstaaten ... teilnahrnen. Aber ebenso gaben ihm einfache Gerichtsbe­amte Auskunft, und er fragte auch Mediziner, Geistliche, Politiker, Männer aller Art, und erweiterte so seinen Gesichtskreis. Noch aus den letzten Tagen sind Briefe da, in denen er um Auskunft über die Todesstrafe und Schwurgerichte bat. Es ist kaum faßbar, wie der viel Beschäftigte diesen Briefwechsel bewältigte. Seine Feder flog über das Papier; in den letzten Jahren entstanden die merkwürdigsten Hieroglyphen, die wohl oft Seufzer und Kopfschütteln des Empfängers hervorriefen ... Und der Gelehrte schrieb englisch, französisch und italienisch, so daß seine Freunde bewundernd solche Briefe abdruckten.“

Der Nachlaß Mittermaiers bzw. Gneists enthält eine Korrespondenz zwischen beiden Juristen, die aus insgesamt 65 Briefen besteht. Zum weitaus größeren Teil handelt es sich um Mitteilungen Gneists an Mittermaier: 45 Briefe (wenn man diejenigen der Gattin Marie Gneist mitrechnet); 20 Briefe sind von Mittermaier an den um nahezu dreißig Jahre jüngeren Gneist gerichtet. Der noch erhaltene Briefwechsel hat also erhebliche Lücken ‑ für 28 Briefe fehlen Vorgang und Antwort ‑, ist jedoch wiederum nicht durchweg lückenhaft, sondern in Teilen vollständig überliefert. Die Korrespondenz erstreckt sich über zwei Jahrzehnte, von 1847 bis in Mittermaiers Todesjahr 1867. Nach einer „Pause“ im Revolutionsjahr 1848/49 besteht seit Ende 1850 bis Anfang 1852 ein relativ reger Austausch, der sich später in einem eher lockeren und sporadischen Briefwechsel fortsetzt. Mittermaier hat alle Briefe in seiner berüchtigt hastigen, schwer entzifferbaren Handschrift selbst zu Papier gebracht[3], mit Ausnahme des letzten Briefes vom 11. 8. 1867, den der 80jährige kurz vor seinem Tod diktierte und noch eigenhändig unterschrieb. Gneists Briefe an Mittermaier sind (wohl) überwiegend einem Schreiber diktiert, z. T. auch in seiner feinen, deutlichen Handschrift verfaßt[4].

Die Initiative zu der Korrespondenz ist offenbar von Mittermaier ausgegangen, mit einem ‑ nicht mehr auffindbaren ‑ Brief vom 10. 5. 1847, in dem Mittermaier Gneist für die 1847 gegründete „Deutsche Zeitung“ um Beiträge bat, die Gneist dann vorsichtig‑verklausuliert zusagte. Bereits in sei­nem Antwortschreiben vom 10. 6. 1847, dem ersten Brief dieser Sammlung, klingen zentrale Sachthe­men der folgenden Korrespondenz an. Gneist schreibt an den „Hochgeehrtesten Herrn Geheimen Rath“ und „Vater der deutschen Justizreformen“, dem er eingangs den „aufrichtigsten Dank“ ausspricht „für die fortlaufende unersetzliche Belehrung, welche ich, sowie alle Prozessualisten und Kriminalisten, Ihnen zu verdanken habe“, u. a.:

„In einem glücklichen Wirkungskreise als Universitätslehrer und bei dem Geheimen Obertribunal beschäftigt, habe ich zwar noch nicht mit einer schriftstellerischen Arbeit über Kriminalrecht und Prozeß zum Abschluß kommen können, hoffe indessen, binnen Jahr und Tag mit einer Schrift über die Kriminalprozeß‑Reformen zu Stande zu kommen. Nach langem Schwanken, und namentlich durch die Anschauung der französischen Rechtszustände irre gemacht, bin ich erst jetzt nach mehr­maligem Aufenthalt in England ein unbedingter Anhänger des Geschworenengerichts geworden, und werde versuchen, seine Nothwendigkeit für späteren Generationen nicht blos aus dem Wesen des Beweises in Kriminalsachen nachzuweisen, sondern im Detail auf die zweifelhaften Fragen eingehen, welche in der Thatfrage der einzelnen Verbrechen enthalten sind. Mit Rücksicht auf die gro­ßen Fortschritte der Strafgesetzgebung und den immer lebendiger hervortretenden politischen Sinn im deutschen Staatsbürgerthum hege ich die Hoffnung, daß die Entscheidung über Schuld oder Un­schuld auch bei uns sehr bald mit voller Sicherheit schlichten Bürgern anvertraut werden könne: und ich sehe zu meiner großen Freude, daß in meinen nächsten Umgebungen sehr tüchtige Richter des öffentlich‑mündlichen Verfahrens zu derselben Ansicht hinneigen ...“

Gneist hat das angekündigte Buch über „Kriminalprozeß‑Reformen“ nicht veröffentlicht, wohl aber ‑ zwei Jahre später ‑ eine Schrift zur Schwurgerichtsfrage[5], die er Mittermaier zusandte. Aufgrund sei­ner Beobachtungen in England, das Gneist mehrfach bereiste und dessen „freie Luft“ er „trotz Kohlenrauchs und Nebels“ für „noch immer die beste auf dem Kontinent“ hielt (Brief vom 24. 8. 1851), bevorzugte Gneist das britische Schwurgerichtsverfahren. Dem französisch‑rheinischen Modell, das Preußen 1849 auf die östlichen Provinzen ausdehnte, stand er sehr skeptisch gegenüber. Mittermaier hat in der Schwurgerichtsfrage, einer der rechtspolitischen Hauptfragen der Epoche, bekanntlich mehrfach die Fronten gewechselt, bevor er 1847 (Lübecker Gerrnanistentag) zum „endgültigen Anhänger“ des Ge­schworenengerichts wurde[6]. In diese Zeit fällt sein Brief vom 25. 12. 1847 an Gneist, in dem es u. a. heißt:

„In Bezug auf das Geschwornengericht habe ich aus Amerika und England neue wichtige Bestäti­gungen meiner Ansicht über den Werth der Jury. Ich will aber nur eine auf der Grundlage der engli­schen Jury eingerichtete. Täglich wird es mir klarer, daß mit dem mündlichen Strafverfahren Ent­scheidungsgründe und zweite Instanz unverträglich sind.“

Freilich schreibt Mittermaier dann am 10. 11. 1849 auch:

„Ich habe mich im vorigen Herbst in Frankreich bei Männern verschiedener Farbe über die Wirkung des neuen französischen Jurygesetzes erkundigt und erfahren, daß man keine Nachtheile bemerkte ...“

Auch in seinem Brief vom 6. 10. 1851 spricht Mittermaier die Schwurgerichtsfrage an:

„In der Schweiz erkannte ich wieder klar, daß das Geschwornengericht, wenn es gut wirken soll, gewisser politischer und sittlicher Voraussetzungen bedarf. In Bern werden die Geschwornen von dem Volk direkt gewählt; aber wie traurig! Jede politische Parthei wählt nur ihre Gesinnungsgenos­sen, die sich dann feindlich entgegenstehen. Daher kommt es, daß in manchen Kantonen ... das Volk nichts von Geschwornen wissen will. ‑ Merkwürdig war nur, daß in Rheinbayern viel mehr Ordnung, Ruhe und Vertrauen zurückkehren, als bei uns der Fall ist. Die vielen Freisprechungen der politischen Angeklagten, und zwar durch Geschworne, die die Regierung mit der größten Vorsicht aus den conservativsten Bürgern auswählte, wirken zur Versöhnung der Partheien, weil die Libera­len erkennen, daß die, obgleich konservativen Geschwornen sie nicht verfolgen.“

In solchen Äußerungen über Erkundigungen und Beobachtungen, die man in der Korrespondenz häufiger antrifft, wird etwas von der „empirischen Methode“ sichtbar, die Mittermaier in der Schwurgerichtsfrage geleitet hat. Gegen Ende des Briefwechsels bringt er diese Methode anläßlich der Zusen­dung seiner Aufsatzreihe „Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Europa und Ame­rika“ geradezu auf den Begriff, wenn er am 23. 1. 1865 an Rudolf Gneist schreibt:

„Ich darf wenigstens glauben, daß das Werk der erste Versuch ist, auf dem Wege sorgfältig gesammelter Erfahrungen eine praktische Grundlage für die Verständigung über Verbesserung der Schwurgerichte zu finden.“

Indessen geht es in dieser langjährigen Korrespondenz nicht allein um Fragen des Geschworenengerichts und der Prozeßreformen. Gegenstand des Briefwechsels sind nicht zuletzt auch die allgemeinen politischen Zustände in Baden, Preußen und in Deutschland überhaupt. In einem Brief vom 9. 12. 1850 fügt Mittermaier der Klage über familiäre Sorgen und sein „gar einsames Leben“ hinzu:

„Noch tiefer aber drücken mich die öffentlichen Zustände herab; ich sehe, wie man ... wieder alles zurückschrauben will, jeden Gedanken an deutsche Einheit zerstört, die mühsam erworbenen Frei­heiten durch Ausnamsgesetze vernichtet, dem konstitutionellen Leben Hohn spricht und, wie es scheint, den Ausspruch des Kaisers von Rußland über das System zur Wahrheit machen will. Es sieht ganz schlecht aus und keine Hoffnung des Besserwerdens. Wo ist eine Aussicht? ... Bei uns bemühen sich Regierung und Krone, den Polizeistaat wieder hübsch aufzustutzen und die Vereins‑, Versammlungs‑ und Preßgesetze mit so vielen Einschränkungen zu versehen, daß die Ausnamen die Regel sind. Wann wird man auch in Deutschland gescheid werden und einsehen, daß alle Bewegun­gen der Freiheit gefahrlos sind, wenn die Regierung ehrlich ist und die Fanatiker der Ruhe und Ordnung die Hände nicht in den Schoß legen, sondern mit ehrlichen Waffen kämpfen für freie Entwickelung; allein die Leute werden nicht gescheid ...“

In Berlin erwartete Gneist von Jahr zu Jahr das Ende der preußischen Reaktion. In seinem Brief vom 8. 1. 1855 rechnet er mit einer Spaltung ihrer gesellschaftlichen Basis, des „Beamten-“ und „Junkertums“, während er das Bürgertum für „längst aufgeklärt“ hält:

„In Politicis bereitet sich hier durch das vortreffliche Debüt unserer Junkerkammer eine Spaltung vor, in der das Beamtenthum Lebenszeichen von sich geben wird gegen kleinliche Junkerprätensio­nen. Die Bourgeoisie ist längst aufgeklärt, hat aber keinen Muth herauszutreten. Die Demokratie ar­beitet an ihrer Selbstbelehrung in der Stille ...“

Doch sollte dieser Eindruck trügen. Im Spätjahr 1855 erbrachten die Kammerwahlen ‑ unter dem massiven Druck der Regierung ‑ eine überwältigende konservative Mehrheit. Gneist kommentiert dies in seinem ausführlichen Brief vom 11. 10. 1855, in dem es u. a. heißt:

„Was helfen uns die liberalen Wahlen in den Städten, wenn das Land massenweis Junker und Land­räthe wählt... Man hat Schulzen, und die Schulzen haben Junker gewählt ... Die nächste Kammer wird mehr als 180 adlige Rittergutsbesitzer und reine Verwaltungsbeamte zählen, welche schon die Majorität für jeden Regierungsvorschlag im reaktionären Sinn von vornherein fertig machen. Und in diesen Landräthen und Staatsanwälten, die ich zum sehr großen Theil als ehemalige Zuhörer kenne, steckt jetzt eine Bedientenhaftigkeit gegen die Junkerinteressen, die dem früheren Servilismus ge­gen eine absolute Regierung nichts nachgießt. Trotz meiner persönlichen Toleranz bin ich immer in Versuchung, diesen konservativen Grünschnäbeln, die alle durch Schreien Präsidenten werden möchten, den Rücken zu kehren, wo ich Ihnen begegne. Je mehr es mir klar wird, daß alle konstitutionellen Formen nur durch eine einheitliche regierende Klasse getragen werden, und auf eine solche zurückführen, um so schwerer wird es mir zu glauben, daß aus dem Materialismus dieser muth­und charakterlosen Ritter, Großhändler und Fabrikanten jemals ein konstitutionelles Regime her­vorgehen könne ...“

Zu Beginn der „neuen Ära“ wurde Gneist 1858 in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt (dem er bis 1893 angehörte). Im Verfassungskonflikt (1862‑1866) trat er als einer der Oppositionsführer gegen Bismarck hervor. Die kurzen Bemerkungen in seinen Briefen vom 21. 6. 1863 und 11. 1. 1865 gehören in diesen Zusammenhang. Gneists Wendung auf die Bismarck'sche Linie (1866) hat in der Korrespondenz nur mehr undeutlichen Niederschlag gefunden. Zeigte Mittermaier zu Beginn des Jahres 1865 noch Verständnis für Gneists schwierige politische Stellung angesichts des „völlig unconstitutionellen Zustands“ in Preußen (Brief vom 23. 1. 1865), so ist aus den milden Formulierungen des vorletzten Mittermaier‑Briefes (31. 12. 1866) ein kritischer Unterton herauszuhören:

 

"Ich hätte Vieles auf dem Herzen, was ich mit Ihnen besprechen möchte. Allein ich komme dann leicht auf die leidige Politik und fürchte mich, mit alten Freunden zu streiten ... Oft denke ich an Sie und  ‑ verzeihen Sie ‑ beklage Sie, indem ich mich in Ihre oft widerliche und peinliche Lage versetze, Ihre Überzeugung mit der Rücksicht auf die einmal bestehenden Verhältnisse zu vereinigen ... Wenn wir auch über Politik nicht ganz einig sind, so darf ich doch bitten, mich wie bisher lieb zu behalten."

Mittermaier und Gneist hatten einander spätestens im Sommer 1850 in London auch persönlich kennengelernt, wo sie sich während mehrerer Wochen häufig trafen. Gneist war damals noch außerordentlicher Professor in Berlin und las seit seiner Habilitation 1839 mit wachsendem Erfolg u. a. über Pandekten, preußisches Privatrecht, Zivilschaft und Geschworenengerichte. Als Richter am Obertribunal war er 1849 ausgeschieden (vgl. Brief vom 2. 12. 1850); erst 1858 erhielt er das ersehnte Ordinariat, nachdem der erste Band seines großen Hauptwerks über das englische Verfassungs‑ und Verwaltungsrecht erschienen war und sich die Aussicht auf einen auswärtigen Ruf abzeichnete. „Wie der Dachs im Winter von seinem Fette zehrt“, schreibt Mittermaier am 9. 12. 1850, so zehre er an trüben Tagen von den Erinnerungen an die mit Gneist in London verlebten Stunden. Für den Sommer 1851 war eine gemeinsame Englandreise geplant, die Mittermaier wegen des Kriegszustandes in Baden jedoch absagen mußte (Brief vom 3. 8. 1851). Zwischen den beiden Männern entwickelte sich, über den großen Altersabstand hinweg, bald ein Verhältnis freundschaftlicher Vertrautheit, und so erfährt man aus dem Briefwechsel zugleich manches über die privaten Lebensumstände der Korrespondenten. „Sachliche“, Wissenschaft, Politik und Lehre betreffende Mitteilungen gehen bisweilen unmittelbar in „persönliche“ über.

Noch unsicher über die künftigen Schwerpunkte seiner Forschungen sandte Gneist am 8. 4. 1853 seine Schrift „Adel und Ritterschaft in England“ an Mittermaier; er bat ihn um sein Urteil, „ob ich nach Maaßgabe diese Probe mit einer zusammenhängenden Darstellung des Constitutional Law vorgehen soll, und zwar in zwei gesonderten Schriften, die erste über das heutige englische Staatsrecht, die zweite über die Geschichte der englischen Verfassung“. Mittermaier ermutigte Gneist durch die freudig registrierte „zustimmende Beurtheilung“ jener „englischen Broschüre“ (Brief Gneists vom 2. 1. 1854) zu weiterer Arbeit und erhielt im Frühjahr 1857 dann die Gneist'sche „Schwergeburt“ des ersten Bandes über das englische Verfassungs‑ und Verwaltungsrecht (Brief vom 31. 3. 1857).

Mittermaier wäre im übrigen nicht der leidenschaftlich‑rastlose Sammler von wissenschaftlichem „Stoff'“ und „kostbaren Materialien“ gewesen, wenn er seine Beziehungen zu Gneist nicht auch in dieser Hinsicht genutzt hätte. So bat er etwa Gneist, in England die neuesten Gesetze und Parlamentsberichte, Statistiken und rechtshistorische Werke zu besorgen; zuweilen brauchte er Ähnliches aus Berlin. Als Gegengabe schickte Mittermaier immer wieder Veröffentlichungen, Gesetzesvorlagen, Parlamentaria, auch seine in rascher Folge erscheinenden eigenen Werke. Gneist bewundert Mittermaiers überwältigende Produktivität:

„Es würde mir eine solche Beherrschung des immensen Stoffes unbegreiflich sein, wenn ich mich nicht erinnerte, welches Fundament eine unermüdliche Thätigkeit seit einem halben Jahrhundert für solche Arbeiten sein muß. Was ich aber dennoch kaum begreife, ist die Schnelligkeit der Verarbeitung und die Fruchtbarkeit einer Thätigkeit, mit der Sie stets fertig mitten in der Gegenwart stehen und alle jüngeren Arbeitskräfte überflügeln und beschämen. Ich begreife das um so weniger, als mein schwerfälliges nordteutsches Temperament an viel kleineren Aufgaben Jahre laboriert, während Ihre Jugendkraft jährlich neben großen Werken immer noch in Vorlesungen und werthvollen Spezialabhandlungen soviel leistet, wie die meisten Universitätslehrer überhaupt zu Stande bringen. Steckt dabei nicht ein Theil des Geheimnisses in dem glücklichen süddeutschen Naturel?“ (Brief vom 24. 5. 1857)  ‑ „Bei mir ist ein Buch überhaupt eine solche Schwergeburt, daß, wenn mir der Setzer nicht auf den Hacken sitzt, ‑ es nie zum Vorschein kommt.“ (Brief vom 24. 11. 1856)

Gegenstand mehrerer Briefe aus den 60er Jahren ist der „große Polenprozeß“, der 1864 vor dem Staatsgerichtshof in Berlin stattfand. Gneist war damals einer der Verteidiger der etwa 150 Angeklagten, überwiegend preußischer Untertanen polnischer Herkunft. Sie wurden des Hochverrats gegen Preußen beschuldigt, weil sie angeblich von Posen aus den Warschauer Aufstand gegen Rußland in der Absicht unterstützt hatten, den polnischen Staat von 1771 wiederherzustellen und damit die ehemals polnischen Landesteile vom preußischen Staatsgebiet abzutrennen. Gneists Brief vom 7. 8. 1864 (mit ausführlicher Anlage) schildert den Sachverhalt, den Gedankengang der Anklage und die Beweislage. Zu den rechtlichen Fragen, bei denen es u. a. um die Auslegung von Bestimmungen des preußischen Strafgesetzbuchs (1851) ging, bittet er Mittermaier um „gütige Belehrung“, ohne ihn mit der „trübseligen Lectüre“ der gigantischen Anklageschrift behelligen zu wollen. Mittermaier, der die Anklageschrift freilich schon besitzt und die Verhandlungen in der Presse verfolgt, erteilt trotz „schwer angegriffener Gesundheit“ in knapper Form sogleich den gewünschten Rechtsrat (12. 8. 1864), auf den Gneist in seinem Plädoyer zurückgreifen konnte.

Der Herausgeber, Verfasser einer Monographie über Rudolf Gneist[7], hat den reichhaltigen Briefband mit einer ausführlichen Einleitung (S. 2ff.), einer Bibliographie (S. 163ff.) sowie einem Personen‑ und Sachregister (S. 171ff.) versehen. Seine kenntnisreichen Anmerkungen zu den einzelnen Briefen enthalten eine Fülle ergänzender und erläuternder Hinweise, für die der Leser besonders dankbar ist. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß die Entzifferung der Mittermaier‑Briefe schon eine Leistung für sich darstellt. In der Einleitung wird für den „neuen Stand der Forschung über Mittermaier“ auf die beiden von mir 1986/87 herausgegebenen Sammelbände[8] hingewiesen. Insoweit wären freilich manche Ergänzungen notwendig[9].

Heidelberg                                                                                                        Wilfried Küper



[1] Vgl. dazu näher die Vorbemerkungen zur Gesamtedition von B. Dölemeyer/A. Mazzacane, S. VIIff.

[2] W, Mittermaier, Karl Joseph Anton Mittermaier als Persönlichkeit, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 43 (1922) 167 ff (171 f); wieder abgedruckt in: W. Küper (Hg.), Heidelberger Straf­rechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986, S.53ff. (57f.).

[3] Faksimile des Briefes vom 6. 10. 1851 in diesem Band, S. 24ff.

[4] Faksimile des Briefes vom 25. 9. 1851 S. 18ff.

[5] Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland, 1849.

[6] Dazu neuerdings materialreich und instruktiv A. Koch, Carl Joseph Anton Mittermaier und das Schwurgericht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), 167ff.

[7] E. J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816 ‑ 1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, 1995.

[8] Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986; Carl Joseph Anton Mittermaier, Symposium 1987 in Heidelberg, Vorträge und Materialien.

[9] Vgl. z.B. M. Hettinger, Carl Joseph Anton Mittermaier (1787 ‑ 1867) ‑ Jurist zwischen zwei deutschen Rei­chen oder: auf der Suche nach einem neuen gemeinen Recht, in: ZRG Germ. Abt. 107 (1990) 433 ff; A. Koch (o. Anm. 6) mit Hinw. in Fußn. 2, 3; S. W. Neh, Die posthumen Auflagen von Feuerbachs Lehrbuch. Zu den Konzeption C.J.A. Mittermaiers und seinem Wissenschaftsverständnis, 1991 (dazu W. Küper, ZRG Germ. Abt. 111, ] 994, 706 fit).