KüperBriefwechsel20000825
Nr. 10106 ZRG 118 (2001)
Briefwechsel Karl Josef Anton Mittermaier – Rudolf von
Gneist, hg. v. Hahn, Erich J. (= Ius Commune Sonderheft 132).
Klostermann, Frankfurt am Main 2000. X, 176 S.
Die
Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Karl Josef Anton Mittermaier
(1787 ‑ 1867) und Rudolf von Gneist (1816 ‑ 1895) ist der
Auftakt eines Großen Editionsvorhabens, das den gewaltigen Bestand an erhalten
gebliebener Mittermaier‑Korrespondenz jedenfalls in „signifikanten
Teilen“ im Druck zugänglich machen soll[1]. Bekanntlich
korrespondierte Mittermaier unermüdlich und äußerst vielseitig,
sozusagen in alle Richtungen der zivilisierten Welt. In einem 1921 gehaltenen
Vortrag zu seinem Gedächtnis beklagte der Enkel Wolfgang Mittermaier
(1867 ‑ 1956), Strafrechtslehrer in Gießen, daß die Briefe des
Großvaters „leider nur in geringer Zahl gesammelt“ worden seien, und er gab den
Hörern zugleich einen Eindruck davon, wie man sich K. J. A. Mittermaier
als Briefschreiber vorzustellen habe[2].
„Besonders tätig war Mittermaier als Sammler von
wissenschaftlichem Stoff. Und bis in die letzten Tage blieb er lernbegierig und
suchte Erfahrungen zu sammeln. Er hat natürlich, wie wir alle es tun, Bücher
ausgeschöpft... Aber er wollte aus dem Leben selbst schöpfen, und so suchte er
das Urrnaterial, durchforschte die Praxis, sammelte Zahlen und Erfahrungen, so
daß man seine Art die eines Naturforschers nannte. Das forderte, daß er zu
Vielen Beziehungen hatte, und Hunderte, ja Tausende sandten ihm Stoff zu. Aus
der ganzen Welt kamen Berichte, die er in seinen Vorlesungen wie in seinen
Schriften verwertete. Ging ein Bekannter ins Ausland, mußte er ihm Material,
Parlamentsberichte, Statistiken, Gerichtsberichte mitbringen. Immer wieder
werden Sammlungen dieser Art aus Neapel, Rom, Paris, London erwähnt. Daher der
geradezu überwältigende Briefwechsel, an dem die höchsten Gelehrten aller
Kulturstaaten ... teilnahrnen. Aber ebenso gaben ihm einfache Gerichtsbeamte
Auskunft, und er fragte auch Mediziner, Geistliche, Politiker, Männer aller
Art, und erweiterte so seinen Gesichtskreis. Noch aus den letzten Tagen sind
Briefe da, in denen er um Auskunft über die Todesstrafe und Schwurgerichte bat.
Es ist kaum faßbar, wie der viel Beschäftigte diesen Briefwechsel bewältigte.
Seine Feder flog über das Papier; in den letzten Jahren entstanden die
merkwürdigsten Hieroglyphen, die wohl oft Seufzer und Kopfschütteln des
Empfängers hervorriefen ... Und der Gelehrte schrieb englisch, französisch und
italienisch, so daß seine Freunde bewundernd solche Briefe abdruckten.“
Der Nachlaß
Mittermaiers bzw. Gneists enthält eine Korrespondenz zwischen
beiden Juristen, die aus insgesamt 65 Briefen besteht. Zum weitaus größeren
Teil handelt es sich um Mitteilungen Gneists an Mittermaier: 45
Briefe (wenn man diejenigen der Gattin Marie Gneist mitrechnet); 20
Briefe sind von Mittermaier an den um nahezu dreißig Jahre jüngeren Gneist
gerichtet. Der noch erhaltene Briefwechsel hat also erhebliche Lücken ‑
für 28 Briefe fehlen Vorgang und Antwort ‑, ist jedoch wiederum nicht
durchweg lückenhaft, sondern in Teilen vollständig überliefert. Die
Korrespondenz erstreckt sich über zwei Jahrzehnte, von 1847 bis in Mittermaiers
Todesjahr 1867. Nach einer „Pause“ im Revolutionsjahr 1848/49 besteht seit Ende
1850 bis Anfang 1852 ein relativ reger Austausch, der sich später in einem eher
lockeren und sporadischen Briefwechsel fortsetzt. Mittermaier hat alle
Briefe in seiner berüchtigt hastigen, schwer entzifferbaren Handschrift selbst
zu Papier gebracht[3],
mit Ausnahme des letzten Briefes vom 11. 8. 1867, den der 80jährige kurz vor
seinem Tod diktierte und noch eigenhändig unterschrieb. Gneists Briefe
an Mittermaier sind (wohl) überwiegend einem Schreiber diktiert, z. T.
auch in seiner feinen, deutlichen Handschrift verfaßt[4].
Die
Initiative zu der Korrespondenz ist offenbar von Mittermaier
ausgegangen, mit einem ‑ nicht mehr auffindbaren ‑ Brief vom 10. 5.
1847, in dem Mittermaier Gneist für die 1847 gegründete „Deutsche
Zeitung“ um Beiträge bat, die Gneist dann vorsichtig‑verklausuliert
zusagte. Bereits in seinem Antwortschreiben vom 10. 6. 1847, dem ersten Brief
dieser Sammlung, klingen zentrale Sachthemen der folgenden Korrespondenz an. Gneist
schreibt an den „Hochgeehrtesten Herrn Geheimen Rath“ und „Vater der deutschen
Justizreformen“, dem er eingangs den „aufrichtigsten Dank“ ausspricht „für die
fortlaufende unersetzliche Belehrung, welche ich, sowie alle Prozessualisten
und Kriminalisten, Ihnen zu verdanken habe“, u. a.:
„In einem glücklichen Wirkungskreise als Universitätslehrer und bei dem Geheimen Obertribunal beschäftigt, habe ich zwar noch nicht mit einer schriftstellerischen Arbeit über Kriminalrecht und Prozeß zum Abschluß kommen können, hoffe indessen, binnen Jahr und Tag mit einer Schrift über die Kriminalprozeß‑Reformen zu Stande zu kommen. Nach langem Schwanken, und namentlich durch die Anschauung der französischen Rechtszustände irre gemacht, bin ich erst jetzt nach mehrmaligem Aufenthalt in England ein unbedingter Anhänger des Geschworenengerichts geworden, und werde versuchen, seine Nothwendigkeit für späteren Generationen nicht blos aus dem Wesen des Beweises in Kriminalsachen nachzuweisen, sondern im Detail auf die zweifelhaften Fragen eingehen, welche in der Thatfrage der einzelnen Verbrechen enthalten sind. Mit Rücksicht auf die großen Fortschritte der Strafgesetzgebung und den immer lebendiger hervortretenden politischen Sinn im deutschen Staatsbürgerthum hege ich die Hoffnung, daß die Entscheidung über Schuld oder Unschuld auch bei uns sehr bald mit voller Sicherheit schlichten Bürgern anvertraut werden könne: und ich sehe zu meiner großen Freude, daß in meinen nächsten Umgebungen sehr tüchtige Richter des öffentlich‑mündlichen Verfahrens zu derselben Ansicht hinneigen ...“
Gneist hat das angekündigte
Buch über „Kriminalprozeß‑Reformen“ nicht veröffentlicht, wohl aber ‑
zwei Jahre später ‑ eine Schrift zur Schwurgerichtsfrage[5], die er Mittermaier
zusandte. Aufgrund seiner Beobachtungen in England, das Gneist mehrfach
bereiste und dessen „freie Luft“ er „trotz Kohlenrauchs und Nebels“ für „noch
immer die beste auf dem Kontinent“ hielt (Brief vom 24. 8. 1851), bevorzugte Gneist
das britische Schwurgerichtsverfahren. Dem französisch‑rheinischen
Modell, das Preußen 1849 auf die östlichen Provinzen ausdehnte, stand er sehr
skeptisch gegenüber. Mittermaier hat in der Schwurgerichtsfrage, einer
der rechtspolitischen Hauptfragen der Epoche, bekanntlich mehrfach die Fronten
gewechselt, bevor er 1847 (Lübecker Gerrnanistentag) zum „endgültigen Anhänger“
des Geschworenengerichts wurde[6]. In diese Zeit
fällt sein Brief vom 25. 12. 1847 an Gneist, in dem es u. a. heißt:
„In Bezug auf das Geschwornengericht habe ich aus Amerika und England neue wichtige Bestätigungen meiner Ansicht über den Werth der Jury. Ich will aber nur eine auf der Grundlage der englischen Jury eingerichtete. Täglich wird es mir klarer, daß mit dem mündlichen Strafverfahren Entscheidungsgründe und zweite Instanz unverträglich sind.“
Freilich
schreibt Mittermaier dann am 10. 11. 1849 auch:
„Ich habe mich im vorigen Herbst in Frankreich bei
Männern verschiedener Farbe über die Wirkung des neuen französischen
Jurygesetzes erkundigt und erfahren, daß man keine Nachtheile bemerkte ...“
Auch in
seinem Brief vom 6. 10. 1851 spricht Mittermaier die Schwurgerichtsfrage
an:
„In der Schweiz erkannte ich wieder klar, daß das Geschwornengericht, wenn es gut wirken soll, gewisser politischer und sittlicher Voraussetzungen bedarf. In Bern werden die Geschwornen von dem Volk direkt gewählt; aber wie traurig! Jede politische Parthei wählt nur ihre Gesinnungsgenossen, die sich dann feindlich entgegenstehen. Daher kommt es, daß in manchen Kantonen ... das Volk nichts von Geschwornen wissen will. ‑ Merkwürdig war nur, daß in Rheinbayern viel mehr Ordnung, Ruhe und Vertrauen zurückkehren, als bei uns der Fall ist. Die vielen Freisprechungen der politischen Angeklagten, und zwar durch Geschworne, die die Regierung mit der größten Vorsicht aus den conservativsten Bürgern auswählte, wirken zur Versöhnung der Partheien, weil die Liberalen erkennen, daß die, obgleich konservativen Geschwornen sie nicht verfolgen.“
In solchen
Äußerungen über Erkundigungen und Beobachtungen, die man in der Korrespondenz
häufiger antrifft, wird etwas von der „empirischen Methode“ sichtbar, die Mittermaier
in der Schwurgerichtsfrage geleitet hat. Gegen Ende des Briefwechsels bringt er
diese Methode anläßlich der Zusendung seiner Aufsatzreihe „Erfahrungen über
die Wirksamkeit der Schwurgerichte in Europa und Amerika“ geradezu auf den
Begriff, wenn er am 23. 1. 1865 an Rudolf Gneist schreibt:
„Ich darf wenigstens glauben, daß das Werk der erste
Versuch ist, auf dem Wege sorgfältig gesammelter Erfahrungen eine praktische
Grundlage für die Verständigung über Verbesserung der Schwurgerichte zu
finden.“
Indessen
geht es in dieser langjährigen Korrespondenz nicht allein um Fragen des
Geschworenengerichts und der Prozeßreformen. Gegenstand des Briefwechsels sind
nicht zuletzt auch die allgemeinen politischen Zustände in Baden, Preußen und
in Deutschland überhaupt. In einem Brief vom 9. 12. 1850 fügt Mittermaier
der Klage über familiäre Sorgen und sein „gar einsames Leben“ hinzu:
„Noch tiefer aber drücken mich die öffentlichen
Zustände herab; ich sehe, wie man ... wieder alles zurückschrauben will, jeden
Gedanken an deutsche Einheit zerstört, die mühsam erworbenen Freiheiten durch
Ausnamsgesetze vernichtet, dem konstitutionellen Leben Hohn spricht und, wie es
scheint, den Ausspruch des Kaisers von Rußland über das System zur Wahrheit
machen will. Es sieht ganz schlecht aus und keine Hoffnung des Besserwerdens.
Wo ist eine Aussicht? ... Bei uns bemühen sich Regierung und Krone, den
Polizeistaat wieder hübsch aufzustutzen und die Vereins‑, Versammlungs‑
und Preßgesetze mit so vielen Einschränkungen zu versehen, daß die Ausnamen die
Regel sind. Wann wird man auch in Deutschland gescheid werden und einsehen, daß
alle Bewegungen der Freiheit gefahrlos sind, wenn die Regierung ehrlich ist
und die Fanatiker der Ruhe und Ordnung die Hände nicht in den Schoß legen,
sondern mit ehrlichen Waffen kämpfen für freie Entwickelung; allein die Leute
werden nicht gescheid ...“
In Berlin
erwartete Gneist von Jahr zu Jahr das Ende der preußischen Reaktion. In
seinem Brief vom 8. 1. 1855 rechnet er mit einer Spaltung ihrer
gesellschaftlichen Basis, des „Beamten-“ und „Junkertums“, während er das
Bürgertum für „längst aufgeklärt“ hält:
„In Politicis bereitet sich hier durch das vortreffliche Debüt unserer Junkerkammer eine Spaltung vor, in der das Beamtenthum Lebenszeichen von sich geben wird gegen kleinliche Junkerprätensionen. Die Bourgeoisie ist längst aufgeklärt, hat aber keinen Muth herauszutreten. Die Demokratie arbeitet an ihrer Selbstbelehrung in der Stille ...“
Doch sollte
dieser Eindruck trügen. Im Spätjahr 1855 erbrachten die Kammerwahlen ‑
unter dem massiven Druck der Regierung ‑ eine überwältigende konservative
Mehrheit. Gneist kommentiert dies in seinem ausführlichen Brief vom 11.
10. 1855, in dem es u. a. heißt:
„Was helfen uns die liberalen Wahlen in den Städten, wenn das Land massenweis Junker und Landräthe wählt... Man hat Schulzen, und die Schulzen haben Junker gewählt ... Die nächste Kammer wird mehr als 180 adlige Rittergutsbesitzer und reine Verwaltungsbeamte zählen, welche schon die Majorität für jeden Regierungsvorschlag im reaktionären Sinn von vornherein fertig machen. Und in diesen Landräthen und Staatsanwälten, die ich zum sehr großen Theil als ehemalige Zuhörer kenne, steckt jetzt eine Bedientenhaftigkeit gegen die Junkerinteressen, die dem früheren Servilismus gegen eine absolute Regierung nichts nachgießt. Trotz meiner persönlichen Toleranz bin ich immer in Versuchung, diesen konservativen Grünschnäbeln, die alle durch Schreien Präsidenten werden möchten, den Rücken zu kehren, wo ich Ihnen begegne. Je mehr es mir klar wird, daß alle konstitutionellen Formen nur durch eine einheitliche regierende Klasse getragen werden, und auf eine solche zurückführen, um so schwerer wird es mir zu glauben, daß aus dem Materialismus dieser muthund charakterlosen Ritter, Großhändler und Fabrikanten jemals ein konstitutionelles Regime hervorgehen könne ...“
Zu Beginn der „neuen Ära“ wurde Gneist 1858 in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt (dem er bis 1893 angehörte). Im Verfassungskonflikt (1862‑1866) trat er als einer der Oppositionsführer gegen Bismarck hervor. Die kurzen Bemerkungen in seinen Briefen vom 21. 6. 1863 und 11. 1. 1865 gehören in diesen Zusammenhang. Gneists Wendung auf die Bismarck'sche Linie (1866) hat in der Korrespondenz nur mehr undeutlichen Niederschlag gefunden. Zeigte Mittermaier zu Beginn des Jahres 1865 noch Verständnis für Gneists schwierige politische Stellung angesichts des „völlig unconstitutionellen Zustands“ in Preußen (Brief vom 23. 1. 1865), so ist aus den milden Formulierungen des vorletzten Mittermaier‑Briefes (31. 12. 1866) ein kritischer Unterton herauszuhören:
"Ich
hätte Vieles auf dem Herzen, was ich mit Ihnen besprechen möchte. Allein ich
komme dann leicht auf die leidige Politik und fürchte mich, mit alten Freunden
zu streiten ... Oft denke ich an Sie und
‑ verzeihen Sie ‑ beklage Sie, indem ich mich in Ihre oft
widerliche und peinliche Lage versetze, Ihre Überzeugung mit der Rücksicht auf
die einmal bestehenden Verhältnisse zu vereinigen ... Wenn wir auch über Politik
nicht ganz einig sind, so darf ich doch bitten, mich wie bisher lieb zu
behalten."
Mittermaier und Gneist
hatten einander spätestens im Sommer 1850 in London auch persönlich
kennengelernt, wo sie sich während mehrerer Wochen häufig trafen. Gneist
war damals noch außerordentlicher Professor in Berlin und las seit seiner
Habilitation 1839 mit wachsendem Erfolg u. a. über Pandekten, preußisches
Privatrecht, Zivilschaft und
Geschworenengerichte. Als Richter am Obertribunal war er 1849 ausgeschieden
(vgl. Brief vom 2. 12. 1850); erst 1858 erhielt er das ersehnte Ordinariat,
nachdem der erste Band seines großen Hauptwerks über das englische Verfassungs‑
und Verwaltungsrecht erschienen war und sich die Aussicht auf einen auswärtigen
Ruf abzeichnete. „Wie der Dachs im Winter von seinem Fette zehrt“, schreibt Mittermaier
am 9. 12. 1850, so zehre er an trüben Tagen von den Erinnerungen an die mit Gneist
in London verlebten Stunden. Für den Sommer 1851 war eine gemeinsame
Englandreise geplant, die Mittermaier wegen des Kriegszustandes in Baden
jedoch absagen mußte (Brief vom 3. 8. 1851). Zwischen den beiden Männern
entwickelte sich, über den großen Altersabstand hinweg, bald ein Verhältnis
freundschaftlicher Vertrautheit, und so erfährt man aus dem Briefwechsel zugleich
manches über die privaten Lebensumstände der Korrespondenten. „Sachliche“,
Wissenschaft, Politik und Lehre betreffende Mitteilungen gehen bisweilen
unmittelbar in „persönliche“ über.
Noch
unsicher über die künftigen Schwerpunkte seiner Forschungen sandte Gneist
am 8. 4. 1853 seine Schrift „Adel und Ritterschaft in England“ an Mittermaier;
er bat ihn um sein Urteil, „ob ich nach Maaßgabe diese Probe mit einer
zusammenhängenden Darstellung des Constitutional
Law vorgehen soll, und zwar in zwei gesonderten Schriften, die erste über
das heutige englische Staatsrecht, die zweite über die Geschichte der
englischen Verfassung“. Mittermaier ermutigte Gneist durch die
freudig registrierte „zustimmende Beurtheilung“ jener „englischen Broschüre“
(Brief Gneists vom 2. 1. 1854) zu weiterer Arbeit und erhielt im
Frühjahr 1857 dann die Gneist'sche „Schwergeburt“ des ersten Bandes über
das englische Verfassungs‑ und Verwaltungsrecht (Brief vom 31. 3. 1857).
Mittermaier
wäre im übrigen nicht der leidenschaftlich‑rastlose Sammler von
wissenschaftlichem „Stoff'“ und „kostbaren Materialien“ gewesen, wenn er seine
Beziehungen zu Gneist nicht auch in dieser Hinsicht genutzt hätte. So
bat er etwa Gneist, in England die neuesten Gesetze und
Parlamentsberichte, Statistiken und rechtshistorische Werke zu besorgen;
zuweilen brauchte er Ähnliches aus Berlin. Als Gegengabe schickte Mittermaier
immer wieder Veröffentlichungen, Gesetzesvorlagen, Parlamentaria, auch seine in
rascher Folge erscheinenden eigenen Werke. Gneist bewundert Mittermaiers
überwältigende Produktivität:
„Es würde mir eine solche Beherrschung des immensen Stoffes unbegreiflich sein, wenn ich mich nicht erinnerte, welches Fundament eine unermüdliche Thätigkeit seit einem halben Jahrhundert für solche Arbeiten sein muß. Was ich aber dennoch kaum begreife, ist die Schnelligkeit der Verarbeitung und die Fruchtbarkeit einer Thätigkeit, mit der Sie stets fertig mitten in der Gegenwart stehen und alle jüngeren Arbeitskräfte überflügeln und beschämen. Ich begreife das um so weniger, als mein schwerfälliges nordteutsches Temperament an viel kleineren Aufgaben Jahre laboriert, während Ihre Jugendkraft jährlich neben großen Werken immer noch in Vorlesungen und werthvollen Spezialabhandlungen soviel leistet, wie die meisten Universitätslehrer überhaupt zu Stande bringen. Steckt dabei nicht ein Theil des Geheimnisses in dem glücklichen süddeutschen Naturel?“ (Brief vom 24. 5. 1857) ‑ „Bei mir ist ein Buch überhaupt eine solche Schwergeburt, daß, wenn mir der Setzer nicht auf den Hacken sitzt, ‑ es nie zum Vorschein kommt.“ (Brief vom 24. 11. 1856)
Gegenstand
mehrerer Briefe aus den 60er Jahren ist der „große Polenprozeß“, der 1864 vor
dem Staatsgerichtshof in Berlin stattfand. Gneist war damals einer der
Verteidiger der etwa 150 Angeklagten, überwiegend preußischer Untertanen
polnischer Herkunft. Sie wurden des Hochverrats gegen Preußen beschuldigt, weil
sie angeblich von Posen aus den Warschauer Aufstand gegen Rußland in der
Absicht unterstützt hatten, den polnischen Staat von 1771 wiederherzustellen
und damit die ehemals polnischen Landesteile vom preußischen Staatsgebiet
abzutrennen. Gneists Brief vom 7. 8. 1864 (mit ausführlicher Anlage)
schildert den Sachverhalt, den Gedankengang der Anklage und die Beweislage. Zu
den rechtlichen Fragen, bei denen es u. a. um die Auslegung von Bestimmungen
des preußischen Strafgesetzbuchs (1851) ging, bittet er Mittermaier um
„gütige Belehrung“, ohne ihn mit der „trübseligen Lectüre“ der gigantischen
Anklageschrift behelligen zu wollen. Mittermaier, der die Anklageschrift
freilich schon besitzt und die Verhandlungen in der Presse verfolgt, erteilt
trotz „schwer angegriffener Gesundheit“ in knapper Form sogleich den
gewünschten Rechtsrat (12. 8. 1864), auf den Gneist in seinem Plädoyer
zurückgreifen konnte.
Der
Herausgeber, Verfasser einer Monographie über Rudolf Gneist[7], hat den
reichhaltigen Briefband mit einer ausführlichen Einleitung (S. 2ff.), einer
Bibliographie (S. 163ff.) sowie einem Personen‑ und Sachregister (S.
171ff.) versehen. Seine kenntnisreichen Anmerkungen zu den einzelnen Briefen
enthalten eine Fülle ergänzender und erläuternder Hinweise, für die der Leser
besonders dankbar ist. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß die Entzifferung
der Mittermaier‑Briefe schon eine Leistung für sich darstellt. In
der Einleitung wird für den „neuen Stand der Forschung über Mittermaier“
auf die beiden von mir 1986/87 herausgegebenen Sammelbände[8] hingewiesen.
Insoweit wären freilich manche Ergänzungen notwendig[9].
Heidelberg Wilfried
Küper
[1] Vgl. dazu näher die Vorbemerkungen zur Gesamtedition von B. Dölemeyer/A. Mazzacane, S. VIIff.
[2] W, Mittermaier, Karl Joseph Anton Mittermaier als Persönlichkeit, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 43 (1922) 167 ff (171 f); wieder abgedruckt in: W. Küper (Hg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986, S.53ff. (57f.).
[3] Faksimile des Briefes vom 6. 10. 1851 in diesem Band, S. 24ff.
[4] Faksimile des Briefes vom 25. 9. 1851 S. 18ff.
[5] Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland, 1849.
[6] Dazu neuerdings materialreich und instruktiv A. Koch, Carl Joseph Anton Mittermaier und das Schwurgericht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), 167ff.
[7] E. J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816 ‑ 1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, 1995.
[8] Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, 1986; Carl Joseph Anton Mittermaier, Symposium 1987 in Heidelberg, Vorträge und Materialien.
[9] Vgl. z.B. M. Hettinger, Carl Joseph Anton Mittermaier (1787 ‑ 1867) ‑ Jurist zwischen zwei deutschen Reichen oder: auf der Suche nach einem neuen gemeinen Recht, in: ZRG Germ. Abt. 107 (1990) 433 ff; A. Koch (o. Anm. 6) mit Hinw. in Fußn. 2, 3; S. W. Neh, Die posthumen Auflagen von Feuerbachs Lehrbuch. Zu den Konzeption C.J.A. Mittermaiers und seinem Wissenschaftsverständnis, 1991 (dazu W. Küper, ZRG Germ. Abt. 111, ] 994, 706 fit).