KleyKirchgässner20000818
Nr. 10047 ZRG 118 (2001)
Kirchgässner, Gebhard/Feld, Lars P./Savioz, Marcel R., Die direkte Demokratie. Helbing und Lichtenhahn/Vahlen, Basel – Genf/München 1999. XIV, 238 S.
Ortega
y Gasset schrieb in
seinem Opus „Der Aufstand der Massen“ (deutsche Übersetzung 1931): „Das Heil
der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer
geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist
sekundär“. Dabei übersah Ortega y Gasset noch einen weiteren Faktor, der
durchaus geeignet ist, das „Heil der Demokratien“ zu beeinflussen: Die direkte
Demokratie. Sie hatte schon zur damaligen Zeit eine erhebliche Verbreitung, so
in den Einzelstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika, in der Weimarer Republik
und in der Schweiz. Freilich bedarf der Begriff der direkten Demokratie der
Klarstellung, es handelt sich nämlich stets um eine Mischung von Elementen der
direkten mit der repräsentativen Demokratie, weshalb genauer von halbdirekter
Demokratie zu sprechen ist. Die rein direkte Demokratie, wie sie etwa Rousseau
vorschwebte, ist zwar in kleinen städtischen Gemeinwesen denkbar, fällt aber
heute als ein realisierbares Regierungsmodell für große Staaten aus praktischen
Gründen außer Betracht.
Die drei
St. Galler Ökonomen Gebhard Kirchgässner, Lars P. Feld und Marcel
R. Savioz unternehmen es, die ökonomischen und politische Vorteile der
direkten Demokratie nach empirisch-evidenten Kriterien zu belegen. Nach der
These der Autoren führt die direkte Demokratie im Vergleich zu dem politischen
System der reinen Repräsentation zu ökonomisch und politisch effizienteren
Lösungen. Das Buch ist deshalb von besonderem Interesse, weil es die direkte
Demokratie aus der Sicht nicht etwa von Staatsrechtlern oder Politikwissenschaftern,
sondern von Ökonomen beurteilt. Diese andere Sichtweise ist zum einen eine
wertvolle Bereicherung der Literatur, denn sie erlaubt einen neuen Zugang. Zum
andern treten die drei Autoren der von mehreren Ökonomen vertretenen These
entgegen, die direkte Demokratie wirke sich innovationshemmend aus und
behinderte die Schweiz im globalen Wettbewerb (S. Borner/H. Rentsch
[Hrsg.], Wieviel direkte Demokratie verträgt die Schweiz? 1997). Aus dieser
Warte ist es verständlich, dass die drei Autoren der verbreiteten Forderung
nach dem Abbau der direktdemokratischen Rechte widersprechen und im Gegenteil
den Ausbau der Volksrechte auf Bundesebene fordern.
Ihre These
untermauern die Autoren mittels verschiedener Argumente. Zunächst halten sie
den Bürger in der halbdirekten Demokratie notwendigerweise für viel besser
informiert. Denn Parlament und Regierung hätten wesentliche Anreize,
Sachinformationen bereitzustellen und umgekehrt hätten die Stimmbürger in der
direkten Demokratie zusätzlich Anlass, sich über politische Angelegenheiten zu
informieren (S. 59). Die Verfasser halten zusätzlich dafür, dass die
Institutionen der direkten Demokratie die bestehende Sachkompetenz in der
Bevölkerung besser nutzen, wodurch die Akzeptanz der getroffenen politischen
Entscheidungen erhöht werde. Diese letztere Argument erweist sich als
blauäugig. Die allfällige Sachkompetenz der Stimmbevölkerung kann sich auch in
der halbdirekten Demokratie in einem blossen Ja-Nein ausdrücken, denn die
halbdirekte Demokratie muss notwendigerweise das Ideal der Selbstregierung des
Volkes auf relativ „grobschlächtige“ Verfahren im Ja-Nein-Stil reduzieren. Der
bloß allfällige Sachverstand wird damit auf grobe Kanäle gelenkt und von ihm
bleibt kaum etwas übrig. Die Parlamentarier seien - so führen die Verfasser
weiter aus - zwar Spezialisten und dadurch ebenfalls gut informiert. Sie seien
indessen hauptsächlich als Interessenvertreter tätig, was bedeute, dass sie
systematisch von den Interessen der Bevölkerung abwichen, um für sich und ihre
Klientel Sondervorteile herauszuholen. In der direkten Demokratie müssten die
Vorschläge der Spezialisten noch zusätzlich die Zustimmung der Bevölkerung
erreichen und seien deshalb sachgemäßer. Hier ist einzuwenden, dass es die
„Interessen der Bevölkerung“ gar nicht gibt und dass es sehr wohl zweckmäßig
ist, dass im Parlament die Vertreter der verschiedensten Interessen Einsitz
haben. Denn die Bevölkerung gliedert sich in verschiedene Gruppen, die ihre
Interessen auf ihre Parlamentarier bündeln.
Weitere Argumente, die für die halbdirekte Demokratie sprechen,
betreffen die Staatsfinanzen und hier die stärkere Anbindung des staatlichen
Ausgabenverhaltens an die Präferenzen der Stimmbürger. Damit erweist sich die
direkte Demokratie als ein effizientes Mittel, um die politische Haltung einer
Mehrheit der Stimmberechtigten hinsichtlich Staatsverschuldung durchzusetzen.
Die Autoren vergleichen zu diesem Zweck die Budgets von Gemeinden mit und ohne
direkte Demokratie in Finanzsachen und kommen zum überraschenden Ergebnis, dass
in Gemeinden mit direkter Demokratie die Ausgaben pro Kopf um 20,5 % geringer
sind als in Gemeinden ohne direkte Demokratie (S. 85). Die Stimmbürger gehen
danach mit ihrem eigenen Steuergeld offensichtlich sparsamer um als ihre
gewählten Vertreter. Eine weitere Folge der direkten Demokratie in
Finanzangelegenheiten besteht nach Kirchgässner, Feld und Savioz
darin, dass in Kantonen mit direkter Demokratie im Durchschnitt etwa 30 %
weniger Steuern hinterzogen werden als in Kantonen, die keine solchen Rechte kennen.
Das belege sehr deutlich, dass die direkte Demokratie zu einer höheren
Steuermoral beitrage. Gemeinden mit direkter Demokratie hätten überdies eine
signifikant tiefere öffentliche Schuld als Gemeinden ohne direkte Demokratie.
Die Autoren führen zu Recht an, dass die Situation einer Gemeinde nicht auf
jene des Bundes übertragen werden kann, da man sich als Gemeindeeinwohner der
Gemeindesteuerbelastung leicht durch Wegzug entziehen kann. Dabei sei es umso
bemerkenswerter, dass auf Gemeindeebene ein solches Ausweichen in weit
geringerem Masse erfolge, wenn die Bürger direkte Mitwirkungsrechte bezüglich
der öffentlichen Finanzen haben (S. 98). Es liegt auf der Hand, dass die
Verfasser für den schweizerischen Bund die Einführung eines vollumfänglichen
Finanzreferendums vorschlagen. In der Tat ist dieses Argument empirisch
untermauert: Gegner dieses Vorschlags müssten daher die Augen vor diesen
Tatsachen verschließen oder den eigenen persönlichen Vorteil vor Augen haben.
Es ist allerdings interessant, dass die Stimmberechtigten in der Schweiz die
Einführung des Finanzreferendums schon mehrfach abgelehnt haben.
Das Buch
beschäftigt sich nun allerdings nicht allein mit den schweizerischen
Erfahrungen, sondern zieht auch jene der Vereinigten Staaten heran und kommt zu
ähnlichen Ergebnissen. Von besonderem Wert ist ausserdem das Kapitel über die
direkte Demokratie in der Weimarer Republik. In der Bundesrepublik Deutschland
ist das am häufigsten verwendete Argument gegen die direkte Demokratie auf
Bundesebene gerade die angeblich schlechte Erfahrung in der Weimarer Zeit.
Dabei ist es bemerkenswert, dass in der Zeit von 1945 bis 1948 entsprechende
Aussagen noch völlig fehlen. Erst im Parlamentarischen Rat wurde diese Ansicht
geäussert, wobei der spätere Bundespräsident Theodor Heuss einen
wesentlich Anteil daran haben dürfte. Die Autoren legen historisch sehr
überzeugend dar, dass das Weimarer System der direkten Demokratie nicht mit dem
schweizerischen Modell verglichen werden kann. In der Weimarer Republik spielte
die direkte Demokratie eine höchst untergeordnete Rolle. Ein Volksentscheid
wurde lediglich in acht Fällen angestrebt, davon gelangten nur drei in das
Stadium des Unterschriftensammelns und abgestimmt wurde nur über zwei. Das
Verfahren der Weimarer Verfassung war durch äußerst hohe Quoren belastet,
namentlich musste die Stimmbeteiligung 50 % übersteigen, damit ein
Volksentscheid verbindlich werden konnte. Die Volksentscheide in der Weimarer
Republik waren keine Ursache für die Krise, vielmehr deren Ausdruck. Dass die
Nationalsozialisten letztlich alles propagandistisch zu nutzen suchten, kann
nicht etwa den Institutionen, wie etwa der direkten Demokratie, angelastet
werden. Von daher ist das Scheitern der Weimarer Demokratie mit ihrem
Instrument des Volksentscheids kein grundsätzlicher Einwand gegen die
Einführung der direkten Demokratie.
Den Vorwurf
der mangelnden politischen Führung in der direkten Demokratie halten die Verfasser
für einen verschleierten Herrschaftsversuch von partikulären Interessen. Es ist
nämlich in keiner Regierung möglich, einseitig bestimmte politische und
wirtschaftliche Interessen zu vertreten. Die Regierungen sind mehr oder weniger
immer auf eine maßvolle mittlere politische Linie angewiesen, wenn sie
längerfristig überleben wollen.
Schließlich
schlagen die Autoren einen maßvollen Ausbau der direkten Demokratie auf der
Ebene des Bundes vor. So solle die Gesetzesinitiative eingeführt werden, damit
die Verfassung nicht zu sehr mit Detailregelungen aufgebläht werde. Dieser
Grund ist freilich mehr als fraglich; die fehlende Gesetzesinitiative kann
gerade nicht für das sog. Aufblähen der Bundesverfassung von 1874
verantwortlich gemacht werden. Denn nur außerordentlich wenige Bestimmungen
waren die Folge angenommener Volksinitiativen. Vielmehr ist die Anreicherung
mit Details eine Folge der vereinbarten politischen Kompromisse, was auch in
der ausländischen Verfassungsgebung zu beobachten ist. Nach den Autoren sollte
auch das Finanzreferendum eingeführt werden. Ferner wenden sich diese mit guten
Gründen gegen die sog. „Maulkorbinitiative“, welche die Frist zwischen
Einreichung eines Volksbegehrens und der Abstimmung auf sechs Monate verkürzt
und das Parlament jeglicher Stellungnahme beraubt.
Die Autoren
wenden sich von ihrem sehr breiten und gründlich recherchierten Ansatz her
nicht nur an die schweizerische Öffentlichkeit, sondern schlagen den Ausbau der
direkten Demokratie generell vor. Das Buch dürfte daher gerade für die
politisch und historisch interessierten Leser in Deutschland und Österreich von
besonderem Interesse sein. Es ist aus einer praktischen und empirischen Sicht
als ein verdienstvolles Unterfangen zu werten, dass der Idee der direkten
Demokratie derart fundiert und gut begründet eine Lanze gebrochen wird. Aus
theoretischer Sicht sind die dargelegten Bewertungsmaßstäbe (S. 8-11) für die
Frage der Richtigkeit politischer Entscheidungen als dürftig zu beurteilen. Man
kann allerdings in einem empirischen Werk nicht erwarten, dass eines der
schwierigsten Probleme der politischen Philosophie vorweg, gewissermassen als
ein Nebenprodukt, gelöst wird. Teilt der Leser die wertmäßigen Voraussetzungen
der Autoren, so ist das Werk ein fundiertes und überzeugendes Argumentarium für
die direkte Demokratie.
Bern Andreas
Kley