HünemörderWeber-Fas20000904 Nr. 10033 ZRG
118 (2001)
Weber-Fas, Rudolf, Über die Staatsgewalt. Von Platons Idealstaat bis zur Europäischen
Union. Beck, München 2000. VI, 333 S.
Das
Weltwissen wenigstens zu einem begrenzten Thema zur Hand zu haben, ist ein
alter, wenn auch illusionärer Wunsch. Rudolf Weber-Fas
unternimmt mit seinem Buch „Über die Staatsgewalt” zwar nicht gleich einen
Streifzug durch das Wissen der Welt über den Staat, wohl aber eine kursorische
Reise durch die europäische Ideengeschichte. Nachdem der Autor in einer
Einleitung „Grundfragen in Vergangenheit und Gegenwart” aufwirft, um auf knapp
zwanzig Seiten etwas über die Legitimation der Staatsgewalt,
Staatsauffassungen, Staatsformen, Staatsfunktionen, Elemente des Staatsbegriffs
und Staatenverbindungen zu sagen, folgt in einem ersten Teil die Darstellung
vormoderner Staatsideen. Behandelt wird die griechisch-römische Antike mit
Platon, Aristoteles und Cicero sowie das aus dem Christentum entsprungene
theologische Staatsdenken mit Augustinus, Thomas von Aquin, Dante und Luther.
In einem zweiten Teil über „Die moderne Staatsgewalt im Wandel” folgen für die
säkulare Begründung der souveränen Monarchie Machiavelli, Bodin
sowie Hobbes und für die Anfänge der Ideen des Verfassungsstaats Locke, Montesquieu
und Kant. Im darauffolgenden Kapitel, das unter dem Titel „Spätmodernes
Staatsdenken im Widerstreit” firmiert, werden Rousseau, Fichte, Humboldt,
Hegel, Marx, Mill, Tocqueville, Max Weber und Carl Schmitt
vorgestellt. Den präsentierten Ideen zum Staat steht jeweils eine
Kurzbiographie mit einer Abbildung voran. Am Ende des Buches findet sich ein
Ausblick „Auf dem Weg zur Postmoderne”, der sich in den Überschriften „Abschied
vom souveränen Nationalstaat” und „Supranationaler Zusammenschluß
der Staaten Europas” erahnen läßt.
Auf anderthalb Seiten nimmt der Autor
in der Einleitung im Telegrammstil vorweg, was seit Aristoteles „Zur
Legitimation der Staatsgewalt” geschrieben wurde. Simplifikationen wie die
Aussage, „In der neueren Staatsphilosophie besonders einflußreich
wurde die namentlich von Hegel vertretene Machttheorie.”, machen bereits
auf der ersten Textseite des Buches mißtrauisch. Was
soll man davon halten, wenn Weber-Fas sein
Verdikt verstärkend den Satz folgen läßt, „Zu dieser
Gewaltmetaphysik, für die der Staat nur dann in Form ist, wenn sein
Machtpotential nach innen und nach außen nachhaltig expandiert, stehen die
Rechtstheorien des Staates in entschiedenem Gegensatz.” (S. 3)? Man muß sich nicht Hegelianer nennen, um zu erkennen, daß hier dem Werk eines Philosophen und seinen Rezipienten rohe Gewalt angetan wird. Die G. W. F. Hegel
gewidmeten Ausführungen im Hauptteil des Buches sind im Ton weniger
martialisch, weil sie wie bei den anderen vorgestellten Autoren durchweg
referierend, d. h. im Konjunktiv geschrieben sind. Von einer kritischen
Rekonstruktion kann freilich keine Rede sein, Auswahl und Zuordnung der
referierten Textstellen aus den „Grundlinien der Philosophie des Rechts”
offenbaren, daß das einmal gefällte Vorurteil nur ein
wenig subtiler ausgeführt wird. Weil Weber-Fas
im dritten Abschnitt des dritten Teils der „Grundlinien” mit den Darlegungen
über den sittlichen Vernunftstaat wohl alles über den Staat bei Hegel zu
finden meint, geht er auf die vorangestellten Teile und Abschnitte,
insbesondere aber auf die bürgerliche Gesellschaft mit dem äußeren Not- und
Verstandesstaat und ihr Verhältnis zum sittlichen Vernunftstaat sowie die
Struktur des Gedankenganges nicht weiter ein (vgl. S. 191). Hegel
bezeichnet den von Weber-Fas referierten
Gegenstand als sittlichen Vernunftstaat, weil er eben nicht auf Gewalt, sondern
auf eine rekursive intellektuelle Leistung abstellt. Der sittliche
Vernunftstaat ist danach die den Einzelnen über Institutionen vermittelte
Reflexion eines Allgemeinen (S. 192), womit die in der Begrenzung auf die
Verfolgung egoistischer Ziele liegenden Defizite der Einrichtungen in der
bürgerlichen Gesellschaft kompensiert werden. Der äußere Not- und
Verstandesstaat geht in den sittlichen Vernunftstaat über, weil der Egoismus
erst in seiner reflektierten Existenz seine beständige Form und Gewähr findet.
Das, was wir gemeinhin Freiheit nennen, bedarf eines Widerlagers in einer
objektiven (Rechts-) Ordnung, die jedoch nur wirklich ist, wenn sie von den
Individuen internalisiert ist. Der sittliche Vernunftstaat ist also geradezu
das Gegenteil dessen, was Weber-Fas am
Anfang seines Buches behauptet, er fängt nach innen und nach außen die
Zentrifugalkräfte auf, die in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt sind.
Staatslehre ist Kultur, in der das
erinnerte Wissen auf der Folie jeweils gegenwärtiger Ereignisse aktualisiert
wird. Dies wird bei der Lektüre des Buches auf anregende Weise deutlich. Im
Ausblick beschreibt Weber-Fas die
Umbrüche, in die die europäischen Staaten mit den totalitären
Diktaturen des 20. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg geraten sind. „Nach
1945 jedoch stand die Staatenwelt vor einer völlig veränderten Situation. Das
vordem allgemein als positiv bewertete Ordnungsprinzip souveräner
Nationalstaaten hatte sich auf schreckliche Weise ad absurdum geführt” (S.
289). „Mit einer gewissen historischen Zwangsläufigkeit hat sich das Prinzip
des souveränen Nationalstaats also selbst zerstört.”, heißt es weiter (S.
290f.) Eine präzise Analyse des Nationalsozialismus hätte sicher ergeben, daß das Nationalstaatsprinzip gerade nicht die tragende
Doktrin der politischen Führung des auf eine Hegemonie im europäischen Raum
ausgerichteten Systems war. Die Staatslehre hat seinerzeit die politische
Zielsetzung mit einer Revitalisierung des Reichsgedankens und einer
Großraumtheorie unter Abkehr vom Nationalstaatsgedanken begleitet, die Etatisten waren rasch ins Abseits geraten. Die Behauptung,
die Katastrophe sei Symptom eines entarteten Prinzips gewesen, hätte zumindest
einen höheren Begründungsaufwand erfordert. De Gaulles „Europa der
Vaterländer” trifft die westeuropäische Situation nach 1945 denn auch genauer.
Von Deutschland abgesehen, das sich aus naheliegenden Gründen seiner nationalen
Identität genierte, ging es zunächst vor allem darum, eine sichere Existenz für
die europäischen Nationalstaaten zu organisieren. Auch das gegenwärtige
Bestreben der osteuropäischen Staaten, in die Europäische Union aufgenommen zu
werden, ist von einem nationalstaatlichen Selbstbewußtsein
in Entgegensetzung zur russischen Hegemonialmacht getragen. Für die
Herausbildung einer supranationalen politischen Ordnung in Europa war weniger
die Desavouierung des Nationalstaatsprinzip als die auch von Weber-Fas zitierten „Umwälzungen in
Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie” (S. 291), die Herausbildung einer sich
europäisch verstehenden Gesellschaft maßgebend. Das Nationalstaatsprinzip
bleibt mit dem Prinzip der Volksherrschaft verbunden, das mit der Französischen
Revolution in die moderne Staatenwelt trat (S. 289). In dem Maße, in dem sich
eine europäische bürgerliche Gesellschaft herausbildet, wird, um mit Hegel
zu sprechen, auch ein europäischer sittlicher Vernunftstaat ausgebildet, der
ihre Einrichtungen stabilisiert. Die Nation gründet auf einer Reflexion von
Gemeinsamkeiten (S. 288), die sich in Vertrautheit mit den Existenzbedingungen
ausdrückt. Sie ist damit wandelbar. Einstweilen wird, wie auch Weber-Fas feststellt, die politische Ordnung
in den tradierten Nationen ebenso ihren Bezugspunkt finden wie im geeinten
Europa (S. 292).
Jena Olaf
Hünemörder