HagemannFestschrift20000330 Nr. 10031 ZRG 118 (2001)
Festschrift Professor Dr. Louis Carlen zum 70. Geburtstag,
hg. v. Herzog, Niklaus/Weber, Franz Xaver von.Universitätsverlag,
Freiburg Schweiz, 1999. 259 S., 1 Abb.
Der Umfang des wissenschaftlichen Werkes von Louis Carlen
ist rekordverdächtig. Sein Schrifttumsverzeichnis weist bis zum Jahr 1999
bereits 954 Nummern auf. Die Herausgeber dieser Festgabe geben der
wohlbegründeten Hoffnung Ausdruck, dass er im Jubiläumsjahr 2000 seine
tausendste Veröffentlichung feiern könne. Doch nicht nur „multa“, sondern auch
„multum“ enthält sein Oeuvre. Bleibendes und Wegweisendes hat er in den
Bereichen der Rechts‑ und Kulturgeschichte, der Rechtsarchäologie und des
Kirchenrechts geschaffen. Bewundernswert ist die Weite seines
wissenschaftlichen Horizontes, die ihn, schon bevor das Schlagwort geprägt
worden ist, als wahrhaft „transdisziplinären“ Forscher erscheinen lässt.
Zu seinem 60. Geburtstag wurde dem Freiburger (Schweiz)
Ordinarius daher eine grosse, bedeutende Festschrift gewidmet, an der vor allem
die Kollegen beteiligt waren.[1] Jetzt, ein
Jahrzehnt später, sind es ehemalige Assistentinnen und Assistenten,
Doktorandinnen und Doktoranden, die ihm mit spürbarer Verehrung für ihren
ehemaligen Lehrer eine Geburtstagsgabe darreichen. Einen thematischen
Schwerpunkt derselben bildet das Staatskirchenrecht. Hermann Bischofsberger
schildert die mannigfachen, historisch gewachsenen Eigentümlichkeiten des
Verhältnisses von Kirche und Staat im Schweizer Halbkanton Appenzell
Innerrhoden (S. 1‑49). Trotz allen Veränderungen, welchen dieses komplexe
Verhältnis, zumal in jüngster Zeit, unterworfen war, lassen sich die
Appenzeller ihre Traditionen nicht so leicht nehmen. Um nur ein Beispiel
herauszugreifen: Die staatliche kantonale Verordnung über die Departemente vom
17. Juni 1996 sieht die alte Institution der Kastvogtei nicht mehr vor;
dieselbe „besteht also“ ‑ wie Bischofsberger vermerkt ‑
„gewohnheilsrechtlich“ weiter, denn ihr Bestand wird von den Klosterschwestern
geschätzt. Einen folgenschweren Eingriff in die Freiheit der
Religionsgemeinschaften, sich gemäss ihrer eigenen Struktur zu organisieren,
erblickt Martin Grichting aus katholischer Sicht in der den Zürcher
Landeskirchen vom Staat verliehenen demokratischen Verfassung. In seinem
Beitrag „Von der Helvetik zum heutigen Staatskirchentum der Demokratie“ (S. 87‑103)
geht er vom berühmten reformierten Zürcher Pfarrer und Schriftsteller Johann
Kaspar Lavater (1741‑1801) aus, der nach dem Zusammenbruch der Alten
Eidgenossenschaft in der sogenannten Helvetik (1798‑1803) die Ansicht
vertrat, die Kirche müsse sich organisatorisch von einem Staat trennen, der
nunmehr religionslos werde, um ihr Profil als Glaubensgemeinschaft zu bewahren.
Die Entwicklung ging aber nicht diesen Weg. Die Kirchen blieben „als
,Kirchenwesen’ Teil des Staatswesens und wurden durch den staatlichen
Gesetzgeber nun noch verstärkt in den allgemeinen Demokratisierungs‑ und
Pluralisierungsprozess miteinbezogen“ (S. 93). Grichting sieht darin vor
allem eine Gefahr für die katholische Kirche als Bekenntniskirche. Er möchte
deshalb auf Lavaters Desiderat, das er in der Wiener Folgekonferenz der KSZE
vom Jahre 1989 anerkannt sieht, zurückgreifen. Seine Haltung ist freilich auch
in seiner eigenen Glaubensgemeinschaft nicht unumstritten. Eine verwandte
Problematik behandelt Paul Weibel am Beispiel des Kantons Schwyz: „Die
staatsrechtlich provozierte Renaissance des Benefiziums im Kanton Schwyz“ (S.
213‑223). Das Schwyzer Volk beschloss 1992 eine Änderung seiner
Verfassung, wodurch die seit Alters bestehenden Einheitsgemeinden im Sinne
einer Entflechtung von Kirche und Staat aufgelöst werden und an ihre Stelle für
die evangelisch‑reformierte und die römisch‑katholische Kirche je
eine staatskirchenrechtliche Körperschaft auf Stufe Kanton tritt. Damit
verliert die kanonische Pfarrei ihren öffentlichrechtlichen Status und muss
sich des Rechtskleids einer zivilrechtlichen Rechtsperson bedienen. Das
schweizerische Zivilgesetzbuch kennt jedoch keine Rechtsform, die der kanonischen
Pfarrei als nicht kollegialer Körperschaft („universitas personarum non
collegialis“) direkt entsprechen würde. Weibel greift daher auf das
Benefizium des kanonischen Rechts zurück, das als: „universitas rerum“ in der
selbständigen Stiftung des zivilen Rechts eine Parallele habe. Einen brisanten
Vorfall aus jüngster Vergangenheit nimmt Franz Xaver von Weber zum
Anlass, um die staatliche Einflussnahme auf Bischofswahlen kritisch zu
beleuchten: „Staatliche Mitwirkung bei der Basler Bischofswahl ‑
Verfassungs‑ und völkerrechtliche Aspekte“ (S. 173‑211). Die
sogenanntem „Diözesankonferenz“ - eine Abgeordnetenkonferenz der
Kantonsregierungen auf dem Basler Bistumsgebiet ‑ hatte 1994 aus der ihr
vom Basler Domkapitel vorgelegten Sechserliste ohne nähere Begründung einen
Kandidaten gestrichen. Sie stützte sich dabei auf ein Konkordat von 1828 und
auf über hundertjährige Übung. In seinem sorgfältig ausgearbeiteten, auch mit
divergierenden katholischen Autoren sich auseinandersetzenden Beitrag gelangt von
Weber zur Ansicht, dass sich weder aus dem Konkordat noch aus der
bisherigen Übung ein Streichungsrecht der Diözesankantone ableiten lasse. Ein
solches würde überdies dem modernen Völkerrecht sowie dem gewandelten
innerstaatlichen Verfassungsverständnis widersprechen. Das Verhältnis von Staat
und Religionsgemeinschaft berührt schließlich auch die von Niklaus Herzog
aufgeworfene, im Kanton Zürich kürzlich aktuell gewordene Frage: „Muslimische
Grabfelder auf öffentlichen Friedhöfen?“ (S. 105‑117). Im Anschluss an
ein Urteil des schweizerischen Bundesgerichts gelangt der Autor zu einer
verneinenden Antwort.
Einen zweiten Schwerpunkt der Festschrift bildet die
rechtliche Volkskunde. So berichtet Thomas J. Grichting über „Wein und
Strafen im alten Wallis“ (S. 63‑86) und Claudia Seiring stellt
rechtsgeschichtliche Aspekte des Phänomens Zeit vor: „Jahr und Tag ‑
Aspekte zur Zeit als Forschungsgegenstand der Rechtsgeschichte, der
Rechtsarchäologie und der rechtlichen Volkskunde“ (S. 125‑156).
„Praktizieren“ nannte man in der Alten Eidgenossenschaft die aus heutiger Sicht
zumindest zweifelhaften, damals aber üblichen Methoden, die von Kandidaten zur
Erlangung von Ratsstellen und Staatsbeamtungen angewendet wurden. Ein
anschauliches Bild vom „Praktizieren im alten Freiburg“ (S. 51‑61)
innerhalb der städtischen Oberschicht vermittelt Heinrich Frank. Neben
dem Ausrichten von Gastmählern und Geldgeschenken standen auch originellere
Formen der Wahlbeeinflussung im Gebrauch. So etwa das Wetten gegen sich selber:
Der Kandidat wettete mit möglichst vielen Wählern, dass er nicht gewählt werde.
Diese Wähler hatten ein Interesse daran, die Wette zu gewinnen und also dem
Kandidaten ihre Stimme zu geben. Als Oberwalliser wird Louis Carlen vielleicht
über den Beitrag von Francisca Schmid‑Naef geschmunzelt haben, die
unter dem Titel „Seldwyla ist überall“ (S. 119‑124) ‑ in Anspielung
an Gottfried Kellers Novellen „Die Leute von Seldwyla“ ‑ über ein
Maiensässreglement der Gemeinde Filet (VS) referiert, das im Sinne alter
Rechtsstrukturen, aber im Widerspruch zu den Grundsätzen des geltenden Rechts
alle „nicht‑einheimischen“ Grundstückseigentümer in der Maiensässzone mit
einem Veräusserungsverbot belegen wollte. Zu einem ganz anderen Thema, das
nicht zuletzt auch Historiker interessieren muss, nämlich zum neuen
schweizerischen Archivgesetz, steuert Johannes Theler einige kritische
Anmerkungen bei (S. 157‑171). Alles in allem: Trotz einigen störenden
Druckfehlern ein anregendes Buch mit manchen aktuellen Bezügen.
Basel Hans‑Rudolf
Hagemann
[1] Festschrift für Louis Carlen zum 60.
Geburtstag, hg. v. Morsak, Louis C./Escher, Markus. Schulthess, Zürich
1989. Vgl. dazu Werner Ogris in: ZRG Germ. Abt. 107 (1990), S. 467‑472.