GebhardtStegmann20000919
Nr. 10070 ZRG 118 (2001)
Stegmann, Dirk, Politische Radikalisierung in der
Provinz. Lageberichte und Stärkemeldungen der Politischen Polizei und der
Regierungspräsidenten für Osthannover 1922-1933 (= Veröffentlichungen der
Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 35 = Quellen und
Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit 16).
Hahn, Hannover 1999. 588 S.
Die
vorliegende Edition dokumentiert den Prozess der politischen Radikalisierung
und damit auch den Aufstieg der NSDAP in den Jahren 1922 bis 1933 an Hand von
Berichten der Polizei und der Regierungspräsidenten im Wahlkreis Ost‑Hannover.
Diese Region, die vom Städtedreieck Hamburg, Bremen und Hannover eingerahmt
wird, ist aus mehreren Gründen besonders interessant. Einerseits entspricht der
Bevölkerungsquerschnitt dem typischen NSDAP‑Wähler: protestantisch,
Mittelstandsangehöriger aus dem Bereich des Kleingewerbes oder der
Landwirtschaft in einer ländlichen Region. Die Beobachtung des Aufstiegs der
NSDAP in Ost‑Hannover von einer Zwei‑Prozent‑Partei des
Jahres 1928 zur unumstrittenen Mehrheitspartei von über 49 Prozent im Juli 1932
wird andererseits dadurch besonders aufschlussreich, da ab Herbst 1928 der
NSDAP‑Parteigau deckungsgleich mit dem Wahlkreis war und deshalb die
Ausbreitung der Parteistrukturen deutlich verfolgt werden kann.
Dem
eigentlichen Editionstext vorangestellt ist eine sehr ausführliche Einführung
in die sozialen, ökonomischen, politischen und administrativen
Rahmenbedingungen. Dabei werden insbesondere auch der Aufbau der Verwaltung
sowie die Struktur der Politischen Polizei geschildert. Zudem wird ein
besonderes Augenmerk auf die damaligen Repräsentanten der Administration
gelegt. Die Persönlichkeitsprofile und die Amtsführung des Oberpräsidenten, der
Regierungspräsidenten sowie der Polizeidirektoren geben tiefe Einblicke in die
Hintergründe der staatlichen Verwaltung auf Provinzebene.
Im
eigentlichen Quellenteil finden sich zunächst Dokumente zur Frühphase der NSDAP
und der bäuerlichen Protestbewegung in den 20er‑Jahren, im Folgenden dann
Berichte zum Linksradikalismus und Rechtsradikalismus ab 1929 sowie die
monatlichen Lageberichte der Polizeipräsidenten und Regierungspräsidenten.
Ergänzt werden diese Schriftstücke durch genaue Auflistungen der zahlenmäßigen
Stärke sowie der personellen Struktur der radikalen Parteien mit ihren
Vorfeldorganisationen. Abgerundet werden die staatlichen Quellen durch erhalten
gebliebene Materialien der NSDAP, die als Kontrollbelege die zum Großteil hohe
Genauigkeit der amtlichen Berichte dokumentieren.
Bei der
Lektüre der einzelnen Quellen ergeben sich vielfältige Einblicke in die
damaligen politischen Strukturen dieser überwiegend agrarisch geprägten Region
mit rund einer Million Einwohnern, die mit Harburg‑Wilhelmsburg nur eine
einzige Großstadt aufwies. So zeigt sich zunächst, dass es die NSDAP geschickt
verstand, die ab 1927 voll einsetzende agrarische Krise für ihre Zwecke zu
nutzen, während die KPD kaum Fuß fassen konnte. Die damals vor allem dominierenden
bürgerlichen Honoratioren‑Politiker, die auf die krisenhaften
Herausforderungen keine glaubhaften Antworten gaben, wurden als angeblich
jüdisch unterwanderte Freimaurer denunziert, im nächsten Schritt wurden
konservative Werte und Mentalitäten besonders hervorgehoben. Daneben gelang es
der NSDAP, in vielen Dörfern Persönlichkeiten mit erheblichem Sozialrenommee
anzuwerben. Trotzdem verlief der Aufstieg der NSDAP nicht geradlinig, sondern
mit vielen Umbrüchen in der Anhängerschaft, die insbesondere durch teilweise
heftige interne Machtkämpfe unter den NSDAP‑Politikern verursacht wurden.
Die Polizei‑
und Regierungsstellen scheuten zum Schutz der Republik nicht vor dem Einsatz
der polizeilichen Machtmittel des preußischen Staates zurück, vor allem mit
harten Versammlungsverboten und polizeilicher Überwachung, wobei ihnen das
Republikschutzgesetz von 1922 als Rechtsgrundlage diente. Es wurde jedoch bald
evident, dass die politischen Abteilungen, die bei den staatlichen
Polizeibehörden eingerichtet waren, personell unterbesetzt und teilweise auf
die Berichte der Landjägerei angewiesen waren. Unter diesen gab es freilich
rasch viele, die mit den radikalen Parteien der Rechten sympathisierten, was
sich dann in der Berichterstattung niederschlug. Aber auch in den
Spitzenpositionen der Polizei waren Beamte vorhanden, die sich gegenüber der
NSDAP sehr tolerant verhielten oder sogar als deren Mittelsmänner bzw. Zuträger
agierten. Zwar versuchte auch die KPD, die Polizeibeamten für ihre Ziele zu
gewinnen, doch nur mit sehr mäßigem Erfolg. Es gab aber auch viele
Polizeiführungsbeamte, die bis zur Machtergreifung sehr klar und eindeutig die
verfassungsfeindlichen Kräfte verfolgten.
In den
Berichten werden die jeweiligen Aktivitäten der extremen Parteien sowie die Versammlungen
mit Programmpunkten, Teilnehmerzahlen und besonderen Vorkommnissen dokumentiert,
wobei sich ab dem Jahre 1929 ein sprunghafter Anstieg der Versammlungstätigkeit
der NSDAP beobachten lässt, während die KPD am flachen Land einen schweren
Stand hatte. Ab Anfang 1931 begannen zudem die Straßenkämpfe und
Ausschreitungen zwischen den radikalen Parteien. Die Aktivitäten der Polizei,
aber auch der KPD, wurden ab Beginn der 30er‑Jahre von den Nazis
systematisch überwacht, um einen Handstreich der Kommunisten zu unterbinden.
Interessant ist, dass die Polizeibeobachter bereits 1931 den Eindruck gewonnen
hatten, dass die von der NSDAP‑Parteiführung nach außen vertretene
Meinung, die Macht nur auf legalem Weg erringen zu wollen, nicht ganz ernst zu
nehmen sei.
Insgesamt
bieten das Buch und die darin enthaltenen Dokumente jedenfalls facettenreiche
Einblicke in die politische Szenerie und das polizeiliche Vorgehen gegenüber
der zunehmenden Radikalisierung der Parteieinlandschaft auf Provinzebene in
den Jahren vor der Machtergreifung. Ergänzt wird die gelungene Edition durch
mehrere Register, darunter vor allem ein Personen‑ und Ortsregister sowie
ein Verzeichnis der politischen Verbände und Organisationen, die die Nutzung
der Quellen für weiter reichende Forschungen sehr erleichtern.
Graz Helmut
Gebhardt