FloßmannHarmat20000904 Nr. 10038 ZRG 118 (2001)

 

 

Harmat, Ulrike, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918-1938 (= Ius Commune Sonderheft 121). Klostermann, Frankfurt am Main 1999. XII, 560 S.

Die Handlung der österreichischen Posse unter dem Titel „Eherechtswirrwarr zwischen den beiden Weltkriegen“ war ‑ wie bei Stücken dieser Art üblich ‑ sehr dünn, allerdings wurde daraus dank hochkarätiger juristischer Besetzung ein Lehrstück moderner Rabulistik. Insofern besteht auch heute noch ein gewichtiges Interesse an der schonungslosen Aufdeckung nicht zuletzt politisch und religiös motivierter Irrwege auf der Ebene der Rechtsanwendung des österreichischen Eherechts in jener Zeit. Die Vorgeschichte führt in das Jahr 1868 zurück, als der österreichische Gesetzgeber die eherechtlichen Bestimmungen des Konkordats von 1855 aufhob und das (gemäßigt, konfessionelle) Eherecht des ABGB von 1811 erneut in Kraft setzte. Ohne daß sich inhaltlich Gravierendes in der Eherechtsfrage für Katholiken dadurch änderte ‑ ihre Ehe blieb dem Bande nach unauflösbar ‑ wurde diese dennoch zur Prima Causa der österreichischen Kulturpolitik aufgeschaukelt und nach dem Untergang der Monarchie als weltanschauliches Polarisierungsinstrument weitergepflegt. Für die einen ging es darum, am ABGB‑Verbot der Wiederverheiratung für Katholiken unerschütterlich festzuhalten, für die anderen im europäischen Gleichklang zur obligatorischen Zivilehe vorzudringen. Um jederzeit Öl in das Feuer dieser, wie es damals hieß, Kulturdebatte gießen zu können, wurde ab 1919 die Eherechtsfrage von der Christlichsozialen Partei zur „Koalitionsfrage“ erklärt, und damit eine bis heute übliche Politikform der Unnachgiebigkeit ins Spiel gebracht. Nun war der Boden bestellt, auf dem das in der österreichischen Eherechtsgeschichte wohlvertraute Phänomen „Rechtsumgehung“ seine schönsten Blüten treiben konnte. An die Stelle einer politisch nicht durchsetzbaren Säkularisierung und Modernisierung des österreichischen Eherechts traten Dispenspraxen, deren „unbezwingliche Komik“ vom ausländischen Publikum mit Staunen registriert, von vielen Inländerinnen aber als Paradebeispiel für die strukturelle Unaufrichtigkeit der österreichischen Rechtspflege kritisiert wurde (zutreffend Harmat im Vorwort). Gerade jenen, denen die Heiligkeit des bestehenden Ehebandes auch für das staatliche Recht unabdingbar schien, war die Erteilung der Dispens vom Ehehindernis des bestehenden Ehebandes durch die Landesstelle (§ 83 ABGB aF) und damit die einzelfallbezogene Wiederverheiratungsmöglichkeit für Katholiken das kleinere Übel als eine grundlegende Rechtsreform. Eine Einstellung der von ihnen sehr wohl verteufelten Dispenspraxis strebten gerade sie nicht an! Da das Ganze von einem kontrovers diskutierten Rechtsstreit der österreichischen Höchstgerichtshöfe begleitet, gestützt und auf eine juristische Metaebene gehoben wurde, blieb die reflexive Bearbeitung von Seiten der Rechtswissenschaft nicht aus. Standen in der ersten Republik aktuelle Fragen der Gültigkeit bzw. Zulässigkeit der Dispensehen und deren Auswirkungen auf Privatrechtsansprüche im Mittelpunkt des Interesses, wurde nach der nationalsozialistischen „Rechtsbereinigung“ der österreichischen Ehefrage durch das Ehegesetz 1938 und dessen Überleitung in den Rechtsbestand der zweiten Republik Untersuchungsschwerpunkte in rechtshistorischer und zeitgeschichtlicher Perspektive gewählt. Primetshofer vermittelte als Vertreter des Kirchenrechts in seiner 1960 publizierten Arbeit „Ehe und Konkordat“ einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des österreichischen Eherechts und widmete dabei dem „Aufkommen der Dispensehen und deren rechtliche Problematik“ eine auf das formaljuristisch Wesentliche konzentrierte Kurzpassage (S. 18‑21). Im selben Jahr erweiterte Weinzierl‑Fischer als Vertreterin der Zeitgeschichte die Behandlung dieses Themenbereiches mit einem Einblick in die kulturpolitische Situation der ersten Republik, wobei die überragende Bedeutung weltanschaulicher Fragen für die Politik der damaligen Großparteien, insbesondere der Christlichsozialen, herausgearbeitet wurde (Die österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, 151ff.). Auf dieses neue Quellenmaterial gestützt, konnte Lehrer (Familie ‑ Recht ‑ Politik. Die Entwicklung des österreichischen Familienrechts im 19. und 20. Jahrhundert, [1987]) den kulturpolitischen Streit in seine Habilitationsschrift integrieren. In Summe vermittelte die zeit/rechts/geschichtliche Befassung in diesen Werken das Bild eines abschließend geklärten historischen Vorganges; grundlegend neue Erkenntnisse dazu wurden kaum mehr erwartet, das Kapitel „Dispensehen“, auch als „Sever‑Ehen“ umschrieben, schien abgeschlossen.

Um so mehr überrascht es, daß es Ulrike Harmat in ihrer am Institut für Geschichte der Universität Wien verfaßten Dissertation gelingt, völlig neue Aspekte im „System der Unaufrichtigkeit“ (so Roller, Österreichisch‑Deutsche Eherechtsangleichung 1929, S. 27 ‑ zit. nach Harmat, Vorwort XI) aufzudecken. In einer dichten Vernetzung umfangreicher neuer Quellen mit höchstgerichtlichen Erkenntnissen und zeitgenössischer Rechtsliteratur lotet Harmat die politische und rechtliche Dimension des österreichischen Dispensstreites bis ins letzte Detail aus und ‑ das sei vorweg festgehalten ‑ stellt einen glänzend und packend geschriebenen Beitrag zur Geschichte der österreichischen „Rechtskultur“ vor.

Harmat gliedert ihre Arbeit ins 6 Abschnitte. Am Beginn steht eine entwicklungsgeschichtliche Einführung in das österreichische Eherecht beginnend mit der Ehegesetzgebung von Joseph II. bis 1934, also bis zu jenem Jahr, indem erneut das österreichische Eherecht durch ein Konkordat betroffen wurde. Besonderes Augenmerk legt Harmat dabei auf das komplizierte, weil konfessionsabhängige Ehescheidungsrecht des ABGB, das für Katholiken nur die Scheidung von Tisch und Bett vorsah, ohne das Eheband zu berühren (§ 111 ABGB aF). Daß diese Rechtslage bereits vor 1918 Initiativen zur Reform des Eherechtes reifen ließ, vor allem aber angesichts der Erfolglosigkeit dieser Bemühungen erste interessante Möglichkeiten der Rechtsumgehung zu nähren wußte, wird ebenso einsichtig wie anschaulich dargelegt.

Der zweite Abschnitt des Buches schließt mit der Diskussion der Eherechtsreform am Beginn der Ersten Republik an (S. 73ff.). Hier schildert Harmat ausführlich die Bemühungen der Sozialdemokraten, eine Neuordnung des österreichischen Eherechtes herbeizuführen, welche allesamt am Widerstand der Christlichsozialen scheiterten. Selbst die kuriose Situation, daß seit dem Erwerb des Burgenlandes 1922 im kleinen Österreich zwei Eherechtssysteme in Geltung standen, deren Grundprinzipien nicht in Einklang zu bringen waren, ließ keine (rechts)politische Vernunft aufkommen. Das ungarische Eherecht, dessen Weitergeltung vom burgenländischen Landtag erfolgreich durchgesetzt wurde, bekannte sich zur obligatorischen Zivilehe und zur Auflösung der Ehe dem Bande nach, das für das übrige Staatsgebiet geltende ABGB 1811 schloß dies gerade für Katholiken aus; anstelle der gescheiterten Eherechtsreform bot sich hier nur die Dispenspraxis an.

Damit ist das Kernstück der Arbeit im 3. Abschnitt (S. 125‑343) angesprochen, das die Geschichte der sog. „Dispensehen“, den Streit um deren Rechtsgültigkeit sowie die politische Auseinandersetzung über diese Frage einfängt. Als „Eherechtsreform im Verwaltungswege“ verstanden, sollten Dispensehen den auf dem Gesetzgeber lastenden Reformdruck mildern. Während sie in der Monarchie noch eine Ausnahme darstellten, wurden sie nach 1918 zur Massenerscheinung. Bekannter unter dem Namen „Sever‑Ehen“ (der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich Albert Sever setzte dieses Scheidungsinstrumentarium forciert seit 1919 ein), wurde den von Tisch und Bett geschiedenen Katholiken nach Dispensierung vom Ehehindernis des bestehenden Ehebandes eine Wiederverheiratung ermöglicht. Gestützt auf § 83 ABGB aF, wonach der Landesstelle das Recht zukam, von Ehehindernissen zu dispensieren, erteilten überwiegend die (wenigen) sozialdemokratischen Landeshauptleute Dispense (S. 174ff.). Doch derartige Nachsichten wurden auch vom Bundeskanzleramt erteilt, worauf sich die Hoffnungen der Dispenswerber in den christlichsozial regierten Bundesländer stützten. Sie mußten nur gegen die Verweigerung der Ehedispens durch „ihre“ Landesstelle an das Bundeskanzleramt berufen. Dazu erließ diese Zentralbehörde sogar am 27. 8. 1919 einen Runderlaß an alle Landesregierungen, in dem die Richtlinien für die Behandlung der Dispensgesuche vorgegeben wurden und in den folgenden Jahren auch die Grundlage für die Dispenserteilung bildete (S. 168ff.). Demzufolge sollte die Dispensbehörde die Eingebung einer zweiten Ehe nur dann ermöglichen, wenn anstelle einer unheilbar zerrütteten, geschiedenen Ehe eine zweite trat, die die Eigenschaften der Ernstlichkeit und Haltbarkeit versprach. Ebenso wurde eingemahnt, Auswirkungen der zweiten Ehe auf beteiligte Dritte (etwa Kinder aus der geschiedenen ersten Ehe, Erbrecht bzw. Witwenpension der geschiedenen ersten Ehegattin) mitzugedenken und die Einstellung des verlassenen Partners zur Wiederverehelichung sowie seine Absicht, ebenfalls eine Wiederverheiratung anzustreben, zu erforschen. Dies alles sollte von der Verwaltungsbehörde unter dem Aspekt gewürdigt werden, die Dispensehe als Ausnahme erscheinen zu lassen, da die führende Regierungspartei, die Christlichsozialen, die Dispenspraxis formell abzulehnen hatte. In Wahrheit, das macht die ausschließlich quellenbezogene, fast krimiartige Recherche über die Eherechtsfrage jener Zeit durch Harmat klar, ging es darum, das Thema „ruhig zu stellen“. Die Christlichsozialen setzten sich auf diese Weise faktisch über das Dogma der Unlösbarkeit katholischer Ehen hinweg und tolerierten das kleinere Übel der Dispenspraxis, von dem wie Harmat nachweist, auch viele Parteimitglieder profitieren (S. 248). Ihre Koalitionspartner (insbesondere die Großdeutschen seit 1922) wiederum sicherten sich quasi als Entschädigung für die nicht durchgeführte gesetzliche Ehereform den Weiterbestand der Dispenspraxis. Dieser Deal ermöglichte den Christlichsozialen überdies, ein gemeinsames Vorgehen von Sozialdemokraten und Großdeutschen in der Frage der Eherechtsreform zu verhindern. Die Dispenspraxis wurde so zum bestgeeigneten „Ventil“ für die nicht zustandegekommene Eherechtsreform (S. 253).

Von dieser politischen Zielsetzung blieb auch der parallel dazu in Schwung gekommene Rechtsstreit (S. 194 ff.) nicht unberührt. Wie Harmat im peniblen Nachvollzug der Diskussion unter den Juristen darlegt, flossen in fast alle Wortmeldungen neben rechtlichen Argumenten politische Standpunkte ein. Brennpunkte für die Auseinandersetzung gab es mehrere, vor allem den Umstand, daß die Dispens unweigerlich zum Nebeneinanderbestehen zweier Ehen führte, nämlich der geschiedenen ersten, die dem Bande nach weiterbestand, und der zweiten, für welche die Nachsicht erteilt wurde. Dazu gesellte sich die Frage, ob vom Ehehindernis des bestehenden Ehebandes nach § 83 ABGB aF überhaupt dispensiert werden konnte. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch enthielt nämlich keine Aufzählung der dispensablen Ehehindernisse, sondern nur den Hinweis auf „auflösliche“ Ehehindernisse. Der Verwaltungsgerichtshof jedenfalls hob im März 1921 (Z. 1265/1921) eine vom Bundeskanzleramt erteilte Dispens als „gesetzlich nicht begründet auf' (S. 212ff.) und wies dem verlassenen Ehegatten Parteistellung sowie Berufungsrecht zu. Das wiederum lehnte das Bundeskanzleramt ab und wollte sich mit der Zustimmung des anderen Ehegatten zur Dispenserteilung begnügen. Gerade wegen dieser Unsicherheit holte die Regierung ein Gutachten des Obersten Gerichtshofes ein (S. 222ff.). Nach diesem Gutachten aus dem Jahr 1921 (Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil‑ und Justizverwaltungssachen. Band 4, 1922, Wien 1923, Nr. 155, S. 406ff.) war die Anfechtung und Ungültigerklärung der Dispensehen für jedermann möglich. Allerdings, so stellte der Oberste Gerichtshof weiters klar, handelte es sich bei der Dispensehe auch um keine Nichtehe, solange sie nicht als ungültig erklärt worden war. Damit war die „Ehe auf jederzeitigen Widerruf“ kreiert, deren Bestand vom Zufall bestimmt war, ob sie von irgendeiner Seite angefochten wurde oder nicht. Diese Rechtsauffassung bestimmte bis 1927 die Judikatur der Gerichte in Dispensangelegenheiten.

Eine sensationelle juristische Wende brachte das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 5. 11. 1927 (VfSlg 878), das den Dispensehegatten einen Weg wies, die gerichtliche Ungültigkeitserklärung ihrer Ehe durch Anrufung des Verfassungsgerichtshofes zu unterbinden. Unter Berufung auf eine neue Bestimmung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes von 1925 (§ 68 AVG), wonach Verwaltungsakte nur im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden aufgehoben werden könnten und daher den ordentlichen Gerichten gegenüber verbindlich seien, bejahte der Verfassungsgerichtshof das Vorliegen eines „bejahenden Kompetenzkonfliktes“ und entschied, daß das erkennende Gericht seine Zuständigkeit überschritten habe und nicht berechtigt sei, die Gültigkeit der erteilten Nachsicht zu überprüfen. So sehr die von Harmat recherchierten positiven Auswirkungen auf die Betroffenen unser Verständnis finden, bedrückender noch mutet die überzogene Kritik der Entscheidungsgegner, vor allem der Christlichsozialen, an. Wurde der Vorwurf an den Verfassungsgerichtshof, die Bigamie zu fördern und als „Umgehungsgerichtshof“ zu fungieren, noch generell in den Raum gestellt, richtete sich die Speerspitze der Kritik auf Hans Kelsen. Er, der als ständiger Referent nachweislich großen Einfluß auf das Erkenntnis genommen hatte, wurde als ein der sozialdemokratischen Partei nahestehender, politischer Richter diffamiert. Seine, von der Historikerin Harmat juristisch fein aufbereitete, Verteidigung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (nachzulesen in Kelsen, Justiz und Verwaltung [1929]) setzte demgegenüber einen Markstein in der rechtstheoretischen Auseinandersetzung zur Parität von Justiz und Verwaltung. Kelsen ging es nicht um die Verteidigung der Dispensehe, sondern um die Wahrung der Kompetenz der Verwaltungsbehörden gegenüber den Gerichten.

Dennoch, das Chaos juristischen Argumentationen war größer geworden. Mit Spannung wurde daher die Stellungnahme des Obersten Gerichtshofes zum Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs erwartet (S. 317ff.). Sie erging 1928 in einem ergänzenden Gutachten, das an den 1921 formulierten Leitsätzen und im wesentlichen auch an der damaligen Begründung festhielt. Zur aktuellen Situation befand der Oberste Gerichtshof, daß die Ehedispense „absolut nichtige“ Verwaltungsakte seien, also ein „rechtliches Nichts“, dem keine wie immer geartete Bindungswirkung zukomme (S. 319). Sofern allerdings der Verfassungsgerichtshof in einem konkreten Ehedispensfall einen Kompetenzkonflikt festgestellt hätte, wären die Gerichte zu einer selbständigen Entscheidung über die Nachsichterteilung nicht mehr befugt (S. 320). Mit Recht betont Harmat, daß dieses selbst vom Obersten Gerichtshof als „unerfreulich“ und „unbefriedigend“ bezeichnete Ergebnis nicht nur die Weichen für die zwiespältige Rechtsprechung der beiden Höchstgerichte in der Folgezeit stellte, sondern auch das politische System der Unaufrichtigkeit absicherte. Eindrucksvoll arbeitet Harmat heraus, wie sich die in weiterer Folge immer kurioser werdende Dispenspraxis gegen Ende der 20er Jahre etablierte. Besonders aufschlußreich ist dabei der von der Autorin gewährte Blick auf das politische Dispenschaos nach Eintritt des christlichen Landbundes 1927 in die Regierung (S. 328ff.), welcher der Großdeutschen Partei nicht nur das Vizekanzleramt, sondern auch das damit verbundene „Gewohnheitsrecht“ zur verhältnismäßig großzügigen Dispenserteilung in Vertretung des Bundeskanzlers streitig machte. Um die Koalition nicht platzen zu lassen, andererseits aber auch nicht das christliche Gesicht zu verlieren, wurde nach einem vorübergehenden Stillstand in der Dispenserteilung im Mai 1929 die Vereinbarung getroffen, dem großdeutschen Handelsminister (!) die Dispenserteilung zu übertragen ‑ eine wie Harmat anhand von Zeitungsartikeln nachweist (S. 342) heftig kritisierte Vorgangsweise.

Zeitgleich dazu versuchten die Sozialdemokraten, die österreichische Liga für Menschenrechte und der Eherechtsreformverein eine Modernisierung des Eherechts zu erzwingen (4. Abschnitt, S. 345ff.). Dabei spielte auch die Frage der Angleichung des österreichischen Eherechts an das Eherecht des deutschen Reiches, eine wichtige Rolle (S. 372ff.). In den Grundsätzen stimmte das deutsche Eherecht mit dem im Burgenland geltenden ungarischen Eherecht überein, sodaß im Jänner 1929 im Nationalrat die Aufforderung an die Regierung erging, eine Regierungsvorlage über die Angleichung des Eherechts an das des deutschen Reiches auszuarbeiten. Als schließlich 1930 ein Ehegesetzentwurf vom Bundesministerium für Justiz erstellt wurde, wollten die Christlichsozialen und der christliche Landbund ihre Zustimmung zur Eherechtsreform von der Stellungnahme der katholischen Kirche abhängig machen. Diese initiierte zu diesem Zeitpunkt jedoch eine ganz andere Lösung des Problems, nämlich erneut den Weg eines Konkordates (S. 399ff.). Die „Entpolitisierung des Verfassungsgerichtshofs“ im Zuge der Verfassungsreform 1929 (5. Abschnitt, S. 403ff.) schuf die besten Voraussetzungen hierfür, ging es doch in Wahrheit um eine Umpolitisierung dieses Höchstgerichtshofes, die auch tatsächlich erfolgreich durchgezogen wurde. Um die vermeintliche Dominanz des sozialdemokratischen Einflusses zu brechen, wurden die Richter nicht mehr von den gesetzgebenden Körperschaften gewählt, sondern aufgrund von Vorschlägen der Bundesregierung, des Nationalrates und des Bundesrates vom Bundespräsidenten ernannt. Die sorgfältige Befunderhebung der Autorin läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Christlichsoziale Partei damit auch das Ziel verfolgte, die Praxis des Verfassungsgerichtshofs im Bereich der Dispensehen umzuwerfen: Sie schlug jenen Richter des Obersten Gerichtshofs für den Verfassungsgerichtshof vor, der das Gutachten gegen die Dispensehen verfaßt hatte (S. 409). Wie Harmat hervorhebt, stieß die Umpolitisierung auf scharfe Kritik in der Presse und in der Öffentlichkeit, vor allem was das Ausscheiden Kelsens aus dem Verfassungsgerichtshof betraf (S. 410ff.). Nun folgte, wie die Autorin sehr genau nachweist, eine Politik immer neuer Hindernisse für Dispenswerber und Dispensehegatten. Dieses Bild wird bestätigt durch den Erlaß des Bundeskanzleramtes vom 5. 7. 1930 (S. 415ff.), der eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes zum Anlaß nahm, dem geschiedenen Gatten eines Dispenswerbers eine Beschwerderecht gegen den Antrag auf Dispenserteilung einzuräumen. Nicht zufällig am gleichen Tag verhandelte der neu zusammengesetzte Verfassungsgerichtshof, dessen neuer Stil der Entscheidungsfindung eindrucksvoll von Harmat herausgearbeitet wird, über 4 Ehedispensfälle. Im Ergebnis wurde das Vorliegen von bejahenden Kompetenzkonflikten verneint und zum Rechtszustand vor 1927 zurückgekehrt. Im Pressespiegel feierte die der Christlichsozialen Partei nahestehende Reichspost das Erkenntnis als „Sieg des Rechtes“, die Arbeiter Zeitung durfte den „Sieg des Klerikalismus im Verfassungsgerichtshof“ beklagen. Der Ruf nach einer Eherechtsreform wurde jetzt noch stärker.

Im letzten Abschnitt geht Harmat ausführlich auf die Konkordatsverhandlungen ein (S. 449ff.), die im Februar 1930 begannen und am 5. Juni 1933 mit der Unterzeichnung des Vertrages endeten. Ratifiziert wurde das Konkordat am 1. Mai 1934, am Tag der Publikation der autoritären‑ständischen Verfassung, die im „Namen Gottes“ erlassen wurde. Wie die Autorin hervorhebt, war das Ergebnis der Konkordatsverhandlungen enttäuschend. Es kam weder zu einer Neuregelung des Eherechts, noch zu einer Sanierung der Dispensehen. Die Dispenspraxis kam allerdings zum Erliegen und wurde nur mehr in jenen Fällen, in denen es den kirchlichen Vorstellungen entsprach, am Leben erhalten. Die Frage der Trennbarkeit der Katholikenehe wurde nicht mehr thematisiert und erst im nationalsozialistischen Ehegesetz 1938 durch die Einführung der obligatorischen Zivilehe endgültig beantwortet (S. 529ff.).

Mit dieser geschlossenen Arbeit hat die Dissertantin Ulrike Harmat einen großartigen Beitrag zu den politischen Hintergründen des österreichischen Eherechtschaos in der Ersten Republik geleistet. Sie beschränkt sich eben nicht ‑ wie in der bisher erschienen Rechtsliteratur vorherrschend ‑ auf die Darstellung der Rechtslage und der höchstgerichtlichen Rechtsmeinungen, sondern erläutert präzise die dahinter stehenden Erwägungen, bezieht praktische Fälle in auffallend sorgfältiger Weise ein, läßt auch die Reaktion der Presse und der Öffentlichkeit nicht außer Acht und scheut sich nicht, unterschiedlichstes Quellenmaterial wie Stellungnahmen einschlägig befaßter Vereine, Ausschußberichte zur Eherechtsfrage, verwaltungsinterne Verfügungen, Vorstandssitzungsprotokolle der Parlamentsklubs der Parteien, aber auch Briefwechsel einzubeziehen. Darüber hinausgehende ausführliche Literaturhinweise veranschaulichen die damaligen Zustände in einer bisher nicht gebotenen Intensität, die selbst in der Wiedergabe und Bewertung juristischer Diskurse keine Wünsche offen läßt. Ein größeres Kompliment kann einer historischen Dissertation und wohl auch dem wissenschaftlichen Betreuungsteam (Stourzh und Grandner) nicht gemacht werden. Zu Recht wurde diese Arbeit in die Reihe Sonderhefte Ius Commune aufgenommen, denn sie läßt das bisher zur Dispenspraxis Publizierte teils überholt, teils allzu dürftig erscheinen. Diese Arbeit wird, davon bin ich überzeugt, auch in keiner juristischen Bibliothek fehlen. Herzliche Gratulation an die Verfasserin zu dieser Doktorarbeit!

Linz                                                                                                                         Ursula Floßmann