FenskeDowe20000630 Nr. 10085 ZRG 118 (2001)
Parteien im Wandel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik.
Rekrutierung – Qualifizierung – Karrieren, hg. v. Dowe,
Die zwölf Beiträge dieses Bandes gingen aus den Referaten
während eines von der Stiftung Reichspräsident‑Friedrich‑Ebert‑Gedenkstätte
im Herbst 1997 veranstalteten Symposiums hervor. Beigefügt ist die erweiterte
Fassung eines öffentlichen Abendvortrags im Rahmen der Tagung, in dem
Unter Aufgebot eines umfangreichen Zahlenmaterials gibt Wilhelm
Heinz Schröder eine Kollektivbiographie der 562 Sozialdemokraten, die im
Kaiserreich und in der Weimarer Republik ein Reichstagsmandat erlangten. Er
zeigt, daß die Partei früh eine Schicht hauptamtlicher Funktionäre ausbildete
und insofern den anderen Parteien in der Entwicklung zur modernen Massenpartei
deutlich voraus war. Diese Leute beherrschten die Reichstagsfraktion bis 1933
schlechthin. Gemessen an den Karriereverläufen war die Entwicklung in der
Partei durch Jahrzehnte hin sehr kontinuierlich. Auf der Ebene der Kommunen und
zum Teil auch der Einzelstaaten wuchs die Sozialdemokratie schon vor 1914
allmählich in die politische Klasse hinein. Nach 1918 setzte sich dieses Prozeß
entschieden und beschleunigt fort, jetzt auch im Reich. Nach Ansicht Schröders
kam er erst in der Bonner Republik zu einem Ende.
Wolther von Kieseritzky
legt dar, daß die Liberalen im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg kräftige
Anstrengungen zur Anpassung an die Bedingungen des politischen Massenmarktes
machten. Zahlreiche liberale Vereine wurden gegründet, und die
Gesamtorganisation wurde verbessert. Das abzubauende Defizit war allerdings
groß. Mit Recht verweist Manfred Hettling darauf, daß die
Honoratiorenstruktur weiterhin große Bedeutung behielt, auch nach 1918. Die
Parteizentralen waren stets unterfinanziert, da die Zahlungsmoral der
Mitglieder schlecht war. Die in zunehmender Zahl eingestellten Parteisekretäre
konnten nur mäßig bezahlt werden. So handelte es sich bei diesen Positionen um
Karrierestufen, die meistens schnell durchlaufen wurden. Der Gleichmäßigkeit
der Arbeit war das nicht förderlich. Ludwig Richter befaßt sich mit dem
Weg von der Nationalliberalen Partei zur Deutschen Volkspartei, wie er das auch
an anderer Stelle schon eingehend getan hat, und zeigt, daß die Verantwortung
für das Scheitern einer gesamtliberalen Einigung bei der Gruppe dogmatisch‑idealistischer
Intellektueller um Alfred Weber und Theodor Wolff liegt. Es ist allerdings
fraglich, ob die Fusion, wäre sie denn zustande gekommen, gehalten hätte. Die
Erfahrungen, die die FDP noch in den 50er Jahren machte, stimmen eher
skeptisch.
Der Konservativismus ist in dem vorliegenden Bande schwach
vertreten. Wolfgang Zollitsch untersucht die politische Rolle des
ländlichen Adels in der Mark Brandenburg im späten Kaiserreich und in der
Weimarer Zeit und diagnostiziert einen kontinuierlichen Verlust an Bedeutung. Siegfried
Weichlein befaßt sich mit der Stellung der ‚Multifunktionäre’, also derer,
die gleichzeitig mehrere politische Ämter innehatten, am Beispiel des Zentrums
und der Sozialdemokratie in der Region Kassel. Es wird deutlich, daß die
Entwicklung im Zentrum erheblich diskontinuierlicher verlief als in der SPD.
Das Gewicht der Multifunktionäre ging nach 1918 im politischen Katholizismus
sehr zurück. Mit seiner Studie über die parlamentarischen Eliten in Preußen
zwischen 1913 und 1921 belegt Andreas Biefang die vor anderthalb
Jahrzehnten von Horst Möller genannten Gründe für die Stabilität im
Preußen der Weimarer Zeit erneut: für die gravierenden Probleme der Politik
hatte das Land keine Zuständigkeit. Die Zusammensetzung der Fraktionen ‑
in der Führungsebene bestand beachtliche Kontinuität über 1918 hinweg, bei den
einzelnen Abgeordneten weniger ‑ spielte hinsichtlich der Stabilität
allenfalls eine sekundäre Rolle. Am Beispiel Erfurts untersucht Jürgen
Schmidt Karriereverläufe sowohl innerhalb der SPD wie bei den bürgerlichen
Parteien zwischen 1871 und 1924 und belegt auch hier ein beachtliches Maß an
Kontinuität. Für beide Lager galt: Wer Karriere machen wollte, brauchte eine
feste Verwurzelung im jeweiligen Milieu und mußte sowohl politisch wie
gesellschaftlich anerkannt sein.
Von den vier Abhandlungen, die ausländische Verhältnisse
betrachten, ist die von Klaus‑Peter Sick die einzige, die keinen
eingehenden Vergleich mit Deutschland herstellt. Der Autor zeigt, daß das
Beharrungsvermögen der tradierten politischen Kultur die nötigen Verbesserungen
in der Elitenrekrutierung bei den französischen Liberalen nach dem Ersten Weltkrieg
stark behinderte. Christiane Elfert hantiert bei ihrem Vergleich der
ländlichen politischen Eliten Englands und Preußens doch wohl etwas viel mit
den beiden Romanciers Anthony Trollope und Theodor Fontane und leuchtet nicht
alle Aspekte aus. Es überrascht nicht, daß der preußische Landadel mit
Parlamenten und Parlamentarismus weniger im Sinn hatte als der englische. Auch
der Vergleich von Italien und Deutschland, den Arpád von Klimó gibt, ist
mit zu schmaler Perspektive angelegt. Der Blick auf wenige Personenpaare
erlaubt die von Klimó formulierten allgemeinen Aussagen nicht. Zudem
sind etliche Sachfehler zu konstatieren. Abschließend skizziert Thomas
Mergel instruktiv die Wahrnehmung des amerikanischen politischen Systems
durch die deutsche Öffentlichkeit zwischen 1890 und 1920.
Zur Beantwortung der Frage nach Bruch oder Kontinuität im
deutschen Parteiwesen trägt der Blick nach außen wenig bei. Die anderen
Beiträge lassen erkennen, daß die Elemente der Kontinuität deutlich überwogen.
Das Bild sähe allerdings anders aus, wenn auch die Flügelparteien mit in die
Erörterung gezogen worden wären. Die völkische Strömung auf der äußersten
Rechten wird immerhin gelegentlich erwähnt, USPD und KPD auf der Linken kämen
dagegen gar nicht vor, wenn nicht hin und wieder SPD‑Politiker genannt
würden, die dorthin übertraten. Der Band läßt einige Fragen offen.
Speyer Hans
Fenske